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10. Kapitel

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Man schrieb das Jahr 1799. Ein heißer Juli war zu Ende gegangen und hatte einem noch heißeren August Platz gemacht. Zumindest schien es Leyendecker damals so, als ihn seine Wanderschaft durch den Hunsrück in das Städtchen Simmern führte. Offiziell bezeichnete Leyendecker das, worauf er sich befand, immer noch als „Wanderschaft“; wenn er jedoch ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass es eigentlich mehr einer Flucht glich. In verschiedenen Bezirken wurde bereits steckbrieflich nach ihm gesucht, allerdings nur anhand seiner Beschreibung, nicht dem Namen nach. In die Gegend von Simmern war Leyendecker bisher jedoch noch nicht gekommen, so dass er es als ein nur geringes Risiko ansah, seinen Weg dorthin zu lenken. Immerhin war Simmern groß genug, um Aussicht auf ein paar zu verdienende Kreuzer zu geben. Denn wenn Leyendecker die Wahl hatte, sich das, was er zum Leben brauchte, zu erarbeiten oder zu erstehlen, dann wählte er stets die Arbeit. Nur hatte er eben schon zu lange nicht mehr vor dieser Wahl gestanden. Vielleicht aber eröffneten sich ihm in Simmern neue Möglichkeiten. Allerdings, ein gewisses Risiko bestand in Simmern schon, war es nicht nur Hauptstadt des Arrondissements, sondern beherbergte damit auch gleichzeitig das Bezirksgefängnis, in dem schon so mancher „Wanderer“ auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein sollte, wie man sich in einschlägigen Kreisen zu erzählen wusste.

Bereits kurze Zeit nach Leyendeckers Einzug in die Stadt hatte sich erwiesen, dass sich Simmern zwielichtigen Wanderern gegenüber äußerst abweisend verhielt. Seinen Ruf „Der Schuster ist da!“ hatte sich Leyendecker damals längst abgewöhnt. Erstens hatte eine Stadt wie Simmern bereits einen, wenn nicht sogar mehrere Schuster, davon war auszugehen. Zweitens gab es für einen reisenden Schuster sowieso praktisch keine Aufträge mehr. Dies hatte Leyendecker leidvoll erfahren müssen. Und drittens war anderenorts auf einem Fahndungsblatt der Vermutung Ausdruck gegeben worden, dass die Ankunft eines fahrenden Flickschusters im Dorfe und der Diebstahl von vier frisch geschossenen Rebhühnern aus einem Forsthaus in der Nähe in direktem Zusammenhang stehen könnten. Also hielt sich Leyendecker fortan in dieser Hinsicht zurück. Außerdem war Leyendecker in der Zwischenzeit bereit, jede Arbeit, die ob seines lädierten Beins zu verrichten ihm möglich war, anzunehmen, Hauptsache, sie brachte Geld.

In diesem Sinne zog Leyendecker also durch Simmern. Die Not ist in den Städten groß, aber auf dem Lande ist sie wohl noch größer, musste er erkennen. Die Knute Napoleons hatte alle getroffen, die Bevölkerung auf dem Lande allerdings früher und härter als die in der Stadt. So hatten viele Arbeitskräfte, Knechte und Mägde, auf der Suche nach mehr Glück das Land verlassen und waren dorthin gezogen, wo es mehr Menschen gab, mehr Verkehr, mehr Arbeit, mehr Geld. Die Bauern indes saßen plötzlich allein auf ihrer Scholle, wussten die Arbeit nicht mehr zu schaffen und waren für einen des Wegs kommenden Gehilfen dankbar. In den Städten jedoch kehrte sich diese Situation um. Zu viele waren es, die arbeiten wollten, zu wenige waren es, die Arbeit anzubieten hatten. Diejenigen, die Arbeit fanden, freuten sich diebisch und rieben sich die Hände. Diejenigen jedoch, die leer ausgegangen waren, blieben in der Stadt oder in deren Nähe, versuchten ihr Glück in Gelegenheitsarbeiten oder ließen sich vom Militär anwerben. Den Weg zurück aufs Land hingegen fand kaum einer, schien das Einschlagen dieses Wegs doch gleichbedeutend zu sein mit Scheitern und Zukunftslosigkeit.

