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Zwei Stunden später war der Vortrag zu Ende. Der Völkerkundler bedankte sich, signierte Bücher und Reiseberichte und verschwand dann mit den Kuratoren der neu eröffneten Afrikaausstellung hinter dem Podium. Bellheim hatte seinen Schwerpunkt auf Völker und Kulturen anstatt auf Kolonialpolitik gelegt. Humboldts Sorgen waren also unbegründet gewesen. Im Publikum herrschte Aufbruchsstimmung. Der Kaiser und die Kaiserin waren bereits in Richtung Kutsche aufgebrochen und so bestand für die meisten Anwesenden kein Grund, noch länger zu verweilen. Charlotte und Humboldt warteten, bis die Zahl der Besucher auf ein erträgliches Maß gesunken war, dann standen sie auf und gingen dorthin, wohin Bellheim verschwunden war.

Ein Saaldiener versperrte ihnen den Weg.

»Sie wünschen?«

Humboldt überragte den Mann um etwa eine Handbreit.

»Ich möchte mit Professor Bellheim sprechen«, erwiderte er. »Ich würde ihm gerne meine Glückwünsche und Komplimente zu dem gelungenen Vortrag übermitteln.«

Der Diener schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, mein Herr, aber ich habe strikte Anweisungen, niemanden durchzulassen.«

»Bei Herrn Humboldt dürfen Sie eine Ausnahme machen«, ertönte eine Stimme von links. Eine blasse Dame in einem rosafarbenen Kleid und weißen Schuhen trat auf sie zu und reichte dem Forscher die Hand. »Mein Name ist Gertrud Bellheim.«

»Dann haben wir Ihnen also die Einladung zu verdanken, gnädige Frau?«

»Ganz recht. Ich hoffe, Sie fanden den Vortrag interessant.«

»Außergewöhnlich interessant.« Humboldt deutete einen Handkuss an. »Dies ist meine Nichte Charlotte.«

»Wie reizend. Interessieren Sie sich für Afrika, meine Liebe?«

»Nicht nur für Afrika«, erwiderte Charlotte. »Ich interessiere mich für alle Naturwissenschaften. Physik, Chemie, Biologie, Geografie. Es ist eine so aufregende Welt.«

»Ich sehe schon, Herr von Humboldt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Sie schenkte Charlotte ein warmherziges Lächeln.

»Haben Sie Lust, meinem Mann einen Besuch abzustatten? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ihn gern wiedersehen würden, nach so vielen Jahren …«

»In der Tat«, sagte Humboldt. »Wir waren einmal sehr eng befreundet. Ich möchte ihm zu seinem gelungenen Vortrag gratulieren.«

»Dann folgen Sie mir bitte.« Die Gattin des Völkerkundlers ging voran und winkte sie an dem Diener vorbei hinter die Bühne.

Während sie einem Gang folgten, der bei einer Treppe ins Untergeschoss mündete, unterhielt sich Frau Bellheim angeregt mit Charlotte. Sie vertrat dabei einige sehr moderne Ansichten. Zum Beispiel war sie der Meinung, es sei eine Schande, dass Frauen immer noch nicht studieren dürften. Charlotte, die bei diesem Thema regelmäßig rote Wangen bekam, konnte ihr nur aus tiefstem Herzen beipflichten. Erst letztes Jahr war wieder ein Antrag auf Zulassung von Frauen zum Studium abgelehnt worden. Dabei bestand das Recht in der Schweiz bereits seit 1840, in Großbritannien seit 1849 und in fast ganz Europa seit 1870. Nur in Preußen und Österreich-Ungarn hatte man sich nicht dazu durchringen können. Ein Skandal, wie Frau Bellheim betonte, während sie ihre Gäste in den unteren Stock begleitete.

Vor einer der Türen hielt sie an.

»Da wären wir. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie mit meinem Geschwätz gelangweilt habe. Ich bin in letzter Zeit etwas nervös und neige zum Plappern.«

»Aber nein«, sagte Charlotte entschieden. »Ich habe es sehr genossen, Ihre Ansichten zu hören. Vielleicht können wir uns ja irgendwann mal weiter über das Thema unterhalten.«

»Sehr gern, meine Liebe. Aber jetzt lassen wir den Herren den Vortritt.« Sie klopfte an.

»Herein!«, schallte es von drinnen.

Die Frau des Völkerkundlers öffnete die Tür und ließ die Gäste eintreten. Richard Bellheim war gerade damit beschäftigt, die Karten und Unterlagen, die er während des Vortrags benutzt hatte, in Koffer zu packen und diese zu schließen. Sein Vorbereitungszimmer glich einer Rumpelkammer, durch die der Wind gefegt war.

