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6. Kapitel
ОглавлениеLange hat Leyendecker so dagestanden. Bewegungslos. Seine Gedanken sind abgeschweift, haben sich immer mehr verloren. Jetzt drängt sich ein gewohntes, monotones Geräusch in sein Bewusstsein. Das unterschlächtige Mühlrad ist angelaufen, der Müller hat das Mahlwerk in Betrieb genommen. Damals, 1801, musste Leyendecker den Müller nicht lange bitten, um die Mühle erwerben zu können. Nicht für sich selbst hatte Leyendecker dieses Geschäft getätigt, sondern –natürlich- für Hannes.
Sie war recht hübsch gelegen, die Mühle am Hardtbach, nahe vor den Toren des kleinen Marktfleckens, vor allen Dingen weit, weit entfernt vom üblichen Betätigungsgebiet der Bande. Einen Bannkreis von mindestens zwei Tagesreisen hatte Hannes bestimmt. Leyendecker hatte sich daraufhin auf die Suche begeben und dieses ideale Versteck in Oberhessen ausfindig gemacht. Das Investment hätte sich rentiert gehabt, wäre Hannes und sein kleiner Trupp plangemäß aufgetaucht. Seit beinahe zehn Jahren dient die Mühle nun Leyendecker als eine ständige Zuflucht, die sich in der Zwischenzeit zu einem Alterssitz entwickelt hat. Der Müller besaß die Mühlenkonzession und ahnte von allem nichts. Für ihn war Leyendecker der Eigentümer. Von Hannes hatte er niemals etwas gehört und ihn nie zu Gesicht bekommen. Nie einen Mitwisser mehr als nötig, hatte Hannes immer gepredigt. Und genau so hat es Leyendecker sein Leben lang gehalten.
Gleichmäßig dringt das Knirschen des Mahlwerks an Leyendeckers Ohr, scheint seine Gedanken zu versammeln und anzutreiben. Er steht immer noch an seinem Pult, greift nun zur Feder, taucht sie ein, hebt die Hand, wie um zu schreiben. Doch etwas lässt ihn wie zu Eis erstarrt innehalten. Ein Gedanke, der gleich einem unerwarteten Blitz aus der hintersten Ecke seines Gehirns direkt in die Muskeln seiner rechten Hand fährt. Diese Bewegung des Schreibenwollens, wie oft hat er sie im Zusammenhang seines Manuskripts ausgeführt, begonnen und vollendet. Warum bleibt Leyendecker nun in dieser Bewegung stecken? Ein Gedankenzusammenhang ist es, unbemerkt präsent, etwas unbedacht Gedachtes, was seine Bewegung unvermittelt zum Stillstand kommen lässt.
Langsam, müde fast, legt Leyendecker die Feder wieder beiseite.
Er hat sich vor seinem Schreibpult stehen sehen, vor dem Schreibpult in seiner kleinen Schusterei in Lauschied, die er mit seinen damals siebenundzwanzig Jahren besessen hatte. Das Pult war sein ganzer Stolz und das Produkt dreijährigen unermüdlichen Sparens gewesen.
Das erste Mal, dass Leyendecker eines solchen Pults ansichtig wurde, war in Mainz. Dorthin musste er ziehen, um die Erlaubnis zu erwerben, sich als Schuster im eigenen Namen verdingen zu dürfen. Der Code Napoléon ließ es nicht zu, dass ein Jeder nach seinem Gutdünken ein Gewerbe ausüben dürfe. So hatte Leyendecker also sein Bündel geschnürt und sich auf Wanderung begeben, mal unermüdlich zu Fuß und hinkend, mal als Mitfahrer auf einem Ochsenkarren, einmal sogar auf einem Pferdefuhrwerk. Die Nächte verbrachte er im Obdach von Bauern, die ihm als Gegenwert für eine gefegte Hofreite oder einige gestapelte Heuballen einen Platz im Stroh offerierten. Drei Tagesreisen hatte es so gebraucht, bis er in Mainz schließlich anlangte. Sich bis zur Kommandantur durchzufragen, bereitete Leyendecker wenig Schwierigkeiten. Dann hieß es warten, warten, warten, bis die Schar der vor dem Kontor des zuständigen Beamten wartenden Antragsteller zusammen geschmolzen war und die Reihe an ihn kam. Da stand er, klein und unscheinbar, der hohe Beamte, der über Wohl und Wehe von Leyendeckers Zukunft zu entscheiden hatte, vor einem Ehrfurcht einflößenden Schreibpult, welches für Leyendecker in diesem Moment zum Sinn und Ziel allen beruflichen Trachtens wurde. Es war ein Sinnbild für Macht und Einfluss - und genau das wollte Leyendecker auch haben, eines Tages....
Doch damals, 1798, hielten die Franzosen das linksrheinische Volk in fester Hand; die Zeichen für einen kleinen Schuster standen nicht günstig.
Zuerst hatte sich alles recht wohl angelassen. Leyendecker hatte sein Handwerk gut gelernt und konnte sich in seinem Gewerbe einen Namen machen, der weit über die Grenzen seines Dorfes hinaus ging. Schuhe von Leyendecker sind gut, hieß es. Schuhe von Leyendecker sind bequem, sagten die Leute. Schuhe von Leyendecker halten lange, meinten die meisten. Schuhe von Leyendecker sind zu teuer, sagten, Gott sei’s gedankt, anfangs nur wenige. Und so verdiente Leyendecker Geld. Nicht sehr viel, aber zum Leben reichte es aus und sparen ließ sich sogar auch etwas. Und der Tag kam, an dem aus Leyendeckers Traum Wirklichkeit wurde, der Tag, an dem er dem Schreiner des Dorfes ein Schreibpult in Auftrag gab, an dem er von nun an seine Briefe schreiben, seine Einnahmen verzeichnen wollte.....
Bereits kurze Zeit später jedoch zerbrach der Traum an der Wirklichkeit. Der Druck der Besatzer wurde immer unerträglicher, stürzte besonders die Landbevölkerung in Hunger und Armut. Zuerst wurde die Anzahl der Schuhe, die Leyendecker in Auftrag nehmen konnte, weniger und weniger. Dann nahmen die Reparaturen ab, blieben schließlich ganz aus. Das Schreibpult stand verwaist, Staub sammelte sich auf dem schönen Holz. Leyendecker begann, sich nach Zusatzarbeit umzusehen. Doch die war rar und von Vielen begehrt.
Schließlich kam der Tag im kalten Frühjahr des Jahres 1799, an dem Leyendecker erkannte, dass er mit einem halben Laib Brot und einem schmalen Stück Speck nicht würde überleben können. Nach kurzer Überlegung spaltete seine Axt das Schreibpult in Späne für ein letztes Feuer im Kamin, eine letzte warme Nacht. Mit dem Schreibpult gingen auch Leyendeckers Träume in Flammen, Rauch und Ruß auf. Am nächsten Morgen, als das Kaminfeuer herunter gebrannt war, machte er sich auf den Weg, einen Sack mit den wichtigsten Werkzeugen und seinen letzten Vorräten auf dem Rücken...