Читать книгу Leyendecker - Thomas Stange - Страница 7
4. Kapitel
ОглавлениеMonate waren seit diesem aller ersten Gedanken nun vergangen, Monate, in denen aus den ersten, unsicher niedergeschriebenen Zeilen ein umfangreiches Manuskript geworden war, eine noch längst nicht beendete Arbeit, sicherlich nicht; dennoch eine gut strukturierte Sammlung von Gedanken, die vordem so schmerzhaft und unauslöschlich des Schreibers Seele zerfurcht haben. Ist es Leyendecker deshalb nun leichter zumute? Mitnichten. Denn Leyendecker hat erkannt, dass diese schwerlastenden Gedanken bisher geruht haben, in sich und in ihm geruht haben, unsagbar in ihrem Gewicht zum Einen, unsichtbar in ihrer Bedeutung jedoch zum Anderen. Seine Feder, sein Papier hat Belastendes an die Oberfläche gehoben, hat nie Gesagtes gesagt werden, Unkörperliches gegenständlich werden lassen. Augen meint Leyendecker in seinem stillen Zimmer zu erblicken, fremde Ohren lauschen zu hören, als ob er seiner Feder Stimme verliehen hätte. Leyendecker hat erkannt, dass er mit seinem gedankenvollen Manuskript ein gefährliches Schriftstück in Händen hält.
Welch ein Ausweg bliebe ihm? Wie oft schon hat er da gestanden, vor seinem lodernden Kamin, das Manuskript in Händen? Nur einer leichten, einer winzigen, kaum Kraft kostenden Bewegung hätte es bedurft, Gesagtes, Körperliches, Gegenständliches den Flammen anzuvertrauen, damit für immer Augen und Ohren zu entziehen. Was verlieh ihm die Kraft, diese Kraft nicht aufzubringen? Lange genug haben sich Leyendeckers Gedanken auf diese Frage konzentriert, um ihn erkennen zu lassen, dass es die Angst vor der Rückkehr in die Qual war, die ihn zurückhielt. Zu genussvoll war die einkehrende Ruhe der Seele gewesen, zu begehrenswert die geistige Freiheit, die sich ihm im Schreiben erschlossen hatte. Indem er sich dieses Umstands bewusst wurde, hat sich sein Leben verändert. Nachdem ihn der innerliche Druck des Gewesenen so viele Jahrzehnte peinigte, beginnt ihn nun der Druck des Seins äußerlich zu zermürben. Keine Ruhe, die nicht durch wiederkehrende Bilder der Vergangenheit zerfasert wird, kein Schlaf, der nicht in einem angstvollen Erwachen endet. Leyendecker hat den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Bei den wenigen Gelegenheiten, in denen er seine Zuflucht in der alten Mühle verlässt, um die wenigen von ihm benötigten Vorräte im nahe gelegenen Dorf zu besorgen, meidet er in der letzten Zeit den kürzeren Hohlweg und bevorzugt stattdessen den wesentlich weiteren Weg über freies Feld. Auch hat er wieder begonnen, alle zehn Schritt über die Schulter zu schauen, genau so, wie er es vor vielen Jahrzehnten immer tat, als er noch gewärtig sein musste, jeden Augenblick seinen Häschern in die Hände zu fallen.
Nur mühsam ist es Leyendecker gelungen, seine allgegenwärtige Besorgnis in einen tiefliegenden Winkel seiner Seele zu verbannen. Er steht nun vor seinem Schreibpult, eine leere Seite Papier vor sich, das geöffnete Tintenfass und die schreibbereite Feder zur Rechten und blickt durch das kleine Fenster hinaus in den regnerischen Novembernachmittag, hinaus in den von hohem Gras und seit Jahren nicht mehr beschnittenen Obstbäumen und Sträuchern bestandenen Garten.
Ich sollte freien Blick haben, denkt er sich. Es wäre besser, wenn ich den Garten durchblicken könnte, denn wenn, dann kommen sie durch den Garten und nicht über die Straße, denn die lässt sich zu gut einsehen.
Du fängst an, unter Verfolgungswahn zu leiden, sagt sich Leyendecker. Was hat sich denn geändert? Du hast angefangen, deine Erinnerungen aufzuschreiben. Was ist schon dabei? Was du geschrieben hast, hast du niemandem gezeigt und hast es niemandem erzählt. Über die Sachen von damals ist längst das Gras gewachsen und außerdem, was hast du schon Schlimmes getan?
Du warst dabei und hast die Briefe geschrieben und hast ein paar der großen Sachen geplant, meldet sich Leyendeckers Gewissen. Hättest du dich dann nicht rechtzeitig auf die Reise begeben, läge auch dein Kopf seit vielen Jahren im Rhein.....