»Richard, dies sind Carl Friedrich von Humboldt und seine Nichte Charlotte. Sie waren heute Abend Gäste deines Vortrags.«

Der Völkerkundler blinzelte zweimal, dann neigte er den Kopf. »Humboldt? Der Name klingt vertraut. Sie sind doch nicht etwa mit Alexander von Humboldt verwandt?«

Der Forscher runzelte verwundert die Stirn, dann sagte er: »Alexander war mein Vater.«

»Da haben Sie aber großes Glück. Sehr großes Glück, aber auch eine große Verantwortung. In welchem Beruf sind Sie tätig?«

»Ich bin Naturwissenschaftler.«

»Soso.«

Charlotte blickte zwischen ihrem Onkel und dem Völkerkundler hin und her. Das Gespräch nahm eine andere Wendung, als sie vermutet hatte. Ihr Onkel schien das genauso zu sehen.

»Richard«, sagte er. »Ich bin es, dein Freund Carl Friedrich.«

Bellheims Blick drückte Unverständnis aus. Er legte die Dokumentenrolle zur Seite und trat auf den hochgewachsenen Forscher zu.

»Wie sagten Sie, war Ihr Name?«

»Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Aber vielleicht sagt dir der Name Donhauser ja etwas.«

»Carl Friedrich Donhauser?« Bellheim musterte das Gesicht seines Gegenübers im Schein der Kerzen. »Woher sollten wir uns kennen?«

»Wie kannst du das vergessen haben?« Humboldt war sichtlich erschüttert. »Wir haben vier lange Jahre zusammen studiert. Weißt du nicht mehr, die Semester bei Alois Krummnagel? Artenkunde und Präparation I–IV. Irgendwann haben wir uns mal in die Ausstellungsräume geschlichen und Tierfelle übergezogen, erinnerst du dich? Was hatten wir für einen Spaß!«

Bellheim zwinkerte verständnislos mit den Augen. Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem. Bedaure, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«

»Richard …«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich nicht dauernd duzen würden«, sagte Bellheim, nun schon merklich ungehaltener. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann, aber Sie sehen ja, ich habe viel zu tun. Vielleicht besuchen Sie ja noch einen meiner anderen Vorträge. Haben Sie vielen Dank für Ihren Besuch. Gertrud, wenn du die Herrschaften bitte hinausbegleiten würdest …«

Humboldt stand seinem Freund fassungslos gegenüber. Er schien mit sich zu ringen, entschied dann aber, dass es nichts bringen würde. »Na dann … haben Sie vielen Dank, Herr Bellheim.« Er verließ den Raum. Charlotte ging ihm hinterher, dicht gefolgt von Bellheims Frau. Kaum hatte sie die Tür zugezogen, als der Forscher sich umdrehte. »Was sollte dieser Auftritt da eben? Ich verlange eine Erklärung.«

Gertrud Bellheim lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid. Ich hatte so gehofft, dass er Sie erkennen würde. Wenn Sie möchten, erkläre ich Ihnen alles. Aber nicht hier. Lassen Sie uns hoch in den Salon gehen. Dort werden wir sicher eine Tasse Tee bekommen.«

Der Salon war gut besucht. Etliche Besucher des Vortrags saßen bei einem Wein, einem Bier oder einer Tasse Kaffee beisammen und sprachen über das Gehörte. Gelächter erklang und im Hintergrund klapperte Geschirr. Ein leichter Geruch von Tabak durchströmte den Raum.

Gertrud Bellheim deutete auf eine rot gepolsterte Sitzgruppe und winkte einen Diener herbei. »Möchten Sie etwas bestellen?«

Charlotte nahm eine heiße Zitrone und Humboldt einen Tee. Sie selbst bestellte einen Wein und ein Glas Wasser. Nachdem der Diener davongeeilt war, begann sie zu erzählen.

»Mein Verdacht, dass etwas nicht stimmte, fing etwa zwei Wochen nach seiner Rückkehr an. Richard war früher nie vergesslich, aber jetzt neigte er dazu, Dinge herumliegen zu lassen und morgens bis zehn oder elf zu schlafen. Anfangs dachte ich mir nichts dabei und schob es auf die Strapazen der Reise, doch nach einer Weile wurde ich misstrauisch. Er war schon oft auf Reisen gewesen und immer hatte er schnell wieder ins Alltagsleben zurückgefunden. Doch diesmal war es anders. Er schien die einfachsten Dinge vergessen zu haben: wie man sich einen Schnürsenkel zubindet, wie man Messer und Gabel hält, wie man sich eine Pfeife anzündet. Und er vergaß Erlebnisse, die uns einmal viel bedeutetet haben. Wie wir uns kennengelernt hatten, unser erstes Rendezvous, unseren ersten Kuss …« Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln. Sie öffnete ihre Handtasche, holte ein Stofftuch heraus und tupfte sie ab.

