Читать книгу Der gläserne Fluch - Thomas Thiemeyer - Страница 12
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Drei Tage später …
Im ehrwürdigen Gebäude der Universität zu Berlin liefen die Vorbereitungen für den Vortrag auf Hochtouren. Der weitläufige Campus war in einem Abstand von etwa hundert Metern abgesperrt worden und wurde von Dutzenden berittener Polizisten bewacht. Der Vorplatz wurde von Fackeln erhellt, deren Flammen ihr weiches Licht gleichermaßen auf Zuschauer wie auf Besucher verteilten. Tausende von Schaulustigen hatten sich außerhalb der Umzäunung versammelt und warteten ungeduldig auf das Eintreffen des Regenten und seiner Gattin. Als der Kaiser und die Kaiserin dann endlich in ihrem prächtigen Landauer und in Begleitung ihrer fünfzehnköpfigen Leibgarde eintrafen, brach das Volk in laute Jubelrufe aus. Kaiser Wilhelm der Zweite und seine Gattin, Auguste Viktoria, winkten den Leuten fröhlich zu, beeilten sich aber, rasch ins Innere zu gelangen. Es hatte zwar aufgehört zu schneien, aber die Temperaturen an diesem Abend waren immer noch recht frostig.
Dann durften die Gäste eintreten. Stilvoll gekleidetes Personal prüfte gewissenhaft jede einzelne Einladung, ehe sie den Weg freigaben. Vor dem Gebäude entstand eine Schlange und es dauerte eine Weile, bis auch der letzte Gast die Türen passieren durfte.
Im Inneren ging es nicht minder prächtig zu. Die Kronleuchter und Wandhalter des mehrstöckigen Hauptgebäudes waren mit unzähligen Kerzen bestückt worden, die das Innere der Universität in ein Meer aus Flammen tauchten. Zwar hatten hier, wie in den meisten großen Gebäuden der Stadt, Gaslampen Einzug gehalten, aber zu Ehren des Kaisers und aus diesem besonderen Anlass hatte man bewusst darauf verzichtet. Kerzenlicht wirkte auf den Gesichtern der Damen doch um ein Vielfaches vorteilhafter als der kalte Schein einer Gaslaterne.
Charlotte hatte so einen Prunk noch nicht erlebt. Sie stand ganz nahe bei ihrem Onkel und blickte mit großen Augen auf die vornehm gekleideten Besucher. Die Damen waren zumeist in prächtige Kleider gehüllt und trugen sorgfältig toupierte Frisuren. Die Herren hingegen steckten in maßgefertigten Anzügen, trugen ihre Bärte gezwirbelt und ihre Haare pomadisiert, ganz nach dem Vorbild des Kaisers. Die Säle waren erfüllt von dem Geruch kostbaren Parfüms und edler Zigarren und allenthalben wurde Champagner ausgeschenkt. Charlotte wagte kaum zu atmen und lauschte mit geröteten Wangen den Unterhaltungen der Gäste. Bei genauerer Betrachtung waren diese meist ziemlich öde und oberflächlich, aber in dieser Umgebung und zu diesem Anlass wirkte jedes Wort, als bestünde es aus Gold. Die Aufregung half ihr sogar, für einen Moment den Brief zu vergessen, den sie vor drei Tagen erhalten hatte. Ein Brief, der schwerwiegende Konsequenzen haben würde.
»Onkel, ich hätte gern ein Glas Champagner.«
Humboldt war der Einzige, der sich an diesem Abend nicht zu amüsieren schien. Sein Blick wanderte über die Köpfe der Anwesenden zurück zu seiner Nichte. »Was hast du gesagt?«
»Champagner«, erwiderte Charlotte. »Ich hätte gern ein Glas davon.«
»Aber du bist erst sechzehn.«
»Onkel, bitte.«
Der Forscher stieß ein unverständliches Grunzen aus, dann wählte er einen Diener aus und nahm zwei Gläser von dessen Tablett. »Hier«, sagte er, als er zurückgekehrt war. »Aber nur dieses eine.« Sie stießen an. »Übrigens, du siehst heute Abend bezaubernd aus.«
Charlotte spürte, dass sie rot wurde. Schnell trank sie einen Schluck. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Champagner getrunken, fand aber, dass heute eine passende Gelegenheit war. Das prickelnde Getränk strömte ihre Kehle hinab und hinterließ einen seltsamen Geschmack im Mund.
»Und?« Humboldt blickte sie aufmerksam an.
Charlotte erforschte den Geschmack. »Irgendwie sauer«, bemerkte sie und griff nach einem Appetithäppchen, um den Geschmack zu neutralisieren. Nachdem sie das Käsegebäck gegessen hatte, versuchte sie es erneut. Doch auch diesmal war das Ergebnis eher unbefriedigend. »Ich weiß nicht«, murmelte sie und schaute auf das Glas. »Ich kann dem irgendwie nichts abgewinnen.«
»Geht mir auch so.« Der Forscher kippte sein Glas in einem Zug runter. »Ziemlich saure Plörre. Aber vielleicht fällt es uns damit leichter, die unsäglich dummen Gespräche auszublenden. Komm, lass uns in den Hörsaal gehen.«
Charlotte stellte das Glas zurück und folgte ihrem Onkel.
Der Hörsaal war bereits gut besetzt. Sie fanden einige Plätze in der vierten Reihe, unweit des Bühnenaufgangs, und ließen sich dort nieder. Charlotte warf einen Blick nach hinten. Wilhelm und seine Gattin saßen, umrahmt von der Leibgarde sowie einigen Mitgliedern des Hofstaats, in der Loge und blickten auf sie herab. Im Licht der Kerzen konnte Charlotte unzählige blank polierte Manschetten, Knöpfe und Ehrenabzeichen schimmern sehen. Federbüsche und Pickelhauben ragten in die Höhe.
Ihr Onkel hatte ganz recht. Es war eine schrecklich aufgeblasene Veranstaltung. Ein Schaulaufen der Schönen und Mächtigen, bei dem es nur darum ging, beim Kaiser einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen. Mit Forschung und Wissen hatte das alles nur sehr wenig zu tun. Blieb zu hoffen, dass wenigstens der Vortragende an diesem Missstand etwas ändern konnte.
In eben diesem Moment betrat Richard Bellheim in Begleitung des Direktors und einiger hochrangiger Würdenträger der Universität die Bühne. Er war ein schlanker, ausgezehrt wirkender Mann von vierzig Jahren, dessen Haar bereits schütter und an manchen Stellen leicht ergraut war. Er trug Vollbart und Nickelbrille und unter seinem Arm einen Aktenordner. In einen einfachen braunen Anzug gekleidet, die Ellenbogen mit Lederflicken besetzt und die Schuhe leicht angestoßen, bot er einen wohltuenden Gegensatz zu all den feinen und herausgeputzten Herrschaften im Publikum. Als er zu sprechen begann, war seine Stimme tief und wohlklingend.
Charlotte lehnte sich zurück. Sie faltete die Hände und lauschte mit wachsender Begeisterung den Erzählungen vom Schwarzen Kontinent.