Dies bekam auch Leyendecker schnell zu spüren. Gab es Arbeit für ihn? Nein, es gab keine Arbeit. Für einen Krüppel schon gar nicht, rief ihm ein alter Stellmacher nach, den Leyendecker gewagt hatte anzusprechen. Was also tun? Ein Plan musste her, und zwar schnell! Leyendecker überlegte. Wäre das Militär nicht etwas für dich? Nein, das ist kein guter Plan, Leyendecker. Außerdem wird dir dieser Weg von deinem steifen Bein versperrt. Welche Möglichkeiten hast du noch? Du kannst einfach weiterziehen. Oder auch nicht. Wie lange reichen deine Vorräte noch? Zwei Tage? Vielleicht drei, wenn du sparsam bist. Wo wirst du schlafen? Da findet sich schon etwas, du musst nur danach suchen. Und dann? Dann wirst du weitersehen. Mit dem neuen Tag kommen auch neue Ideen. Das war schon immer so. Also auf, Leyendecker, der Tag geht zur Neige. Die erste Nacht in Simmern wartet auf dich. Mach dich auf die Suche nach einem freien Logis.

Tatsächlich hat Leyendecker im unverschlossenen Schuppen einer Schmiede Unterschlupf gefunden. Die Nacht war ohnehin schon warm genug, neben der Schmiede aber war es brütend heiß, und auch der festgestampfte Lehmboden erwies sich zum Nachtlagern als nicht besonders komfortabel. Trotzdem hat Leyendecker recht gut geschlafen und blinzelt nun aus der Tür seiner Unterkunft in den frühen Morgen hinein. Die Luft ist noch frisch, der Dunst, den Leyendecker zwischen den Dächern hindurch über den umliegenden Hügeln erkennen kann, verspricht jedoch wieder einen heißen Tag. Die Uhrzeit schätzt Leyendecker auf knapp die sechste Stunde. Aus dem Anbau der Schmiede, in dem der Schmied mit seiner Familie wohnt, dringen noch keine Geräusche. Dort scheint man also noch nicht wach zu sein. Mit wenigen Handgriffen hat Leyendecker seine Siebensachen zusammen gepackt und sich auf den Weg gemacht. Frühstücken wird er woanders, etwas außerhalb der Stadt vielleicht. Er hat Glück gehabt, auf eine Schmiede mit einem so verschlafenen Schmied zu stoßen. Vielleicht würde ihm Leyendecker die nächste Nacht wieder einen Besuch abstatten. Mal sehen. Denn man soll sein Glück bekanntlich niemals zu sehr beanspruchen.....

Zwei Stunden später ist Leyendecker zurück in Simmern. Vorher hat er vor den Toren der Stadt etwas abseits im Schatten einer Linde sein Frühstück verzehrt. Vielleicht ist`s ausgerechnet die frühere Gerichtslinde, hat Leyendecker gedacht und sich von dem Gedanken nicht weiter stören lassen. Er hat ein wenig von dem kalten, gepökelten Fleisch genascht, dazu eine dicke Scheibe Brot (Butter, hat er sich gedacht, ich muss mir endlich einmal wieder Butter besorgen....), hat ein paar Schlucke Wasser genommen und fühlte sich dann ausreichend gestärkt und zuversichtlich für den bevorstehenden Tag. Dann ist er wieder nach Simmern hinein marschiert, wo er nun recht ziellos, doch zufrieden durch die Gassen streicht. Leyendecker fühlt sich wohl. Er hat noch genug Vorräte, eine Adresse für die Nacht, er kann sich frei bewegen, denn hier wird er nicht gesucht, niemand ist hinter ihm her, und er ist der Überzeugung, dass sich ihm heute ein guter Plan eröffnen wird. Deswegen lässt er sich auch Zeit, schaut sich dieses und jenes an, bleibt bei einem Händler stehen, der Eisenwaren feilbietet, kauft natürlich nichts, sondern geht weiter, wieder stehen bleiben, ein paar Worte wechseln, weitergehen, den ganzen Vormittag hindurch.

