Читать книгу Die Erfindung der Welt - Thomas Sautner - Страница 15

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Keine goldgerahmten Gemälde an der Treppenwand. Kein klassischer roter Läufer über den Stufen. Und oben im Korridor, der zu all den Zimmern führte, knarrte kein Dielenboden unter meinen Schritten. Nichts Altes, nichts Altehrwürdiges war da, nur etwas wie ewig Neues, etwas, das sich zeigte und entzog. Als wäre es von einer Kraft geschützt, die nicht erlaubte, dass jede x-Beliebige es angaffend entweihte, ich zum Beispiel.

Von Beginn an wären sie zu sehen gewesen, beim Eintreten ins Schloss schon. Doch selbst jetzt, beim Treppensteigen, wäre ich, obwohl sie so nahe waren, beinahe an ihnen vorübergegangen. Auf der vorletzten Stufe aber wurden meine Beine schwer, es drehte mich nach rechts zur Wand.

»Wie schön!«, hörte ich mich sagen. »Wie unglaublich schön sie sind!«

Endlich hatte ich begriffen. Und nun sah ich sie alle.

»Jede Stufe«, sagte Elli und ihr Zeigefinger tippte durch die Luft, »entspricht Lichtjahren. Je höher wir hinaufgestiegen sind, desto weiter haben wir uns von der Erde entfernt. Das ganz unten war Alpha Centauri C, hinter unserer Sonne der erdnächste Stern, sein Licht braucht nur vier Jahre, bis es uns erreicht. Ist eine neue Aufnahme, wurde erst vorige Woche gemacht. Ein paar Stufen weiter, die übernächste Fotografie nach Alpha Centauri, ja, die da unten, zeigt die Große Magellansche Wolke, hundertsechzigtausend Lichtjahre weit weg. Die anderen sind noch weiter, teils um Potenzen weiter entfernt. Das Universum hat sie vor Jahrmillionen erschaffen. Im Grunde sind es prähistorische Aufnahmen. Das Licht all dieser Sternbilder ist in einem fort unterwegs, auch zu uns, aber die Sterne selbst? Vielleicht sind sie längst erloschen. Vielleicht gibt es die Quellen all dieser Bilder nicht mehr. Es ist, als könnte man einen Menschen in seiner Lebendigkeit und Wesensart ablichten, obwohl er schon gestorben ist.« Elli hielt inne, stützte die Hände am Geländer ab. »Das mag ich so an all diesen Sonnen«, sagte sie, »solange wir ihr Licht sehen, gibt es sie.«

Abermals hielt sie inne. »Ich glaube«, ihr Mund zuckte, doch das Lächeln, das sie wollte, gelang nicht, »ich glaube, jeder einzelne Moment zählt.« Ihr Blick tauchte ab. »Verzeih das Pathos«, sagte sie abrupt. »Wo du jetzt stehst jedenfalls, das ist die Andromedagalaxie, sie ist zwei Komma fünf Millionen Lichtjahre weg.«

Ich blickte in die Tiefen eines violetten, von Sonnen erhellten Spiralnebels. In dessen Mitte schwamm, weiß glänzend, eine offene, von Goldfäden umsponnene Muschelschale. Wie zart die Formation wirkte. Und wie mächtig.

Ein verwirrender Gedanke kam mir, ich sprach ihn aus. »Sind wir beim Stufensteigen Richtung Zukunft gegangen oder mit jedem Schritt tiefer zurück in die Vergangenheit?« Ich versuchte, selbst auf die Antwort zu kommen. »Wenn ein Stern«, sagte ich, »wenn er angenommen eine Million Lichtjahre entfernt von uns liegt … ist er uns dann in der Zeit voraus oder ist es andersherum und wir sind von ihm aus gesehen die Zukunft?«

Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, erkannte ich, wie dumm sie war. Schon wollte ich mich dafür entschuldigen, die Frage zurücknehmen, da sagte Elli, anstatt zu schmunzeln über mich oder mir die naheliegende Antwort zu geben: »Spannend. So habe ich das noch nie gesehen.« Sie überlegte. Und meinte: »Ich glaube, chronologisch der Erde voraus oder hintennach wäre der Stern, wenn sich das gesamte Universum in eine Richtung bewegte, wenn Zeit ein Ziel hätte und, um voranzuschreiten, den Raum nutzte.«

