Читать книгу Der gläserne Fluch - Thomas Thiemeyer - Страница 6
ОглавлениеProlog
Westafrika, Oktober 1893 …
Richard Bellheim war nicht leicht zu beeindrucken, dafür hatte er schon zu viel gesehen und zu viel erlebt.
Doch in diesem Augenblick fühlte selbst er sich wie verzaubert.
Die Sonne war hinter der verborgenen Stadt aufgegangen und überflutete die Säulen und Dächer des Tempels mit goldenem Licht. Der sanfte Ostwind vertrieb die Wolkenschleier und ließ die Lehmbauten hervortreten wie eine Fata Morgana. Ein Greifvogel zog weite Kreise darüber, während seine lang gezogenen Schreie in den Schluchten rund um den Tafelberg verhallten. Der Völkerkundler schloss die Augen.
Er hatte es geschafft.
Die Tafelberge von Bandiagara waren ein sagenumwobener Ort. Den Überlieferungen zufolge hatte hier oben einst ein Volk gelebt, das ein unerklärliches Wissen über die Sterne und Planeten besessen hatte. Ein Volk, das auf rätselhafte Weise in dieses Land gekommen und dann wieder verschwunden war. Unzählige Legenden rankten sich darum, manche von ihnen so seltsam, dass sie unmöglich wahr sein konnten. Doch Bellheim war kein Mann, der schnell aufgab.
Ihm eilte der Ruf als bedeutendster Völkerkundler Afrikas voraus, und das aus gutem Grund. Er war weiter gereist und tiefer in die Geheimnisse fremder Völker eingedrungen als je ein Mensch vor ihm.
In der Ferne rechts und links von ihm ragten weitere Erhebungen aus der Ebene. Jede von ihnen mehrere Hundert Meter hoch. Reisende hatten stets mit Ehrfurcht und Zurückhaltung von ihnen gesprochen. Düster und Unheil verkündend sahen sie aus, beinahe wie eine Warnung. Doch der Völkerkundler war zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren. Wenn Angst und Furcht seine Ratgeber gewesen wären, hätte er Berlin vermutlich nie verlassen. Abgesehen davon würde er ja bald heimkehren. Dann ging es nach Hause und zurück in die Hörsäle, wo er dem staunenden Publikum berichten würde, welche Wunder der Schwarze Kontinent beherbergte.
Den Hut weit in den Nacken geschoben, sah er sich erst einmal um.
Feigen und Granatapfelbäume spendeten Schatten und machten das Gehen in der verlassenen Stadt angenehm. Zikaden summten, und hin und wieder flatterte ein Falter durch sein Blickfeld.
Einen Moment lang ließ er den Anblick auf sich wirken, dann marschierte er los. Durch die Umfriedungsmauer, an den verwahrlosten Gärten vorbei und die Stufen hinauf, die zum Haupteingang des Tempels führten. Hier musste er für einen Augenblick pausieren. Die schwere Steintür war fest verschlossen. Fenster gab es keine und so konnte er nur erahnen, was im Inneren auf ihn wartete. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er den Mechanismus entdeckte, mit dem sich die Tür öffnen ließ. Bellheim nahm seinen ganzen Mut zusammen und zog an dem Riegel. Ein tiefes Rumpeln war zu hören. Jahrhundertealter Staub rieselte aus der Türfüllung, als die schwere Steinplatte zur Seite glitt. Kalte, abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Es roch nach Staub und Erde. Ein leichter Blütenduft war zu erkennen, doch das konnte auch Einbildung sein. An solchen Orten spielten einem die Sinne schon mal einen Streich. Der Völkerkundler schlug den Kragen hoch und krempelte seine Ärmel runter.
Das Innere war in ein geheimnisvolles Halbdunkel getaucht. Oben in der Kuppel war ein Loch, das mit einer Scheibe aus durchsichtigem Material verschlossen war. Glas oder Bergkristall vielleicht. Im fahlen Licht, das durch die Öffnung fiel, tanzten Myriaden von Staubteilchen. Seine Augen benötigten eine Weile, um sich an die seltsamen Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Der Tempel war verlassen. Seit Ewigkeiten hatte ihn niemand betreten. Auf dem mit Sand bedeckten Boden wäre jeder Fußabdruck sofort zu sehen gewesen. In der Mitte des Tempels – dort, wo der Lichtstrahl auftraf – erblickte Bellheim eine Aufwölbung. Etwa eins fünfzig breit und einen halben Meter hoch. Sie war größtenteils mit Sand und Staub bedeckt, doch an manchen Stellen war ein feines grünes Schimmern zu erkennen. Es war eine Art Kugel, die im Sand vergraben war, und sie schien von innen heraus zu leuchten. Vorsichtig trat er näher. Das Knirschen seiner Sohlen hallte von den Wänden wider. Wieso nur hatte er das Gefühl, von Dutzenden von Augen beobachtet zu werden? Ein feines Wispern lag in der Luft.
