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7. Kapitel
ОглавлениеSo hatte Leyendecker der Ortsansässigkeit Lebewohl sagen müssen und sich trotz seines seit seiner Kindheit lädierten Beins auf Wanderschaft durch den Hunsrück begeben. Wenn es zwar in seinem Heimatdorf kein Auskommen für einen Schuhmacher mehr gäbe, so dann vielleicht doch für einen reisenden Schuster in irgendeiner anderen Ortschaft. Schuhe gingen kaputt. Das war schon immer so. Wenn er seine Arbeit nur billig genug feilbieten würde, würden sich schon Leute finden, die um ein paar Kreuzer bereit wären, ihre Schuhe bei ihm reparieren zu lassen.
Doch auch diese Zuversicht war ihm Tag für Tag ein kleines Stück genommen worden. Die nächstliegenden Dörfer waren Leyendecker bekannt und er wiederum war den Leuten dort bekannt. Gleich in der ersten Ortschaft, in die er kam, wartete Arbeit auf ihn, denn einen ansässigen Schuster gab es dort nicht. Der Schuster ist da! Mit diesem Ausruf wanderte Leyendecker kreuz und quer durchs Dorf und siehe, er zeitigte Erfolg. Sein guter Leumund und der niedrige Lohn, den er jetzt für seine Leistung beanspruchte, brachten ihm fünf Paar Schuhe, die es zu reparieren galt. Leyendecker war’s zufrieden. In der Scheune eines Bauern nahm er Unterkunft, packte sein Werkzeug aus und begann trotz klammer Kälte seine Tätigkeit. Gleich sein erster Auftrag bereitete ihn einiges Kopfzerbrechen. Einen Schuh galt es wieder zusammen zu flicken, der eigentlich nicht mehr zusammen zu flicken war. Flickschuster, ging Leyendecker durch den Kopf, aus dir ist ein Flickschuster geworden, als er die gequälte Fußbekleidung mehr schlecht als recht wieder in Form gebracht hatte.
Der erste Nachmittag und Abend war darüber vergangen. Der Bauer bot Leyendecker als Gegenleistung für ein paar Kreuzer eine kleine Kammer zur Nachtruhe an. Als er sich, in eine alte Pferdedecke gehüllt, auf der strohgepolsterten Pritsche ausstreckte und langsam in Schlaf versank, fühlte er eine unbestimmte Zufriedenheit in sich.
Der nächste Morgen sah ihn zeitig bei seiner Arbeit. Drei schwierige Reparaturen schaffte er an diesem Tage. Drei Aufträge heute, einer am Vortag, ergaben vier. Neues war nicht mehr hinzu gekommen, blieb also noch ein Auftrag, machte Leyendecker seine einfache Rechnung auf. Und dabei hatte er noch lange nicht einen Gulden verdient. Als er an diesem Abend einschlief, war die unbestimmte Zufriedenheit des Vorabends konkreten Sorgen gewichen.
Die letzte Reparatur erledigte er in den frühen Vormittagsstunden des nächsten Tages. Dann packte er wieder sein Bündel zusammen, erstand bei dem Bauern noch ein paar Vorräte und zog weiter.
Der Schuster ist da! Das nächste Dorf, in das er kam, hielt drei kaputte Paar Schuh für Leyendecker bereit. Drei Paar Schuh bedeuteten anderthalb Tage Aufenthalt bei magerem Verdienst. Ein Arbeitsplatz im Freien, unter dem Dach eines offenen Heuschobers. Ein Nachtquartier im Stroh. Kurzer, unruhiger, ob des strengen Frosts oftmals unterbrochener Schlaf. Eine unwürdige Unterkunft, für die der Bauer, dem sie gehörte, auch noch Entlohnung haben wollte. Leyendecker konnte sich leicht ausrechnen, wie lange es noch dauern mochte, bis die Kosten für seine Unterkunft und Verpflegung seine Einkünfte übersteigen würden.
So zog Leyendecker weiter, von Ortschaft zu Ortschaft.
Der Schuster ist da!
Hier gibt’s schon einen Schuster! hörte er ein ums andere Mal. Einmal wurde er sogar vom Schuster höchstpersönlich zum Dorf hinaus gejagt.
Und Leyendecker zog weiter. Seine Kleidung war ob des wanderhaften Lebens nicht unbeschadet geblieben und wand sich fadenscheinig um seinen abgemagerten Körper. Zudem hatte die Kälte sich längst in seinem Inneren festgesetzt. Sie machte Leyendeckers Gedanken träge und sich in seinem lädierten Bein immer schmerzhafter bemerkbar.
Kälte, Hunger, Schmerzen: jedes für sich ist aushaltbar, ertragbar, dachte Leyendecker im Stillen. Aber zusammen können sie einen Mann zermürben, ihm alles rauben, was ihn am Leben erhält. Zusammen sind sie tödlich. Wenn es doch bloß wärmer werden wollte. Mit der Wärme kommt auch wieder die Zuversicht.
Die Zuversicht... die Zuversicht...
Und dann kam der Moment...