»Wir und der Stern«, ergänzte ich, »wären dann wie zwei hintereinander treibende Schiffe auf einem Fluss.«

Elli widersprach auf die denkbar eleganteste Weise. »So könnte es sein«, sagte sie. »Oder die Zeit bewegt sich nicht wie im Fluss, sondern es ist, als ob man einen Stein in unbewegtes Wasser würfe und damit die Zeit in Gang brächte, die sich fortan in konzentrischen Kreisen ausdehnte.«

»Das ist einmal eine Urknalltheorie! Jemand hat einen Stein geworfen!«

»Oder irrtümlich fallen lassen«, schloss Elli.

Im offenen Korridor des ersten Stockes hingen weitere Fotografien von Sternbildern, von Galaxien, Sonnennebeln, Welten. Im Nu ließ ich Milliarden von Lichtjahren hinter mir, blickte auch kurz zur anderen Seite, übers Geländer, hinunter zum Steinway-Flügel und zur leeren Sitzgarnitur, wo Elli und ich uns zuvor unterhalten hatten. Ich sah in den nun unbewegten Raum.

Elli ging voraus. Sie hatte sich eine schöne Figur bewahrt, weiblicher als meine, nicht so knöchern. Ich folgte ihren Bewegungen, ihrem Schritt. Sie drehte im Gehen ihren Kopf über die Schulter, lächelte, blieb stehen, wandte sich ganz mir zu und stieß zuerst die eine – »Du kannst zwischen diesem …« – und dann die gegenüberliegende Tür auf – »… und diesem Zimmer wählen.«

Beide Gästezimmer waren in schlichtem Landhausstil eingerichtet, beide geräumig, beide, das war wichtig, mit einem Schreibtisch beim Fenster. Den Unterschied machte nur die Blickrichtung. Und die entsprechenden Lichtverhältnisse. Das eine Zimmer wies in die Richtung, in die wir vom Salon aus gesehen hatten, zum Wald hin. Das andere war das sonnigere Zimmer, mit Adlerblick auf den unterhalb des Schlosses und des Felsbuckels liegenden Marktplatz. Von hier aus würde ich das Ortsleben beobachten können, die Begegnungen der Menschen und ihr Aneinander-Vorbeigehen. Ich erkannte das Hotel zur Post, gegenüber die Tabak-Trafik.

»Dieses Zimmer ist zwar etwas heller«, sagte Elli. »Dafür ist das andere noch ruhiger und sicher romantischer. Richtung Wald hörst du bei offenem Fenster die Hirsche röhren.«

»Ich nehme das hier, Richtung Marktplatz.«

»Nein, wirklich?! Ich war sicher, du entscheidest dich für das ruhigere, das mit der Waldidylle.«

»Es war eine knappe Entscheidung«, sagte ich, »aber schließlich bin ich nicht zum Ausspannen da, sondern zum Arbeiten. Du weißt ja, ich will vom Leben schreiben, davon gibt’s Richtung Marktplatz sicher mehr zu sehen als Richtung Wald.«

Eigenartig, wie Elli reagierte. Ich hatte doch nichts Falsches gesagt, oder? Wieder war da ihr Mädchenantlitz, doch diesmal, wenn auch nur für einen unbedachten Moment, jenes des beleidigten Mädchens. Sie wich meinem Blick aus, sah zu Boden, sagte schließlich, nun wieder mit höflichem Lächeln und einem Gesicht, in dem Elli mit Elisabeth von Hohensinn um die Vorherrschaft zu ringen schien: »Vielleicht unterschätzt du ja den Wald. Im Wald gibt es womöglich mehr Leben als da unten im Ort.«

Ich sah sie an.