»Ich kann gut verstehen, wie schlimm ein solcher Gedächtnisverlust für den Ehepartner sein muss«, sagte Humboldt mitfühlend. »Haben Sie Rücksprache mit einem Arzt gehalten?«

»Natürlich«, schniefte sie. »Wir waren sogar an der Charité. Ich nahm Richard unter dem Vorwand einer allgemeinen Gesundheitsüberprüfung mit und ließ ihn von Kopf bis Fuß untersuchen. Er wehrte sich nicht mal dagegen.«

»Und was kam dabei heraus?«

»Nichts. Die Ärzte attestierten ihm die Gesundheit eines jungen Mannes. Nur sein Gedächtnis sei etwas schwach, aber das könne bei Männern um die vierzig schon mal vorkommen, sagten sie. Ich aber wusste es besser.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Art seiner Vergesslichkeit, das war es, was mir Sorgen bereitete. Es waren ja nicht irgendwelche Kleinigkeiten, an die er sich nicht mehr erinnerte. Es waren Dinge, die eine große Bedeutung für ihn hatten. Weg, fort, verschwunden.« Sie schnippte mit dem Finger. »So, als hätte es sie nie gegeben. An andere Dinge erinnerte er sich dafür mit unglaublicher Klarheit. Zum Beispiel wusste er, wie viele Steinplatten auf dem Weg zu unserem Haus liegen und wie viele Seiten unsere Bibliothek umfasst. Überhaupt, Bücher …« Sie steckte das Taschentuch zurück. »Ganze Passagen konnte er mir aufsagen. Wörtlich zitiert und ohne den geringsten Fehler. Dafür wusste er nicht mehr, an welchem Tag sein Geburtstag ist.«

»Vielleicht ist es eine bestimmte Form der Demenz«, warf Charlotte ein. »Eine krankhafte Form der Vergesslichkeit.«

»Das war auch mein erster Gedanke, aber die Ärzte schlossen das kategorisch aus. Sie sagten, dafür sei sein Kurzzeitgedächtnis zu ausgeprägt.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nippte sie an ihrem Wein. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich mich an Sie gewendet habe.«

Charlotte konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Es war bewundernswert, wie sehr sie ihre Gefühle unter Kontrolle hielt.

»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte Humboldt.

Gertrud Bellheim stellte das Glas zurück und sah dem Forscher fest in die Augen. »Ich möchte Sie einladen, mich und meinen Mann am Silvesterabend zu besuchen. Ich habe einige Gäste eingeladen, hauptsächlich Bekannte aus Richards Jugend. Ich möchte ihm das Gefühl vermitteln, umgeben von alten Freunden zu sein. Vielleicht hilft das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Es würde mir viel bedeuten, wenn Sie und Ihre Begleiter kommen könnten. Nicht nur, weil Sie einer seiner ältesten Freunde sind, sondern vor allem, weil Sie den Ruf haben, unerklärlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen.« Sie warf dem Forscher einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ganz recht, ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie scheinen genau der richtige Mann für eine solche Aufgabe zu sein. Selbstverständlich würde ich Ihnen dafür ein angemessenes Honorar zahlen. Was sagen Sie?«

Humboldt lehnte sich zurück, tief in Gedanken versunken. Als er wieder sprach, klang seine Stimme gedämpft. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Um ehrlich zu sein, mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, immerhin ist Richard einer meiner ältesten Freunde. Ich habe das Gefühl, ich würde ihn hintergehen. Trotzdem nehme ich Ihre Einladung an. Was ich heute Abend erlebt habe, gibt mir Anlass zur Sorge. Vielleicht gelingt es mir ja tatsächlich, etwas herauszufinden.«

»Danke. Vielen Dank. Sie ahnen nicht, was mir das bedeutet.«

»Danken Sie mir nicht zu früh. Noch wissen wir nicht, womit wir es zu tun haben. Das Ergebnis ist vielleicht erschreckender, als wir beide uns das zu diesem Zeitpunkt vorstellen können. Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen?«

»Aber gewiss. Was wollen Sie wissen?«

»Welche Augenfarbe hat Ihr Mann?«

Frau Bellheim war einen Moment sprachlos, dann erschien ein amüsierter Zug um ihren Mund. »Braun. Ein warmes, leuchtendes Haselnussbraun.«

»Genau das hätte ich auch geantwortet. Ich erinnere mich sehr genau an seine Augenfarbe, ich habe lange genug ein Zimmer mit ihm geteilt.«

»Und?«

»Die Augen des Mannes da drin sind grün. Strahlend grün.«

Der gläserne Fluch

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