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Das Prinzip aller Dinge ist das Wasser,

denn Wasser ist alles

und ins Wasser kehrt alles zurück.

THALES VON MILET

Es war amüsant, ihr zuzusehen, beinahe war es rührend. Am ersten Morgen nach ihrer Ankunft setzte sich die Schriftstellerin Aliza Berg ans Wasser, ans Ende des langen Stegs. Weil doch alles Leben, von dem sie schreiben wollte, aus dem Wasser und aus nichts als dem Wasser entstanden war.

Hätte gestimmt, was sie bei einem Dichter gelesen hatte, dass das Leben die Summe alle Fragen sei, wäre Aliza Berg passabel weit gewesen mit ihrer Lebensrecherche, denn die Fragen häuften sich ihr.

Wie verrückt, wie anmaßend, dachte sie. Ich, ausgerechnet ich, nehme mir vor, einen Roman übers denkbar Größte zu schreiben. Und jetzt sitze ich da, am Anfang von allem und weiß schon jetzt nicht mehr weiter. Elli, Elisabeth von Hohensinn, ihre Gastgeberin, hatte ihr den Ort empfohlen. Hier sei gut zur Besinnung zu kommen, an diesem vom Wald geschützten Platz.

Sie sah übers Wasser. Inmitten des weiten, stromgleichen Teiches, dessen Enden sie noch nicht erkundet hatte, verlief – sie wusste es von Elli – die Grenze. Aliza überlegte, wo die Grenze den Teich genau durchschneiden mochte, wo das Hier endete, das Dort begänne, die Fremde. Ob das Wasser dort kühler schmeckte? Die Fische grimmiger blickten?

Wie ruhig es hier war, wie kraftvoll. Der Teich war schwer. Ein ruhender Riese. Aliza glaubte seine Masse zu spüren. Wie zur Besänftigung trug ihr das Wasser vereinzeltes Vogelgezwitscher zu.

»Was passiert«, fragte es plötzlich hinter ihr, »wenn ich diese Münze ins Wasser gebe?«

Aliza hatte niemanden die hölzernen Planken des Stegs entlangkommen gehört. Sie erschrak. Drehte sich um, richtete sich im Sitzen auf, blinzelte gegen die Sonne. Da stand ein … ein Bub, nein, eher schon ein Bursch vor ihr. Sein Alter?, schwer zu sagen. Er war klein, mit einem gedrungenen, wie erwachsenen Körper, auf dem ein runder Kopf saß. Eine Nickelbrille klebte in seinem Gesicht.

»Was?« Aliza atmete ihren Schrecken weg. »Was hast du gesagt?«

»Was passiert«, wiederholte der Kleine, »wenn ich diese Münze ins Wasser gebe?« Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Was soll schon passieren, sie geht unter.«

»Das Wasser und ich können zaubern, wir machen, dass die Münze nicht untergeht. Wir wetten um einen Wunsch, der nichts kostet, einverstanden?«

Der Kleine begann Aliza zu gefallen. Sie lächelte ihn an, sagte »einverstanden«. Da kniete das Kerlchen nieder, beugte sich über den Steg und setzte die Münze aufs Wasser. Sie schwamm.

»Bravo!«, rief die Schriftstellerin erstaunt. »Du kannst ja wirklich zaubern«, sagte sie in wohlwollendem Ton, in dem Erwachsene oft mit Kindern sprechen. »Aber du hast ein bisschen geschummelt, stimmt’s? Die Münze ist aus Plastik, keine echte Münze.«

»Echte Münze«, sagte der Kleine wie ein Geschäftsmann, der nichts zu befürchten hat, nahm sie aus dem Wasser und reichte sie dieser Frau, die seltsam dünn war und ganz in Schwarz gekleidet.

»Die ist ja federleicht!«

»Ist aus Aluminium. Ein Pengő. Eine echte Münze.«

»Du hast mich reingelegt«, sagte Aliza. »Aber schlau reingelegt. Was soll das denn sein, ein Pengő?«

»Kennst du nicht? Brauchst dir nichts draus zu machen, kennt fast keiner.«

Aliza beobachtete den Kleinen, der die Münze an seinem Hosenbein trocken rieb.