Der Moment, an dem Leyendecker zum ersten Mal seine Hand einem des Wegs kommenden Händler entgegenstreckte und um ein Almosen bat, hat sich so tief in seine Erinnerung eingegraben, dass er ihn in diesem Leben nicht mehr vergessen wird. Irgendwann benannte er die Zeit nicht mehr mit Tagesnamen, zählte sie nicht mehr nach Wochen. Heute ist der Tag, an dem du vor fünf Tagen zuletzt Arbeit hattest. Heute ist der Tag, an dem du vor zwei Tagen zuletzt gegessen hast. So hieß es jetzt bei ihm. Heute ist der Tag, an dem etwas geschehen muss, sonst stirbst du.
Dann stand plötzlich das Fuhrwerk vor ihm, beladen mit allen möglichen Waren. Ein reisender Händler mit zwei Fuhrknechten als Bedeckung. Leyendecker sprach sie an. Hatten sie Arbeit für ihn? Nein, sie hatten keine Arbeit für ihn. Leyendecker hielt einen Moment inne. Wenn einem nichts mehr geblieben ist, bleibt einem nur noch der Lebenswille. Der Lebenswille stirbt zuletzt.
Habt Ihr ein Stück Brot für mich? Nur ein kleines. Ich verhungere sonst.
War sich Leyendecker darüber bewusst, was er sagte? Sprach er selbst oder sprach vielmehr die Not in ihm? Wie hatte es nur dazu kommen können? Was war aus ihm geworden?
Ein solcher Moment ist das Ende allen Hoffens, das Ende aller Wünsche, das Ende allen Stolzes. Doch war dieses Ende gleichsam nur der Anfang der Demütigung. Der Händler hatte einen Moment gezaudert, sich dann jedoch von seinem Kutschbock herab gelassen, unter seinen Waren nach der Proviantkiste gekramt, schließlich einen mageren, schon ziemlich trockenen Kanten Brot hervor geholt und Leyendecker überlassen. Der bedankte sich artig, machte zwei Diener und sah zu, dass er weiter kam, nur fort von diesem Platz der Scham, fort von dieser Demütigung. Hat er das erbettelte Brot dann schnell gegessen? Nein, hat er nicht, denn beim Anblick dieses Schandbrotes wurde ihm zuerst speiübel. Doch dann, am Abend des Tages, dort, in der kalten Feldscheune, in die er sich für die Nacht zurück gezogen hatte, ohne lange Erlaubnis einzuholen, so, wie er halbtrockenes Stroh über sich gehäuft hat, um ein Kleinteil Wärme zu erfahren, hat er angefangen, an dem Brotkanten zu knabbern. Erst hat er vorsichtig, verschämt, kleine Krümel abgebrochen und sie sich in den Mund geschoben. Dann hat er hinein gebissen, hat gekaut, hat wieder hinein gebissen, hat wieder gekaut, bis er die Hälfte des Kantens aufgegessen hatte. Das Gefühl, das sich daraufhin von seinem Magen aus langsam über seinen ganzen ausgezehrten Körper zu verbreiten begann, war unbeschreiblich.
Nur ein halber Kanten Brot, dachte Leyendecker selig, ein halber Kanten bringt die neue Hoffnung für den nächsten Tag. Einen zweiten halben Kanten hast du noch. Den musst du dir aufheben. Das ist die Hoffnung für Übermorgen.....
Nur wenige Tage später hatte die Demütigung begonnen, für Leyendecker zum Ausweg zu werden. Ein wenig Brot, ein Stückchen Speck, ein paar Kreuzer waren doch allemal einen kurzen Moment der Selbstaufgabe wert. Das Überleben hatte seinen Preis, doch Leyendecker war bereit, ihn zu zahlen. Einige wenige Nächte verbrachte er noch in Heuschobern und Feldscheunen, danach aber unzählige Nächte unter freiem Himmel. Denn die Bauern wurden immer wachsamer, fürchteten Räuber und Diebsgesindel. Mehrfach hatte mitten in der Nacht ein Bauer oder ein Knecht mit der Mistgabel oder einem Knüppel in der Hand vor ihm gestanden, um Leyendecker aus seiner freien Unterkunft zu vertreiben. Einmal war sogar eine Feldstreife direkt auf sein Nachtquartier losgezogen, so dass Leyendecker in aller Hast das Weite suchen musste.
Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, wartet auf Leyendecker dann die zweite Stufe der Demütigung. Es war der Tag, an dem seine Bitte nach etwas Essen oder ein wenig Geld zum ersten Mal abgeschlagen wurde, der Tag, an dem seine bittend ausgestreckte Hand leer blieb. Wir haben nichts für dich, nichtsnutziger Bettler, hatten sie gesagt. Sieh zu, dass du fort kommst. Und Leyendecker sah zu, dass er fort kam. Nichtsnutziger Bettler. Dieser Ausdruck sank tief in Leyendeckers Selbst hinab. Tief in sein Herz, in seine Seele. Zu wissen, dass man bettelt, ist eine Sache. Eine Sache, die man mit sich selbst ausmachen muss, eine Sache, die einem noch ein kleines Stück Ehre belässt. Jedoch von Fremden als Bettler gescholten zu werden, als jemand, der zu nichts nutze ist, das schlägt eine tiefe Wunde.
Wie viele Wunden kann die Seele eines Mannes ertragen, bis sie schließlich zugrunde geht? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem alles, was im Leben jemals Bedeutung und Wert besessen hat, ausgelöscht ist?