»Rehe, Füchse, Hasen«, ergänzte sie mit gespieltem Witz. »Bussarde, Falken, Seeadler … Marder, Wildschweine, Waldameisen.«

Spätabends, im Bett liegend, bemerkte ich, jäh die Augen aufschlagend, dass ich nicht das Zimmer gewählt hatte, das dem rot umrandeten Gebiet zugewandt war; dem Gebiet, das sich G, es eigens auf der Karte markierend, als Ort der Romanhandlung ausbedungen hatte. Stattdessen lag ich ausgestreckt in jenem Zimmer, das der von G beabsichtigten Romanhandlung provokant den Rücken kehrte.

Elli hatte ich nichts erzählt von G, meinem Briefschreiber, Mister Selbstsicher, Geldüberweiser. Es war nicht so, dass ich mir vorgenommen hätte, ihn zu verschweigen, ich hatte mir gar nichts vorgenommen, planlos war ich gewesen und musste nun improvisieren. Als Elli wissen wollte, wie ich auf die Idee gekommen sei, ausgerechnet hier in der Grenzgegend für einen Roman zu recherchieren, erzählte ich mit einer mich verblüffenden Selbstverständlichkeit, dass es Zufall gewesen sei. Ich hätte, sagte ich, schon immer einen Roman über das denkbar Größte schreiben wollen, das Leben. Und so wie angenommen werde, dass das Leben entstanden sei, nämlich infolge von Zufall und innerer Notwendigkeit, sei es bei mir nun einmal Litstein geworden. Als Folie für die Story sei die Gegend schließlich so gut geeignet wie jede andere.

Nahm Elli mir die Mogelei ab? »Ich freue mich jedenfalls, dass du da bist«, sagte sie, nachdem sie mich für Sekunden still betrachtet hatte. Und dann, nach einer abermaligen Pause: »Ich finde es unglaublich spannend, dir helfen zu dürfen!«

In meinem Gebäudeflügel befanden sich neben den beiden Gästezimmern die zwei dazugehörigen Badezimmer sowie die Wohnung des ehemaligen Dienstmädchens, das von allen seit jeher liebevoll Annerl genannt wurde. Sie musste mittlerweile eine betagte Frau sein. Momentan, erzählte Elli, befinde sich Annerl auf Kur. Sie habe beinahe Gewalt anwenden müssen, um die Gute zu ihrem Glück zu bewegen. Annerl sei wie eine Mutter für sie. In ihrer Kindheit sei ihr Annerl die Einzige – Elli zögerte, sah mich an – ja, die Einzige gewesen, von der sie Herzlichkeit erfahren habe. Und Güte. Und – abermals hielt Elli inne –, und dass Zartheit keine Schande sei. Nachdem Leopold um ihre Hand angehalten habe, sei ihre erste und wichtigste Bedingung gewesen, dass sie ihre Annerl hierher nach Litstein mitnehmen dürfe.

Gegenüber Annerls Wohnung befand sich eine Eisentür, die auf den Dachboden führte. »Da oben ist mein Reich«, sagte Elli, »samt Teleskop und kleinem Labor.« Sie werde es mir bei Gelegenheit zeigen, meinte sie und ging weiter.

Im anderen Gebäudeflügel, jenseits der Steintreppe, lagen die getrennten Zimmer Ellis und ihres Ehemanns Leopold, die Zimmer ihrer beiden Kinder Vinzenz und Marianne, die in der Hauptstadt studierten und offenbar auch an den Wochenenden keine große Lust verspürten heimzukommen, sowie zwei Badezimmer und ein kleiner Wasch- und Bügelraum. Elli ließ mich, obgleich ich abwehrte, da es mir zu intim erschien, einen Blick in alle Zimmer werfen.

Das Erdgeschoß beherbergte neben dem großzügigen Salon eine alte Bibliothek, die Leopold als Herrenzimmer beanspruchte wie schon sämtliche Generationen seines Geschlechts vor ihm und das er üppig mit seinem Pfeifenrauch einzunebeln pflege, damit unbemerkt bliebe, wie Elli meinte, dass er in seiner Bibliothek womöglich zu keiner Zeit ein Buch in Händen halte. Außerdem waren da noch ein Speisezimmer, die Küche und zwei Badezimmer.

»Ziemlich viele Badezimmer habt ihr in eurem Schloss«, bemerkte ich.