»Woher hast du den Trick?«

»Schule des Lebens.«

»Schule des Lebens, soso. Wie alt bist du noch einmal?«

»Immer noch zehn.«

»Zehn. Hm. Du bist aber ein ziemlich aufgewecktes Bürschchen.«

»Dankeschön.«

»Und ein wenig neunmalklug.«

»Dankeschön.«

»Ich glaub dir nicht, dass du erst zehn bist. Dafür bist du mir zu schlau.«

»Danke, meine Liebe«, antwortete da doch tatsächlich der Kleine. »Ich verrate dir was, weil ich dich nett finde«, ergänzte er. »Ich schwöre, ich bin zehn. Aber du darfst schon genau hinhören – auf dich nämlich, was du dir dazureimst. Zehn, hab ich gesagt, mehr nicht. Von Jahren hat niemand geredet außer dein plapperndes Oberstübchen.«

»He! Du bist frech, weißt du das?«

»Aber wo, das kommt dir nur so vor«, sagte er, winkte mit einer seltsam sparsamen Geste und machte kehrt.

»He, Naseweis!?«, rief ihm Aliza Berg hinterher.

»Mhm?«

»Wie heißt du?«

»Darfst Fred zu mir sagen.«

»Ich bin Aliza«, antwortete sie, was Fred nicht sonderlich zu interessieren schien.

»Woher kommst du, Fred? Wohnst du hier in der Gegend? Oder kommst du von drüben?«

»Drüben?«

»Na von drüber der Grenze, vom Nachbarland?«

Fred zuckte mit den Schultern, als hätte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht. »Manchmal ja, manchmal nein«, sagte er und wandte sich erneut ab.

»He, Schlaumeier!«, rief Aliza. »Was kannst du mir übers Wasser erzählen?«

»Das Wasser? Na ja, es ist nass. Drum kannst du es trinken und reinspringen. Und es hat viel Kraft innerhalb und außerhalb von dir.«

Aliza Berg lächelte. »Danke, Fred. Das werde ich in mein Buch schreiben.«

»Aha, ein Buch willst du schreiben. Dann schreib, dass das Wasser ganz klein ist und auch ganz groß. Dass es einen Anfang hat und doch keinen Anfang. Und ein Ende und doch kein Ende. Und dass deshalb darin das Leben angefangen hat, vor drei Komma acht Milliarden Jahren in den Ozeanen, sagen sie in der Schule, aber ich glaube, das stimmt nicht ganz, und dass die Erde von weit weg aussieht wie ein fliegender Wassertropfen, obwohl sie nur zu einem Prozent aus Wasser besteht und wir Menschen nicht aussehen wie ein fliegender Wassertropfen, obwohl wir zu siebzig Prozent aus Wasser bestehen. So, genug geplappert, schreib das halt einmal. Wir sehen uns!«

»He, was ist mit unserer Wette?! Du hast noch einen Wunsch frei!«

»Nicht so wichtig. Ich schenk ihn dir, darfst dir selbst was wünschen!«, rief er, abgewandt schon, und lief davon.

Aliza war noch gut eine Stunde an diesem Teich geblieben, doch abgesehen von dem, was ihr Fred erzählt hatte, war der Schriftstellerin nichts eingefallen, nichts, was es wert gewesen wäre, notiert zu werden. Sie blickte aufs Wasser, sah darin einen sich wellenden Himmel, ihr sich spiegelndes Gesicht, doch all das wollte ihr nichts erzählen. Es war, als wäre sie vollgeräumt, als besäße sie schon alles, alle Vorurteile getroffen, alle Wahrheiten eingeholt. Gäbe es Neues, fände es keinen Platz, ihr Kopf vollgestellt, verriegelt ihre Sinne.

Dabei wäre da etwas gewesen, Unendliches wäre da gewesen. Im dunklen Wasser unter ihr etwa, nur einen Handgriff entfernt, trieb ein groteskes Holz- und Schilfklümpchen. Gebaut worden war dieses kubistische Ding, dieses Miniatur-Bilbao-Guggenheimmuseum, von einer Köcherfliegenlarve. Ein Origami-Kunststück, zusammengezimmert, geklebt, gestückelt von diesem wenige Millimeter kleinen Würmchen, das womöglich nicht bis ins Letzte wusste, was es tat, doch welch ein Werk! Ein Köcher, geschaffen aus Instinkt, körpereigenem Wissen. Zum Schutz vor Feinden, und nebenbei zum Staunenmachen aller, die es zu erkennen verstanden.

