Читать книгу Der gläserne Fluch - Thomas Thiemeyer - Страница 8
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Berlin, zwei Monate später …
Klirrende Kälte drang von draußen in die Schreibstube. Die Fensterscheiben waren mit Eisblumen überzogen, die im Licht der Morgensonne wie Diamanten funkelten. Schneeflocken tanzten am Haus vorbei, landeten auf Ästen und Zweigen und überzogen die antiken Statuen in Humboldts Garten mit weißem Zuckerguss.
Oskar fror. Seine Füße fühlten sich an, als würden sie in der Erde stecken, daran konnte auch das Feuer im Kamin nichts ändern, dessen Knacken und Knistern wie eine entfernte Ankündigung von Silvesterfeuerwerk klang. Vor ihm lag ein Stoß Schreibpapier, links ein Bogen Löschpapier, rechts von ihm stand ein Tintenfass nebst Federkielhalter. Die Hände in fingerlosen Handschuhen steckend, saß er da, presste die Zähne zusammen und versuchte, dem Unterricht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
Heute Morgen stand Latein auf dem Programm. Ein Fach, mit dem Oskar schon an normalen Tagen seine Probleme hatte. Doch heute war kein normaler Tag. Heute war Heiligabend.
Er erinnerte sich, dass sie im Waisenhaus an diesem Tag immer Lieder gesungen und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen bekommen hatten. Natürlich waren da auch Fräulein Braunsteins Haferkekse gewesen. Trockene, harte Taler, bei denen man das Gefühl bekam, man hätte Gips zwischen den Zähnen. Doch in den Jahren danach, als er auf der Straße gelebt hatte, gab es nicht mal die. Als Taschendieb hatte er sich weder Tannenbaum noch Kerzen oder Geschenke leisten können. Der einzige Unterschied zu normalen Tagen bestand darin, dass er etwas mehr abgreifen konnte, weil die Leute unaufmerksam und ihre Taschen voller Geld waren.
Wenn man es recht betrachtete, so war das heute sein erster richtiger Heiliger Abend. Und an so einem Tag wurde von ihnen verlangt zu lernen? Dabei gab es noch so viel zu tun: Einkäufe machen, das Haus in Ordnung bringen, den Baum schmücken, Geschenke verpacken. Die Zeit reichte jetzt schon kaum aus. Es gab zwar kaum einen Tag, an dem kein Unterricht stattfand, aber konnte Humboldt nicht mal eine Ausnahme machen? Gewiss, der Forscher hatte ihn vor wenigen Wochen adoptiert, nachdem sich seine Vermutung, Oskar sei sein leiblicher Sohn aus einer Verbindung mit der Schauspielerin Theresa Wegener siebzehn Jahre zuvor, als sehr wahrscheinlich erwiesen hatte. Er war jetzt sein Vater und gesetzlicher Vormund. Und das ließ er ihn jeden Tag spüren. Oskar löste den obersten Knopf seines steifen Hemdkragens. Er war es gewohnt, seinen eigenen Weg zu gehen. Bis er von Humboldt auf der Straße aufgelesen worden war, hatte er sich immer selbst durchgeschlagen. Er hatte ein armes, aber freies Leben geführt, und es fiel ihm schwer, sich den Regeln und Pflichten in diesem Haus unterzuordnen. Warum hatte der Forscher seine Mutter damals alleingelassen und warum hatte er erst so spät die Suche nach ihm aufgenommen? All das waren Fragen, auf die Oskar bisher noch keine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte. Und jetzt sollte er auch noch Latein lernen. Als wenn er das jemals benötigen würde.
Die eine Hand auf den Rücken gelegt, die andere mit dem Zeigestab kreisförmige Bewegungen vollführend, schritt Carl Friedrich von Humboldt vor seiner Klasse auf und ab. Er deklinierte die Beugung des Substantivs Dominus und tat dies mit einer Stimme, deren gebetsmühlenartige Langsamkeit einen in Tiefschlaf versetzen konnte.
»Dominus, domini, domino, dominium, domine.«
Humboldt drehte sich um, sodass die Dielen unter seinen Stiefeln knarrten. »Domino, domini, dominorum, dominis …«
Die wasserblauen Augen auf den Boden gerichtet, die buschigen Brauen gesenkt, schwang der Forscher seinen Stab wie einen Taktstock. Seine imposante Erscheinung warf düstere Schatten gegen die Wand.