»Sie heißen ja nur Badezimmer«, sagte Elli. In Wirklichkeit seien es Orte des Rückzugs. »Davon«, sagte sie, »braucht es umso mehr, wenn Leute im Haus herumrennen, vor denen man sich in Wirklichkeit verstecken möchte.« Erschrocken hielt sie inne.

»Damit meine ich nicht dich!«, rief sie. »Ich habe mich wirklich riesig auf deinen Besuch gefreut. Und ich freue mich immer noch, wirklich immer noch! Mein Gott, in welchen Wirbel ich mich rede!«, rief sie und lachte. »Das kommt nur, weil ich so entspannt bin in deiner Gegenwart. Wie herrlich das ist, einmal nicht funktionieren zu müssen. Du siehst mir das doch nach, nicht wahr, Aliza?«

»Da gibt’s nichts zum Nachsehen«, sagte ich und berührte – solche körperliche Nähe ist nicht üblich bei mir – ihren Handrücken. »Es ist doch«, sagte ich zu ihr, »die Art, wie Menschen miteinander umgehen sollten. Nicht wie Raubtiere, sondern entspannt. Ohne ständig auf der Hut sein zu müssen.«

Sie lächelte, doch da war auch schon ein anderer Gedanke, er veränderte das Licht ihrer Augen. »Was ich dich schon zuvor fragen wollte«, sagte sie, »macht das dein Verlag immer so? Das mit der Werbung vor Ort? Der lokalen Zeitung und den Plakaten?«

Plakate?! Das Bild war noch nicht als Frage in mir, nur blank als Gefahr. Welche Plakate?! Jetzt war es auch als Frage in mir.

»Wie meinst du das – Plakate? Welche Plakate?« Während meines Gestotters, vermutlich beim letzten Wort, bei einer der Silben von Pla-ka-te, schoss mir das Bild ein, das mich, als ich in Litstein die Ortseinfahrt passierte, von der Seite angesprungen war. Eine Irritation, die ich nur im Augenwinkel wahrgenommen hatte: An mir war ich vorbeigefahren! Mein Bild hatte mir zugesehen dabei, als ich, gelenkt von G, hier ankam!

Drei Ortseinfahrten habe Litstein, klärte Elli mich auf, und neben jeder prange seit Tagen ein Plakat samt Foto von mir, unmöglich zu übersehen. Prange – sie benutzte das vielsagend altmodische Wort sicher nicht aus böser Absicht.

Die nächstgelegene Ortseinfahrt lag nur wenige Gehminuten entfernt. Wir rannten mehr dorthin, als dass wir gingen, nun, ich rannte. Ein Dreigespann aus Hektik, Angst und Ärger ritt mich. Elli versuchte, hinter mir Schritt zu halten. »Aber es war doch«, keuchte sie, »es war doch sicher gut gemeint, das mit den Plakaten. Aliza, hör doch! Wieso ärgerst du dich? Es ist doch … eine … Ehrbekundung! Du, hör doch! Du kannst es doch … als Ehrbekundung … interpretieren. Aliza, renn doch nicht so!«

»In diese Richtung?«, rief ich, mich kurz nach ihr umwendend.

Und dann: standen wir davor.

Das Ding war, nun ja, groß. Wirklich, wirklich groß. Ich meine, wir reden hier von einem Straßenplakat. Einem Plakat, dessen Maße so gewählt sind, dass es deutlich erkennbar ist, wenn man im Auto mit fünfzig Sachen unterwegs ist.

»Kaum zu glauben«, sagte Elli, »dass du daran vorbeifahren konntest, ohne es zu bemerken.«

Ich stand im Schatten, den dieses Ungetüm auf mich warf, und las den Text neben meinem überdimensionierten Porträtfoto:

Herzlich willkommen, Aliza Berg!

Wir freuen uns sehr,

dass Sie unser schönes Litstein und seine Umgebung

für Ihre nächste Romanhandlung gewählt haben!

Viel Glück beim Schreiben!

Und gutes Gelingen!