Neben, über und unter der Köcherfliegenlarve: Myriaden anderer Lebewesen. Panzergeißler etwa, Hundertstel Millimeter groß, in deren Mitte eine Rille mit zwei Geißeln, die die Kügelchenwesen durchs Wasser schoben – Pflänzchen mit autonomer Antriebstechnik. Rund um sie katapultierten sich Wasserflöhe durchs Nass, ruckartig tauchend nach den schönsten Stellen. Mit anderer Methode die Hüpferlinge: Keinen Millimeter groß, schwangen sie ihre Ruderantennen am Kopf, steuerten damit dorthin, wo ihr Zyklopenauge ein vielversprechendes Spiel aus Licht und Schatten sah. Kleineres hatte sich auf der Posthornschnecke breitgemacht – eine Kolonie von Einzellern, Millionen von ihnen wuchsen zu einem hellgrünen, winzigen Batzen auf dem schwarz glänzenden Schneckenhaus. Ein Gugelhupfstädtchen, eine Kolonie von Entdeckern, von Landnehmern auf dem spiralförmigen Planeten Posthornschnecke.

Und über ihr, weit, weit über ihr, noch weit über dem im Teich sich spiegelnden Himmel, explodierte in diesem Moment anderes Leben, nur vier Milliarden Lichtjahre entfernt, eine noch nie gesehene Superhelix, sie leuchtete auf in Magenta, Blutrot und Silber, Metatonnen barsten, Kupferglutgeruch. Asche schoss durchs Licht und eine Nanosekunde danach, jetzt, exakt jetzt, wurde eine Galaxie geboren.

Unmöglich hätte Aliza Berg das sehen, riechen, wahrnehmen können. Aber wieso denn nicht?! Natürlich hätte sie! Auf das Allernatürlichste hätte sie es wahrnehmen können! Wer sonst hätte es schmecken, riechen, sehen, hören, fühlen sollen, wenn nicht eine Schriftstellerin? Verborgenes sichtbar machen, Inexistentes benennen, Sterbendes bewahren. Zudem war alles eins. Alles konnte demnach auch alles wahrnehmen. Einsteins spukhafte Fernwirkung: Ein Teilchen reagiert schneller als mit Lichtgeschwindigkeit auf das weit entfernte andere, vollzieht die Veränderung des anderen, als wäre es mit ihm verschränkt. Wie kann das sein, wie soll das gehen nach allen Regeln der Physik? Einfach kann das gehen! Einfach, weil es ein-fach ist! Alles eins, seit jeher. Alles zu erkennen, zu leiden, zu freuen, zu leben, und alles im selben Augenblick, das Kleinste und das Größte. Ans eigene, wild pochende Herz sich greifen. Eins!

Das war der Moment, da Aliza Berg sich fallen ließ.

Vom Ufer aus betrachtet hätte es ausgesehen, als kippte beim Nichtstun ein schwarzgliedriges Tier tollpatschig vom Steg, platschte ins Wasser, durchschnitt dessen Oberfläche, sank nach unten, sank, um auf dem Grund liegen zu bleiben für Momente, für Jahre, zu schlafen einen Traum, und nichts störte mehr dieses Bild vom stromgleichen, unberührt glatten Teich und dem nun leeren Steg.

Bis Aliza japsend auftauchte, schrie vor Schreck und kurzatmig keuchend zum Ufer schwamm. Und dann, unbeholfen wie vor Jahrmillionen die ersten aquatischen Lebewesen, an Land kroch. Sie klatschte ihren triefenden schwarzblusigen, schwarzjeansigen Körper ins Gras. Keuchend drehte sie sich um, durchnässt, prustete, schrie noch einmal einen spitzen Laut Richtung Himmel, Richtung Teich, und dann noch einen, als wollte sie ihre Stimme hören, ihren Atem spüren, das kalte Fell auf ihrer Haut. Und dann lachte sie, wusste gar nicht warum, lachte, lachte, lachte und weinte schließlich beinahe vor Dankbarkeit, vor Dankbarkeit über dieses Lachendürfen, diese Befreiung von sich.

Die Erfindung der Welt

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