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Die Tafel war festlich eingedeckt. Wertvolles Porzellan, Silberbesteck und kristallene Gläser schimmerten im Licht unzähliger Kerzenständer. Die Stoffservietten waren zu kleinen Tieren gefaltet. Jeder Platz war mit einer Tischkarte dekoriert worden, auf der ein Name stand.

Mit besorgtem Blick stellte Oskar fest, dass er zwischen zwei Leute saß, die er nicht kannte. Den anderen erging es nicht besser. Sie alle waren zwischen den anderen Gästen verteilt worden und saßen obendrein ein ganzes Stück von ihm entfernt. Vermutlich, damit man sich schneller kennenlernte. Ehe er protestieren konnte, erhob Frau Bellheim ihr Glas.

»Meine lieben Freunde, verehrte Gäste. Ich möchte Sie ganz herzlich zu unserem Silvesterempfang begrüßen. Danke, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und den Jahreswechsel mit mir und meinem Mann verbringen. Bitte wundern Sie sich nicht, dass ich alle ein wenig auseinandergesetzt habe, das geschah mit voller Absicht. Ich würde mir wünschen, dass wir alle miteinander bekannt werden und als gute Freunde ins neue Jahr gehen. Herzlich willkommen in unserem Hause!«

Alle hoben ihre Gläser und prosteten einander zu.

Richard Bellheim saß am Kopfende des Tisches, direkt neben seiner Frau. Er machte den Eindruck, als wisse er überhaupt nicht, wo er war. Als seine Frau ihm etwas ins Ohr flüsterte, stand er steif und langsam auf und blickte in die Runde.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gertrud.« Seine Stimme klang dünn und kraftlos. »Ich bin gerührt über die Ehre, bei diesem Tisch den Vorsitz führen zu dürfen, auch wenn ich diese Aufgabe nur eingeschränkt erfüllen kann.« Er zögerte. »Manch einem mag aufgefallen sein, dass ich mich in letzter Zeit etwas verändert habe. Nicht zum Guten, wie ich leider zugeben muss. Meine Ärzte meinen, es wäre nur ein vorübergehender Erschöpfungszustand und dass ich mir keine Sorgen machen solle. Ich hoffe, sie haben recht. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass mir die Situation sehr unangenehm ist. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich bei dem einen oder anderen der hier Anwesenden Erinnerungsprobleme habe. Ich möchte mich aber jetzt schon ganz herzlich bedanken, dass Sie einem zerstreuten Professor Gesellschaft leisten wollen.«

Die Gäste hoben die Gläser und prosteten dem Völkerkundler zu. »Hört, hört!«

Oskar blickte in Humboldts Richtung. Der Forscher beobachtete Bellheim mit kritischem Blick. Mochte der Himmel wissen, was gerade in seinem Kopf vorging. Dann folgte das Festmahl, das Oskars volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als Vorspeise gab es Wachtelbrüstchen in Portsoße, anschließend folgte der traditionelle Silvesterkarpfen und zum Nachtisch gab es Burgunderpflaumen mit Vanilleeis. Dazwischen wurden verschiedene Weine gereicht und wer wollte, bekam ein Bier. Die Unterhaltung verlief angenehm und entspannt. Es wurde gegessen, geplaudert und angestoßen, und eine Weile ging alles gut. Doch es kam der Moment, vor dem Humboldt sie vor ihrer Abfahrt gewarnt hatte. Er trat in Form eines dicklichen Mannes mit Backenbart in Erscheinung, dessen Glatze im Schein der Kerzen rosa glänzte. Er hatte schon eine ganze Weile dem Wein zugesprochen und befand sich in einem Zustand, den man nur als schwer alkoholisiert bezeichnen konnte. Oskar kannte die Symptome: glänzende Augen, gerötete Wangen, großporige Nase, feuchte Unterlippe. Der Mann war gerade bei seinem sechsten oder siebten Glas angelangt, als er sich über den Tisch beugte und weithin hörbar sagte: »Ich hörte, Sie sind jetzt in der Dienstleistungsbranche, Herr Donhauser?« Schon wie er den Namen aussprach, zeugte von tiefer Geringschätzung.

An den Plätzen wurde es schlagartig ruhig. Wie es schien, hatten alle auf diesen Augenblick gewartet.

Humboldt unterbrach das Gespräch mit seiner Tischnachbarin und drehte den Kopf. Um seinen Mund spielte ein dünnes Haifischlächeln. »Ich fürchte, da sind Sie falsch informiert, Dekan Wallenberg.«

»So?«

»Ganz recht. Mein Name ist von Humboldt. Schon seit einer ganzen Weile. Alexander war mein Vater, aber vielleicht haben Sie das nicht mitbekommen. Die mathematische Fakultät war schon immer ein wenig langsam.«

Vereinzelt erklang Gelächter.