G! Er hatte es nicht mit dem gekauften Artikel im Heimatblatt bewenden lassen. G. Sein Hohn nun auch auf diesem … Pranger! Sein Text schrie es auf mich herab: Ich habe dich, wo ich dich wollte! Herzlich willkommen, Aliza Berg!

Und wie eitel! Er hatte nicht widerstehen können, sich als Absender zu verewigen: Das G im Wort Glück schien mir einen Hauch fetter gedruckt als die anderen Buchstaben, ebenso, kam mir vor, das kleine g in gutes und das große G in Gelingen. Dreifach hatte er seine Botschaft signiert. Dreifaltig G.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte Elli. Sie ging etwas zurück, grätschte die Beine, legte den Kopf zur Seite. »Ich finde, du bist gut getroffen auf dem Bild. Das ist doch das von deiner Homepage. Das hast du doch vermutlich selbst freigegeben für solche Werbeaktionen.«

Ich reagierte nicht. Stand mit verschränken Armen da und überlegte, was ich tun sollte.

»Zugegeben«, sagte Elli, »groß ist es schon.« Sie sah mich an. »Ist es dir zu groß, Aliza? Ist es das, was dich stört?«

Ich könnte abreisen, überlegte ich, einfach abreisen, es wäre der eindrücklichste Beweis meiner Unabhängigkeit.

»Oder ist es der Text?«, versuchte es Elli. »Gefällt dir der Text nicht? Ich finde es ziemlich schlau vom Verlag, dass er so tut, als sei die Botschaft im Namen der Litsteiner verfasst. Macht die Sache sympathisch. Richtiggehend durchtrieben von deinem Verlag!« Elli schmunzelte mich an, sie versuchte mich aufzuheitern.

»Durchtrieben, ja. Aber es waren nicht die Leute in meinem Verlag. Elli.« Ich zögerte. »Elli, ich muss dir was erzählen.«

Sie sah mich erwartungsvoll an. Wie nett sie mich ansah, wie gut es war, in dieser Situation eine Freundin zur Seite zu haben, ja, so fühlte es sich an. Obwohl ich Elli erst so kurz kannte, fühlte es sich an, als hätte ich eine Freundin an meiner Seite.

»Es muss unter uns bleiben, okay?«

Sie nickte. Wie scheu sie nickte. Als ob sie sich innerlich wappnete für die auf sie zukommende Verantwortung.

»Sag mir vorher, ob dir an dem G von Glück etwas auffällt.«

Sie sah aufs Plakat. Ging näher. Nahm wieder Abstand. Machte ein paar Schritte zur Seite. Ging erneut näher, hob den Arm und strich mit den Fingern über den Buchstaben.

»Vielleicht bin ich zu blöd«, sagte sie, »aber mir fällt nichts auf.«

»Das G«, entgegnete ich, »ist doch fetter gedruckt als die übrigen Buchstaben, findest du nicht? Es ist nicht viel, aber doch entscheidend.«

»Verzeih, vielleicht sehe ich nicht gut genug. Aber für mich sind die Buchstaben alle gleich dick.«

»Okay, vergiss es!«, rief ich, verärgert, ich weiß nicht über wen, über Elli, weil sie nicht sah, was ich sah, oder über mich, weil ich mir einbildete, etwas zu sehen, wo nichts zu sehen war, oder einfach verärgert über meine Situation. »Egal, Elli. Jedenfalls ist alles von diesem G. G! Verstehst du? Das Plakat da. Und der Artikel im Heimatblatt. Und überhaupt alles, einfach alles, auch dass ich hier bin und bei euch recherchiere und einen Roman über das Leben schreibe, das alles ist wegen G.«

»G? Welches G?«

»Nicht welches, verdammt!«, rief ich. »G, hinter dem Buchstaben versteckt sich mein selbst ernannter Mäzen, angeblich ein Fan meiner Bücher, jemand, der mir Geld dafür zahlt, dass ich das hier mache.«

»Also eine Auftragsarbeit?«, fragte Elli vorsichtig.

