Читать книгу Der gläserne Fluch - Thomas Thiemeyer - Страница 19
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Charlotte konnte ihre Enttäuschung nicht länger verbergen. Oskar war nicht gekommen. Der magische Moment war vergangen und er hatte sie einfach allein stehen lassen. Und dann noch dieser Kommentar ihres Onkels. Hegte er allen Ernstes den Verdacht, sie habe sich in Oskar verliebt?
Lächerlich.
In ihr tobte eine Mischung aus Enttäuschung und Sorge. Was war nur mit dem Kerl los? Manchmal verstand sie ihn einfach nicht. War es wirklich zu viel verlangt, dass er wenigstens an diesem besonderen Moment pünktlich erschien? Oskar war notorisch unzuverlässig, aber jetzt hatte er das Maß überschritten.
Andererseits: Was, wenn es ihm nicht gut ging? Vielleicht sollte sie mal nach ihm sehen.
Sie wollte gerade zurückgehen, als sie eine feste Hand auf ihrer Schulter spürte. »Nein, nicht.«
Es war Humboldt. Sein Gesicht wirkte ernst. »Lass es bleiben.«
Er schien genau zu wissen, was mit Oskar los war.
»Und wenn es ihm schlecht geht? Vielleicht ist ihm übel geworden oder er …«
»Es geht ihm gut.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich es weiß.«
Sie hob die Brauen. »Willst du es mir verraten?«
»Er ist in meinem Auftrag unterwegs.«
Charlotte brauchte einige Sekunden, um sich über die Bedeutung der Worte klar zu werden. »In deinem Auftrag?« Sie zögerte. »Heißt das … Oh nein. Du hast ihn doch nicht zu irgendwelchen krummen Sachen angestiftet?«
»Es dient einem guten Zweck«, sagte der Forscher. »Er soll für mich etwas suchen. Etwas Privates. Etwas, das nur er in dieser kurzen Zeit finden kann.«
»Und wenn er erwischt wird?«
Humboldt blieb die Antwort schuldig.
Charlotte spürte, wie frostige Finger ihr Herz umklammerten.
* * *
»Woher weißt du von dem Meteoriten?« Bellheims Stimme hatte die Härte einer Diamantklinge. Oskar wollte etwas antworten, doch er konnte nicht. Seine Stimme war wie zugeschnürt. Bellheim kam näher. Plötzlich hielt er inne. Ein Ausdruck der Verblüffung huschte über sein Gesicht. Er drehte sich zum Sekretär, starrte einige Sekunden darauf, dann richtete er seine Augen wieder auf Oskar. »Verstehe«, sagte er. »Mein Tagebuch.«
Oskar wich langsam zurück. »Es … es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Oh doch. Ich fürchte, es ist genau so. Pech für dich, mein Junge …« Der Satz brach ab.
Ganz unvermutet.
Bellheim stand in der Mitte des Raums. Stocksteif wie ein Holzpfahl hielt er sein Gesicht zur Decke gerichtet, die Hände zu Fäusten geballt. Die Knöchel traten weiß hervor. Zwischen den zusammengepressten Zähnen kam ein unartikuliertes Zischen hervor. Oskar bekam es mit der Angst zu tun. Hier stimmte etwas nicht. Hatte er einen Krampf oder Anfall?
Er wollte gerade zur Tür rennen, als eine Veränderung mit Bellheim vonstatten ging. Sein Oberkörper zuckte nach vorn, krümmte sich und schnellte dann wieder zurück. Das Gesicht des Völkerkundlers war aufs Äußerste angespannt. Er öffnete seinen Mund zu einem Schrei, aber es kam kein Laut heraus.
Mit Entsetzen sah Oskar, wie der Forscher nach Luft rang. Ein merkwürdiges Rascheln und Knacken war zu hören, als würde irgendwo etwas verbrennen. Die Luft war erfüllt vom Geruch elektrischer Entladungen. Dann riss der Forscher seinen Mund noch weiter auf. Seine Hände umklammerten seinen Unterkiefer und zogen ihn nach unten. So weit, wie kein normaler Mensch es jemals vermocht hätte.
Oskar war wie gelähmt. Dann schrie er.
* * *
Charlotte hörte den Schrei. Alle hörten ihn.
Es war ein Laut, wie ihn nur jemand ausstoßen konnte, der in größter Panik war.
Die Gespräche erstarben. Irgendwo fiel klirrend ein Glas zu Boden. Alle Blicke zuckten in Richtung Haus.
Hinter der Scheibe im ersten Stock waren tanzende Bewegungen zu sehen. Zwei Personen, die miteinander kämpften.
Humboldt war der Erste, der reagierte.