Bellheim ging weiter, bis er die Aufwölbung erreichte. Jetzt war es deutlicher. Unter dem Sand schimmerte etwas Grünes. Er ging in die Hocke und fegte die Kristalle mit der Hand beiseite. Der Untergrund war glatt und glänzend.
Was um alles in der Welt war das?
Eingefasst in schwarzen Onyx mit einem Ring aus Gold in der Erde verankert lag ein grüner Stein, dessen Oberfläche seltsam geschmolzen wirkte. Das Material war transparent, als würde es sich um ein spezielles Glas handeln. Aber Glas war es gewiss nicht. Ein Smaragd vielleicht? Oder ein anderer Edelstein? Vielleicht aus dem Inneren der Erde …
Bellheim hielt den Atem an. Ihm war plötzlich ein verrückter Gedanke gekommen. Was, wenn es sich um den gläsernen Fluch handelte? Der Völkerkundler kannte die Sage aus den Überlieferungen der Dogon, er hatte ihr aber nie viel Bedeutung beigemessen. Doch jetzt stand er hier und dieses Ding lag vor ihm auf dem Tempelboden. Mythos und Wirklichkeit verschmolzen zu einer Einheit. Wenn es tatsächlich stimmte und dies der sagenumwobene Smaragd aus den Tiefen des Weltraums war, von dem in den alten Geschichten die Rede war, dann wäre dies der sensationellste Fund seit dem Schatz des Priamos, den Schliemann Jahre zuvor in Troja gefunden hatte. Ein Objekt, dessen Bedeutung für die Wissenschaft gar nicht zu bemessen war. Es würde ihn weit über die Grenzen von Deutschland hinaus bekannt machen, und nicht nur das: Es wäre ein Schatz, nach dem sich so mancher die Finger lecken würde. Nicht, dass er arm war, aber dieses Ding würde ihn reich machen. Reich, weit über seine kühnsten Vermutungen hinaus.
Bellheim versuchte seine fiebrigen Gedanken zu ordnen. Für einen Transport war der Kristall zu groß, abgesehen davon, dass er fest in der Erde verankert zu sein schien. Aber vielleicht konnte er ja ein Stück davon abbrechen.
Er zog seinen kleinen Geologenhammer aus der Umhängetasche und begann vorsichtig zu klopfen. Ein metallisches Klingeln drang an sein Ohr. Das Material schien unglaublich hart zu sein. Noch einmal schlug er zu, diesmal kräftiger. Wieder nichts.
Er wollte schon aufgeben, als ein fremdartiges Geräusch zu hören war. Es klang wie der Wind in den Bäumen. Wie das Rauschen eines weit entfernten Meeres. Aber hier gab es kein Meer und Wind gab es auch nicht. Die Luft stand still unter der Kuppel.
Bellheim stand auf.
Irgendetwas stimmte nicht.
Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, was es war.
Es war der Boden.
Im schummrigen Licht des Tempels sah er, wie der Sand von lauter grünen Kristallen durchdrungen wurde. Sie krochen umeinander, wuselten hierhin und dorthin, als wären sie lebendig. Bellheim hörte ein feines Knistern begleitet von einem Geruch, den er nur unter Mühen identifizieren konnte.
Es roch verbrannt, wie nach einer elektrischen Entladung.
Er nahm ein paar von diesen Kristallen und hielt sie ins Licht. Die kleinen Körnchen sirrten und tanzten auf seiner Hand, dass ihm vom Zusehen ganz schwindelig wurde. Wunderschön sahen sie aus, wie lebendige Smaragde. So schön, dass er sie am liebsten eingesteckt und mitgenommen hätte.
Mit einem Mal bohrte sich eines der Körnchen in seine Hand. Es brannte und stach, dann war es verschwunden. Nur ein roter Fleck blieb auf seiner Haut zurück. Der Forscher stieß einen Schrei aus und schüttelte seine Hand, aber das Ding kam nicht wieder zum Vorschein. Plötzlich spürte er ein Brennen in den Beinen. Er hob die Füße. Mit Entsetzen sah er, wie die Steinchen seine Stiefel durchdrangen. Immer mehr von ihnen kamen zum Vorschein. Das Leder wurde von Tausenden von nadelfeinen Stichen durchdrungen, bis es ganz dunkel und porös war.
Keuchend und vor Panik wild mit den Armen rudernd sprang er zurück. Er taumelte ein paar Schritte, dann geriet seine Flucht ins Stocken. Seine Füße fühlten sich an, als wären sie festgewachsen. Der Sand kochte regelrecht – fast so, als wäre Bellheim in einen gigantischen Ameisenbau geraten. Er wusste nicht, was schlimmer war: das Brennen, das seine Beine emporkroch, oder die Erkenntnis, dass diese Kristalle tatsächlich lebendig waren.
Mit einem verzweifelten Schrei versuchte er die Tür zu erreichen, aber es war zu spät. Der Sand ließ ihn nicht mehr gehen. Er stolperte, strauchelte und fiel vornüber. Dann schlugen die Wogen über ihm zusammen.