»Nein«, wehrte ich ab und spürte an meinem Herzschlag, dass ich drauf und dran war, die Sache zu verteidigen, sie mir schönzureden. »Es ist keine klassische Auftragsarbeit, ich habe völlige literarische Freiheit. Aber die Idee, den Roman hier spielen zu lassen und die Leute dieser Gegend als Vorlage für meine Romanfiguren zu verwenden, die kam von G. Er hat mir anonym geschrieben, mit Absender G eben, hat mir zwanzigtausend als Anzahlung überwiesen und ich hab sie, Scheiße Elli, ich glaube, ich habe sie schon angenommen irgendwie und ich weiß nicht, wer dieser G ist, und eigentlich müsste ich auf der Stelle abreisen.«

Elli, wie langsam sie es tat, senkte ein klein wenig den Kopf, machte einen Schritt auf mich zu und nahm mich bei den Schultern. »Aliza, wir finden es raus.« Sie bedachte mich mit einem Blick, den ich noch nicht kannte an ihr. »Wir finden raus, wer der Kerl ist.«

In den folgenden Minuten erlebte ich – Elli, verzeih, dass ich dich hier so nenne – die Kampfeinheit Gräfin Elisabeth von Hohensinn. An Ort und Stelle rief sie bei meiner Bank an, tat – wir hatten es kurzerhand so vereinbart –, als wäre sie ich und verlangte Kontonummer sowie Namen des Auftraggebers. Sie gab sich nicht mit der Auskunft zufrieden, mit der ich tags zuvor vom Helpdesk abgespeist worden war, dass es sich um eine nicht eruierbare, anonyme Überweisung handle. Nacheinander ließ sie sich mit dem Filialleiter, der Privat- und Geschäftskunden-Abteilung in der Konzernzentrale, der Rechtsabteilung in der Konzernzentrale und schließlich dem Vorstand der Konzernzentrale verbinden. Ich staunte, wer aller für eine einfache Bankkundin wie mich zu sprechen war, und das im Handumdrehen, wenn man nur den richtigen Ton anschlug, an den richtigen Stellen die richtigen Schlüsselwörter fallen ließ, klug Stufe um Stufe nahm und es verstand, das jeweils Gehörte als Reisedokument in die nächste Sphäre einzusetzen. Kurzum, ich lernte, wozu Aliza Berg in der Lage war, mit der Raffinesse einer Elisabeth von Hohensinn.

»Anonyme Überweisung«, sagte sie schließlich. »Aber«, holte sie aus, »ich habe trotzdem rausbekommen, wer dir die zwanzigtausend überwiesen hat. Eine Rechtsanwaltskanzlei.«

Nach einem Telefonat mit dem Heimatblatt und dem Plakatunternehmen dasselbe Ergebnis: Sowohl der gekaufte Zeitungsartikel als auch das Plakatsujet war von der Kanzlei Doktor Manfred Fiegler in Auftrag gegeben und bezahlt worden.

Elisabeth von Hohensinn brauchte keine Minute, um mit dem gleichnamigen Chef der Rechtsanwaltskanzlei verbunden zu werden. Sie nannte ihm wie nebenbei ihren bedeutsamen Namen, setzte fein dosiert ihren Charme ein, kam auf gemeinsame Bekannte, gemeinsame Geschäftsfreunde zu reden, erzählte nach allerlei launigem Hin und Her von mir als ihrer Freundin, erwähnte die Geldüberweisung, den Zeitungsartikel, das Plakat, lobte alles als professionell ausgeführt und schickte voraus, dass eine Rechtsanwaltskanzlei selbstredend keine Informationen über ihre Klienten preisgebe, aber ihre Freundin doch verständlicherweise etwas aus dem Häuschen sei. In solchen Lebenslagen, wir kennen das doch alle, helfe mitunter schon eine informelle Andeutung, ein kleiner diskreter Hinweis. Ihre Freundin frage sich etwa, ob der Name ihres Gönners tatsächlich … mit G beginne und wenn ja, wie wohl der zweite Buchstabe lautete. Oder aber – da sehe der Herr Doktor, was die Fantasie seines Klienten mit jener ihrer Freundin anstelle – ob G womöglich nicht der Beginn eines Namens sei, sondern ein anderer Hinweis, ein Symbol.