Wallenbergs gerötete Wangen wurden eine Spur dunkler.

»Ich habe so etwas läuten hören«, erwiderte er mit Blick auf seine perfekt manikürten Hände. »Ich konnte nur nicht glauben, dass der alte Knabe mit achtzig noch ein gesundes Kind gezeugt haben soll.« Er kippte den letzten Rest Wein in seinen Schlund und ließ sich nachschenken. »Aber Alexander von Humboldt war eben ein großer Mann.«

Oskar hielt den Atem an. Wallenberg schien nicht zu wissen, in welcher Gefahr er sich befand.

Doch Humboldt blieb erstaunlich ruhig. Immer noch lächelnd sagte er: »Das war er in der Tat. Gegen ihn sind wir nur Eintagsfliegen. Und was Ihre Frage betrifft: Ja, ich biete meine Dienstleistungen Firmen oder Privatpersonen an, wenn diese ein ungewöhnliches Problem haben. Zwei Fälle konnten wir schon zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten lösen. Jetzt arbeiten wir wieder an einem neuen Fall. Wenn Sie ein Problem haben, ich stehe Ihnen gern zu Diensten.«

»Nein, nein. Vielen Dank.« Wallenberg winkte ab. Sein Backenbart war gesträubt und beim Sprechen flogen kleine Speicheltropfen durch die Luft. »So weit kommt’s noch, dass ich meine Aufgaben von einer Gruppe Schausteller erledigen lasse. Ich finde es schon unerhört, dass uns zugemutet wird, am selben Tisch mit einer dunkelhäutigen …«

Weiter kam er nicht. Er hatte sich halb aus seinem Sitz erhoben, als er unvermutet abbrach und mit großen Augen in die Runde starrte. Er sah aus, als hätte er eine Gräte verschluckt.

»Herr Dekan?« Gertrud Bellheim blickte besorgt auf ihren Gast. »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Ich …« Wallenberg sank zurück. Er schien mitten im Satz vergessen zu haben, was er eigentlich sagen wollte.

Oskar warf einen verborgenen Blick zu Eliza hinüber. Die Haitianerin hielt Wallenberg mit ihren geheimnisvollen dunklen Augen gefangen. Oskar sah, dass sie stumme Worte murmelte und dabei ganz unauffällig mit der Hand über ihr Amulett strich.

Wallenberg setzte noch einmal an, doch dann schüttelte er verwirrt den Kopf. »Tja, es scheint, ich habe vergessen, was ich eigentlich sagen wollte.«

»Sicher zu viel Wein«, sagte Humboldt. »Das ist gar nicht gut bei Ihrem hohen Blutdruck.«

»Ja, vermutlich haben Sie recht.« Wallenberg ließ sich ein Glas Wasser einschenken und trank es gierig aus. »Schon viel besser«, sagte er. »Vielen Dank. Und falls ich eben irgendwie ausfallend geworden bin, so bitte ich das zu entschuldigen. Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass ich Ihnen viel Glück bei Ihren Unternehmungen wünsche und dass Sie bald wieder in die Dienste unserer Universität treten mögen.«

»Diesem Wunsch schließe ich mich von Herzen an«, sagte Frau Bellheim, sichtlich überrascht, dass das Gespräch eine so unerwartete Wendung genommen hatte. Wie alle am Tisch schien sie damit gerechnet zu haben, dass es gleich zu einer unangenehmen Auseinandersetzung kommen würde. »Mit Ihrer Erlaubnis würde ich die Tafel gern auflösen und Sie zu einem kleinen Punsch in den Salon bitten. Dort erwarten Sie Musik und Tanz.« Sie stand auf und klatschte in die Hände. Im Nu eilte das Dienstpersonal herbei, half den Gästen beim Aufstehen. Nicht wenige hatten schon sichtbare Schlagseite.

Als alle drüben waren, fragte Oskar: »War das eben dein Werk, Eliza?«

»Was meinst du?«

Er deutete auf den dicken Mann mit dem Backenbart, der sich bereits wieder eifrig Punsch einschenken ließ.

»Ach das.« Sie lächelte bescheiden. »Ein klein wenig Magie aus meiner Heimat.«

»Das hast du sehr gut gemacht«, flüsterte Humboldt. »Wer weiß, was geschehen wäre, wenn dieser Idiot weitergeredet hätte. Danke.« Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf das pechschwarze Haar. »Wie sieht’s aus? Möchtest du tanzen?«

»Ich dachte, du fragst nie.« Sie streckte ihm ihre Hand hin und gemeinsam gingen sie zu den Klängen eines Walzers in das angrenzende Zimmer hinüber.

Der gläserne Fluch

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