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2. Kapitel
ОглавлениеDie Augenlider des alten Mannes beginnen zu flattern. Durch zusammenhanglose Traumfetzen und konturlose Erinnerungen bricht sich sein Bewusstsein zögerlich Bahn. Gleichsam in jähem Erschrecken reißt er nun die Augen auf. Ohne den Kopf zu bewegen wandert sein Blick durch den nur von zwei Petroleumlampen und das herunter gebrannte Kaminfeuer schwach beleuchteten Raum.
Er ist allein.
Sogleich beruhigt sich sein angstvoller Blick. Jetzt ist der alte Mann wach.
Sein Leben währt nun schon zweiundfünfzig Jahre und wer ihn sieht, der meint, der alte Mann setze gerade zu einer Verbeugung an, denn sein Rücken ist stets nach vorne geneigt, der Kopf ein wenig tief zwischen die Schulterblätter gezogen. Ebenso auffallend ist sein unsteter Gang, denn sein rechtes Bein ist im Knie unbeweglich, der Fuß leicht nach innen verzogen. Allerdings ist diese Behinderung schon so alt, dass der alte Mann sie gar nicht mehr wahrnimmt. War seine Gestalt selbst in seinen besten Jahren nie als hochgewachsen zu bezeichnen, hat das Alter sie nun noch mehr zusammensinken lassen. Was ist es also, dass den wenigen Menschen, die noch mit ihm zusammen treffen, sein Anblick so bemerkenswert erscheinen lässt?
Es ist sein Gesicht mit den traurigen Augen, von so dunkelgrauer Farbe, dass sie fast schwarz wirken. Sein Blick, sanft, aber durchdringend, wird von einer schmalen, geraden Nase, von tiefen Furchen zu beiden Seiten begrenzt, wirkungsvoll verstärkt. Der Mund ist wohlgeformt und proportioniert, durch eine Grube von dem weichen, wenig energischen Kinn getrennt. Sein Haar ist lang, bis in den Nacken glatt nach hinten gekämmt, aschgrau und immer noch mit schwarzen Strähnen durchwirkt. Welcher Lebensinhalt könnte einen Mann mit einem solchen Gesicht einmal ausgefüllt haben? War er einst ein Gelehrter, ein Chirurg oder gar Arzt? Ein gebildeter Kaufmann vielleicht? Ein vormals berühmter Künstler gar? Die wenigen Leute in der Gegend, mit denen der alte Mann noch Kontakt halten muss, reden ihn mit Euer Ehren an; seinen richtigen Namen kennen sie nicht. Und wenn sie ihn gekannt hätten, hätte ihnen dieser Name nichts gesagt. Anfangs verstiegen sie sich in wilden Vermutungen, versuchten, von dem Gesicht des alten Mannes auf seine frühere Profession zu schließen. Schließlich einigte man sich darauf, dass es sich um einen ehemaligen Richter handeln müsse, der in der alten Mühle seinen Ruhestand verlebe.
Dieses Ende der Spekulationen geriet damit gleichzeitig auch zum Ende des Interesses für den alten Mann mit dem bemerkenswerten Gesicht und dem auffälligen Gang, der in der alten Mühle wohnt und Leyendecker heißt.