Der anbrechende Mittag hielt dann mit seiner Hitze alles das, was der dunstige Morgen einstmals versprochen hatte und brachte Leyendecker dazu, sich eiligst nach Schatten umzusehen. Unter einer Kastanie nahe dem Dorfbrunnen verbrachte er daraufhin die heißesten Stunden des Tages, nun hat die Sonne zu sinken begonnen und Leyendecker den Entschluss fassen lassen, sich einmal die alte Stadtbefestigung näher anzusehen.

Warum hat Leyendecker diesen Entschluss gefasst? Warum gerade diesen? Warum hat er sich die alte Stadtbefestigung ansehen wollen, in der zudem das Bezirksgefängnis für Schwerverbrecher untergebracht war, und nicht etwa das Gebäude der französischen Militärverwaltung von Simmern? Was bringt einen Menschen dazu, grundlos etwas Bestimmtes zu tun, wo er mit dem gleichen Grund auch etwas ganz anderes hätte tun können? Hat sich sein Gewissen gemeldet? Oder sein Unterbewusstsein?

Gleichwohl, kurze Zeit später stand Leyendecker vor den hohen, dunkel anmutenden Turm und schaute hinauf. Erschauerte er bei diesem düsteren Anblick? Mitnichten. Vielmehr schien es, als warte er, warte auf etwas ganz Bestimmtes, etwas ganz Besonderes.

Er wartete lange, bewegungslos, den Blick nach oben gerichtet. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken. Plötzlich ein unbestimmtes Geräusch, das von der Höhe des Turms zu vernehmen war. Leyendeckers Erstarrung löste sich, hastig sah er sich nach allen Seiten um. Dann kehrte das Geräusch wieder, ließ sich jetzt als Knirschen, als Scharren ausmachen. Leyendeckers Blick begann, sich auf ein bestimmtes Fenster des Turms zu konzentrieren. Was geschah mit diesem Fenster? Bewegte es sich? Ja, es schien sich nach vorne zu neigen. Dann ein dumpfer Schlag. Noch einer. Dann fielen kleine Steine und Steinbrocken herab, dann das ganz Fenster. Es landete direkt vor Leyendeckers Füßen, der in seiner Spannung nicht einmal beiseitegetreten war. Als er nun wieder den Turm hinauf blickte, hing ein Seil aus der Fensteröffnung, das fast bis auf den Grund des alten Grabens am Fuße des Turms reichte. Dann schwang sich ein Mann aus dem Fenster und begann, sich an dem Seil hinab zu lassen. Was sollte Leyendecker tun? Weglaufen? Unsinn! Dem Mann das Seil halten? Ebensolcher Unsinn. Man konnte sehen, dass der ganz gut alleine zurecht kam. Also verlegte sich Leyendecker weiter aufs Zuschauen. Der Kletterer hatte nun gut die Hälfte des Wegs nach unten hinter sich. Noch ein Stück.

Als das Seil riss, war der Mann fast unten angekommen, aber eben nur fast. Er schrie auf, als er aus knapp zwölf Fuß Höhe abstürzte und am Grund des Grabens aufschlug. Dann schrie er ein zweites Mal auf, diesmal nur lauter, als der schwere Stein, der aus dem Mauerwerk der Fensteröffnung oben im Turm ausgebrochen war, auf seinem rechten Bein landete. Seinen dritten Schrei gab er von sich, als der hinzu geeilte Leyendecker den rechten Arm des Mannes mit einem kräftigen Ruck um seine Schulter schwang und den Kletterer selbst daran hochriss. Komm, lass uns abhauen, sie sind bestimmt gleich hinter uns her, keuchte Leyendecker, indem er begann, ihn vom Gefängnisturm weg zu zerren, hinein in die beginnende Dunkelheit.