Trotz all des Antichambrierens glich Ellis Redemelodie einer von leichter Hand gespielten Cello-Sonate; einem Stück, das Ellis gekonnter Ausführung wegen einnehmend und unanfechtbar klang. Und in keiner Sekunde bat Elisabeth von Hohensinn um etwas, ihr Anliegen klang einmal crescendo, ein andermal diminuendo zwischen den Notenzeilen, war lediglich nachvollziehbares Interesse, und nicht einmal ihres, sondern das einer Freundin, für die sie sprach. Somit war von vornherein ausgeschlossen, dass Gräfin Elisabeth von Hohensinn Gefahr lief, eine abschlägige Antwort hinnehmen zu müssen.

»Gnädige Frau«, sagte mit Bassstimme Doktor Manfred Fiegler, der sich als schnell von Begriff und nicht unwitzig erwies, »Sie wissen, ich kann über vertrauliche Angelegenheit meiner Klienten nicht den kleinsten Pieps machen. Aber Sie können Ihrer Freundin jede Besorgnis nehmen, es handelt sich bei meinem Klienten, der den Brief an Ihre Freundin mit G unterzeichnete, um eine überaus angenehme Person, ja Persönlichkeit. Ihre Freundin, richten Sie ihr das bitte aus, kann ganz gewiss gelassen sein. Und Gräfin, bitte grüßen Sie mir auch Ihren lieben Cousin, er möge schleunigst sein Rückhandspiel verfeinern, andernfalls wird er beim kommenden Sandplatzturnier erneut von mir betoniert.«

»Tut mir leid, dass ich nicht mehr herausfinden konnte«, sagte Elli Minuten später. Sie hatte mich mithören lassen bei ihrem Telefonat mit dem Anwalt. Wir saßen nebeneinander im Gras, das Plakat vor uns.

»Wie geht es dir, Aliza?«, fragte Elli. »Denkst du, du kommst zurecht mit der Sache?« Und dann besorgt: »Du reist doch hoffentlich nicht ab?«

Je näher ich an das Plakat herangegangen war, desto undeutlicher wurde mein Gesicht. Direkt davor, keine Armlänge entfernt, waren nur noch Flächen, Schatten und Punkte zu sehen gewesen. Bei näherer Betrachtung war ich gar nicht mehr ich.

»Ginge man nicht näher, sondern bliebe weg«, sagte ich entkräftet, »besäße man die Sicherheit, der Mensch zu sein, der man immer annahm zu sein. Zu lange das Übliche, zu lange ein und dieselbe Perspektive … und du hast null Chance, zu merken, dass du in falschem Glauben lebst.«

»Aliza?« Elli berührte mich vorsichtig am Rücken. »Aliza, ist alles in Ordnung? … Meinst du das Plakat? Redest du davon, ja?«

»Nicht nur, Elli. Ich bin gerade auf eine sehr einfache Sache draufgekommen.«

Mein erster Impuls nach dem Zeitungsartikel und dem Plakat war gewesen abzureisen, davonzulaufen vor diesen Zeilen über mich, diesem Bild von mir, diesem Roman, alldem. Doch wie Sie sehen, schwarz auf weiß hier vor sich in diesem Buch, es ist anders gekommen. Am Ende blieb ich so lange in Litstein, dass es lachhafter Selbstbetrug wäre, bloß von Roman-Recherche zu reden. Ich war gegen jede Absicht Teil der Handlung geworden.

»Du bist immer Teil der Handlung, ob du willst oder nicht, ob du es mitkriegst oder nicht.« Das sollte mir bald nach meiner Ankunft ein dahergelaufener Dreikäsehoch ins Gesicht sagen. Ich saß am Ende eines Stegs, blinzelte gegen die Sonne. Der Kleine musterte mich von oben herab. »Du kannst nicht einmal ein Buch lesen«, sagte er, »eine Krähe beobachten oder mir jetzt zuhören, ohne Teil davon zu werden.«

»Soso«, gab ich zurück. »Und wie kommt’s, dass du so oberschlau bist?«

»Erfahrung«, behauptete er doch glatt. Und dann frech und schon im Davonlaufen: »Wirst schon auch noch draufkommen!«

Die Erfindung der Welt

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