»Oskar!«
Er packte seinen Gehstock und stürmte durch den Garten zurück in Richtung Haus. Charlotte und Eliza folgten ihm auf dem Fuß. Zu dritt rannten sie die Treppen zum ersten Stock empor. Noch einmal rief er den Namen des Jungen. Keine Antwort. Alles, was sie hörten, war ein Poltern, das aus dem letzten Zimmer am Ende des Flurs drang. Sie eilten in die betreffende Richtung, doch die Tür war verschlossen. Humboldt erhob seine Stimme. »Mach die Tür auf!«
»Ich … kann … nicht.«
Oskars Stimme.
Humboldt fackelte nicht lange. Mit einem vehementen Fußtritt trat er die Tür ein und stürmte in den Raum.
Charlotte folgte ihm.
Der Völkerkundler hatte seine Hände um den Hals des Jungen gelegt. Dessen Füße berührten kaum noch den Boden. Oskar wand sich und zappelte, aber er konnte dem mörderischen Griff nicht entfliehen. Welche Kraft war wohl dazu nötig, einen sechzehn Jahre alten Jungen mit gestreckten Armen vom Boden zu heben?
Eliza hielt ein Feuerzeug an die Lampe. Es gab einen Funken, dann entzündete sich das Gas.
»Beim Jupiter!«
Humboldt wich einen Schritt zurück.
Charlotte schlug die Hände vor den Mund. Eliza stieß einen kleinen Schrei aus.
Was sich im fahlen Schein der Gaslaterne abspielte, war mit Worten kaum zu beschreiben. Bellheims Unterkiefer war heruntergeklappt und hatte etwas freigelegt, das nur mit viel Wohlwollen als Zunge beschrieben werden konnte. Dick wie ein Unterarm und lang wie eine Schlange züngelte das Ding genau auf Oskars Gesicht zu. Es glänzte und glitzerte, als bestünde es aus Glas. An seiner Spitze befanden sich zwei dünne, tastende Borsten, die genau auf Oskars Nasenlöcher zielten. Zu welchem Zweck war völlig unklar. Klar war jedoch, dass eine fremde Kreatur Besitz von Bellheim ergriffen hatte. Und jetzt stand sie im Begriff, Oskar zu übernehmen.
»Macht, dass ihr hinter mich kommt!« Humboldt zog sein verborgenes Rapier aus dem Spazierstock. Mit einem mächtigen Hieb drang er auf den Gegner ein. Die Klinge sauste nieder und hieb die gläserne Schlange in zwei Teile. Mit einem Geräusch, als würde man Wasser auf eine glühende Herdplatte spritzen, fiel das zappelnde Ding zu Boden. Ein unerträglicher Gestank breitete sich aus.
Ein wenig krümmte und zuckte das Ding am Boden herum, dann löste es sich in einer Rauchwolke auf. Nur eine Handvoll Sand blieb übrig.
Bellheim taumelte zurück. Die Hände lockerten ihren Griff, und der Junge plumpste hustend und keuchend zu Boden. Eine Weile rang er nach Atem, dann kroch er aus der Gefahrenzone. Bellheim stand wie angewurzelt auf dem Fleck, dann ging er auf Humboldt los. Sein Gesicht war zu einer furchterregenden Maske verzerrt. Der Mund stand offen, seine Hände waren vorgereckt.
»Lass den Unsinn, Richard«, sagte Humboldt. »Es ist vorbei. Ich habe den Parasiten getötet.«
Doch der Völkerkundler hörte ihn nicht. In seinen Augen leuchtete ein irrsinniges Feuer, während er unbarmherzig auf den Forscher eindrang.
»Bleib stehen. Keinen Schritt weiter.« Humboldt hielt sein Rapier ausgestreckt auf Bellheim gerichtet. Die Spitze berührte dessen Brust. »Richard, bitte.«
Mit Entsetzen sah Charlotte, dass Bellheims Haut sich zu verändern begann. Erst wurde sie blass, dann weiß, schließlich durchscheinend. Nur wenige Sekunden waren verstrichen und der ganze Mann sah aus, als bestünde er aus Glas.
Ein schreckliches Lachen drang aus seiner Kehle. Ein Lachen, das eindeutig nicht menschlich war.
Dann trat er einen Schritt nach vorn.
Die Spitze des Rapiers drang in seine Brust.
Charlotte wollte den Blick abwenden, doch sie konnte nicht. Ihr Entsetzen war so groß, dass sie einfach hinsehen musste. Die Klinge kam mit einem quietschenden Geräusch aus dem Rücken des Mannes wieder heraus.
Und noch immer lachte er.
»Wer bist du?«, stammelte Humboldt. »Was bist du?«
»Ich werde euch anpassen«, stieß das Wesen glucksend hervor, während es sich zentimeterweise durch die stählerne Klinge vorwärtsarbeitete. »Es wird euch gefallen. Schon bald werden wir alle zusammen singen. Versteht ihr? SIIIN…GEN!« Seine Stimme steigerte sich zu einem hellen, gläsernen Kreischen.