Der erste Abschnitt ihrer Flucht war nur von kurzer Dauer. Der Mann, erkannte Leyendecker, stand noch unter Schock. Erst der Ausbruch, dann der Absturz, dann eins aufs Bein bekommen, letzteres wahrscheinlich mit dem Resultat Beinbruch, das konnte einem Mann schon ganz schön zusetzen. Der hatte noch kein Wort von sich gegeben, nur manchmal kurz aufgestöhnt, wenn Leyendecker unvorsichtig war und das gebrochene Bein irgendwo anschlug. Weite Strecken waren so nicht zurück zu legen. Deshalb hielt Leyendecker nach einem Versteck Ausschau, das ihnen für eine Weile Deckung geben könnte. Am Rande einer von dichtem Buschwerk umstandenen, verlassenen Weide bemerkte er einen roh zusammen gezimmerten Bretterverschlag, von mächtigen Bäumen gut gedeckt, ehemals wohl als Unterstand fürs Vieh gedacht. Ideal für uns, befand Leyendecker, sandte einen ärgerlichen Blick gen Himmel, zum Mond hinauf, der in seiner ganzen Pracht dort stand und schickte sich an, mit seiner Last die Weide zu umrunden, anstatt sie zu überqueren. Dann könnt ich ja gleich eine Lampe mit mir herumtragen, dachte er sich.

In dem Verschlag angekommen, ließ er den Verletzten vorsichtig auf die Erde hinab, bemühte sich, es ihm etwas bequemer zu machen, vermied es, sein Bein zu berühren, setzte sich ihm dann gegenüber, kramte seine Trinkflasche hervor und reichte sie dem Mann.

Trink Bruder, hast dir einen ordentlichen Schluck verdient.

Der Mann ergriff die Flasche, setzte sie an, tat einen tiefen Zug, verzog dann leicht das Gesicht. Wasser! meinte er feststellend.

Natürlich Wasser, versetzte Leyendecker, was hast du denn sonst erwartet?

Wein, meinte der Mann. Wenn sie dich schon zu meinem Empfang schicken, hätten sie dir ruhig Wein mitgeben können.

Schicken? empört sich Leyendecker nun, zu deinem Empfang schicken? Mich hat niemand geschickt!

Und wieso hast du dann gewusst, dass ich diesen Abend abhauen würde, will der Mann jetzt wissen.

Hab ich ja gar nicht, meint Leyendecker. Irgendwie hat er das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Wieso eigentlich?

Schließlich... schließlich hab ich dich aus dem Schlamassel geholt, empört sich Leyendecker nun. Eigentlich könntest du mal Danke sagen und überhaupt, wie heißt du eigentlich?

Der Mann grinst, macht eine unvorsichtige Bewegung, verzieht schmerzhaft das Gesicht, grinst wieder. Nenn mich einfach Hannes, meint er. Und dein werter Name ist...?

Leyendecker heiß ich, antwortet Leyendecker.

Der andere streckt Leyendecker nun seine Hand hin. Danke, Leyendecker! sagt er.

Eine Zeitlang unterhalten sich die beiden noch. Dann bemerkt Leyendecker, das der andere, der sich Hannes nennt, immer öfter das Gesicht verzieht und darüber ganz glasige Augen bekommen hat.

Wir müssen etwas für dich tun, sagt Leyendecker, der im Stillen beschlossen hat, vorerst das Kommando zu übernehmen. Hier können wir nicht bleiben und abwarten, bis es dir immer dreckiger geht.

Nach Sonnschied, flüstert Hannes und Leyendecker erkennt, das er Fieber hat. Wir müssen nach Sonnschied, da kenn ich Leute.

Das sind gut vier deutsche Meilen, widerspricht Leyendecker. Wie willst du das schaffen mit deinem gebrochenen Bein? Leyendecker denkt an vier Meilen mit einer solchen Last an der Seite, denkt daran, wie unsinnig es doch ist, einen solch idealen Unterschlupf freiwillig vorzeitig zu verlassen, denkt an die Nachtmärsche, die nun folgen werden, denn bei Tage kann sich zwar ein kleiner Dieb sehen lassen, nicht aber zusammen mit einem verletzten, ausgebrochenen Gefangenen.

Bring mich nach Sonnschied, wiederholt Hannes und macht Anstalten, aufzustehen.

In Gottes Namen, denkt Leyendecker, hilft Hannes auf die Beine, schlingt dessen Arm wieder um seine Schulter, dann machen sich die beiden auf den Weg.

Leyendecker

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