Humboldt stieß einen Fluch aus. In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung stemmte er sich nach vorn und drängte den Gegner in Richtung der Fenster. Bellheim, immer noch kichernd und glucksend, hob seine Hände zum Angriff. Charlotte konnte sehen, dass an den Fingerspitzen neue Fühler entstanden, die auf Nase und Ohren des Forschers zu zielen schienen. Humboldt reagierte nicht darauf. Stattdessen schob er mit unverminderter Härte weiter. Mittlerweile waren sie auf der anderen Seite des Raums angekommen. Es gab ein Bersten und Klirren, dann zersprang die Scheibe. Der Forscher legte seine ganze Kraft in den Stoß. Einen wütenden Schrei ausstoßend, drängte er seinen Gegner nach draußen. Doch noch war es nicht vorbei. Bellheim hielt ihn so fest umklammert, dass er mitgerissen wurde. Ineinandergeklammert und verzweifelt miteinander ringend, stürzten die beiden Kontrahenten in den verschneiten Garten. Es gab einen schweren Schlag, dann eilten alle ans Fenster.
Charlotte beugte sich vor und blickte nach unten. Humboldt und Bellheim lagen im Schnee. Der Forscher war angeschlagen. Seine Bewegungen waren müde und langsam. Bellheim hingegen zappelte und kreischte, als stünde er unter Strom. »Kalt!«, schrie er und versuchte aufzustehen, doch Humboldt hielt ihn zurück. Einige der Gäste, die gerade zurück ins Haus drängten, schrien erschrocken auf, als Humboldt und Bellheim zwischen sie stürzten. Erst jetzt bemerkten sie, dass dort ein tödlicher Kampf im Gang war und dass dieser immer noch andauerte.
Atemlos verfolgten die Gäste das zähe Ringen der beiden Gegner. Gertrud Bellheim war die Einzige, die in dem Durcheinander die Nerven behielt. Entschlossen stürmte sie herbei und drang auf die Kontrahenten ein. »Humboldt, Richard, auseinander! Sofort! Was ist nur in euch gefahren? Auseinander mit euch!«
Als Worte nichts halfen, schrie sie: »Ungeheuerlich! Und das am Silvesterabend! Bertram, trennen Sie die Streithähne, aber schnell!«
Der Diener beeilte sich, dem Befehl seiner Herrin nachzukommen, als plötzlich und unerwartet die Kirchenglocken zu läuten anfingen.
In Deutschland war erst seit Kurzem eine einheitliche Zeitrechnung eingeführt worden, daher hatten an diesem Silvesterabend zum ersten Mal alle Kirchenglocken gleichzeitig um Punkt 24 Uhr geläutet. Nur die Schwestern vom Heiligen Blute Jesu in ihrer nahe gelegenen Klosterkirche hatten zunächst im Gebet verharrt und ließen ihre Kirchenglocke erst jetzt das neue Jahr begrüßen. Das Läuten klang, als würde es direkt aus der Nachbarschaft kommen. Laut und dröhnend hallte es zwischen den Hauswänden wider. Die Reaktion war überraschend. Wie von einer ungeheuren Kraft bewegt, flog Humboldt mehrere Meter durch die Luft und landete in einer Schneewehe. Atemlos und am Ende seiner Kräfte blieb er liegen. Bellheim hingegen gebärdete sich, als wäre der Teufel in ihn gefahren. Er presste die Hände auf die Ohren und zappelte und schrie, dass die Anwesenden vorsichtshalber einige Meter zurückwichen. Und dann veränderte er sich. Er schrumpfte, wurde kleiner und löste sich schließlich auf. Immer kleiner wurde er, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig war.
Ungläubiges Schweigen breitete sich aus. Niemand hatte eine Erklärung für das, was soeben geschehen war. Humboldt stand auf, klopfte den Schnee von seinem Mantel und trat zu den anderen. Die Anwesenden bildeten einen Kreis um die Kampfzone. Alle schienen zu warteten, dass Bellheim wieder auftauchen möge. Doch nichts geschah. Von dem Völkerkundler fehlte jede Spur. Weder das verzweifelte Schluchzen seiner Frau noch die erregten Rufe der Gäste konnten daran etwas ändern. Irgendwann erschien die Gendarmerie und dehnte die Suche auf die umliegende Nachbarschaft aus. Doch was immer sie taten, es blieb ohne Ergebnis.
Richard Bellheim blieb verschwunden. Allen, die ihn an diesem Neujahrsmorgen des Jahres 1894 zum letzten Mal sahen, war klar, dass er nie zurückkehren würde.