Oskar spürte eine unwiderstehliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Er dachte daran, in was für einen seltsamen Haushalt er hineingeraten war. Am Nachbartisch saß seine Cousine, Charlotte, die Nichte des Forschers. Ihr Federkiel kratzte eifrig über das Papier, während sie jedes einzelne Wort gewissenhaft notierte. Oskar betrachtete ihre gewölbte Stirn, die kleine Nase und die sanften Lippen. Die Wintersonne zauberte einen Schimmer auf ihre blonden Haare und ließ sie wie einen Engel aussehen. Doch der Anblick täuschte.
Charlotte war alles andere als ein Engel. Sie war vorlaut, nachtragend und schnippisch. Eine junge Frau, die genau wusste, was sie wollte und wie sie es bekam. Außerdem musste sie immer das letzte Wort haben. Mochte der Himmel wissen, warum er jedes Mal so blöd grinsen musste, wenn er sie ansah.
Ein paar Tische weiter hockten Bert, Maus, Willi und Lena, seine Freunde, mit denen er auf der Straße gelebt hatte. Der Forscher hatte sie in sein Haus geholt, weil er Oskar beweisen wollte, dass er es gut meinte. Humboldt war gewiss kein Heiliger, aber er hatte ihnen allen eine Chance gegeben, und das war etwas, wofür Oskar ihm dankbar war. Seit seine Freunde hier lebten, war das Haus mit Stimmen und Gelächter erfüllt. Während sie ihren Dienst verrichteten, schlitterten sie lachend und lärmend durch die Flure, ganz so wie die verzauberten Tiere in Hauffs Märchen vom Zwerg Nase. Die Stille und Einsamkeit, die vorher hier geherrscht hatten, waren wie weggefegt. Was hätten sie für einen Spaß haben können, wären da nicht diese strengen Unterrichtsstunden, mit denen Humboldt sie Tag für Tag quälte.
Eliza war die gute Seele des Hauses. Auf Haiti geboren und von dunkler Hautfarbe, war sie des Forschers Gefährtin und Vertraute und stand ihm bei all seinen Abenteuern zur Seite. Eliza verfügte über geheimnisvolle Fähigkeiten, die an Zauberei grenzten. Zum Beispiel konnte sie mit anderen Menschen Verbindung aufnehmen, nur mittels Gedankenkraft. Oskar hatte keine Ahnung, wie sie das anstellte, aber es klappte. Er hatte es mehr als einmal selbst erlebt.
Dann war da noch die Kiwidame Wilma. Auch heute leistete der Vogel den Kindern beim Unterricht Gesellschaft. Er hatte seinen kleinen Sprachtornister umgeschnallt, mit dem sich seine Vogellaute in Worte übersetzen ließen, aber Wilma redete nie viel. Ihr Vokabular war äußerst einsilbig und beschränkte sich meistens auf Befindlichkeiten wie »Hunger«, »Durst«, »müde«, »fröhlich«, »traurig« und so weiter. Nichts, worauf sich eine längere Unterhaltung stützen ließ. Trotzdem: Es war verblüffend, dass ein Vogel überhaupt sprechen konnte. Diese erstaunliche Fähigkeit wurde durch ein besonderes Vitaminpräparat ausgelöst, das Wilma täglich einnahm und das auch ihren natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus veränderte. Statt eines rein nachtaktiven Vogels – so wie ihre Verwandten in Neuseeland – hatte Wilma ihren Schlafzyklus an den der Menschen angepasst. Sie war eine treue Begleiterin und bei allen Abenteuern Humboldts mit dabei.
Das waren alle, die unter diesem Dach wohnten. Ein recht kleiner Haushalt, verglichen mit anderen Häusern Berlins.
Oskar warf seinen Freunden einen verborgenen Blick zu. Sie hatten gerade erst angefangen, Lesen und Schreiben zu lernen, trotzdem durften sie dem Unterricht beiwohnen und versuchen, hinter das Geheimnis dieser schwierigen Sprache zu dringen. Ihr Bildungsstand war noch viel geringer als seiner. Wie schafften sie es nur, trotzdem so interessiert auszusehen? War es Furcht?
Mit Humboldt einen Streit vom Zaun zu brechen, war in etwa so sinnlos wie Feuer mit Öl löschen zu wollen. Der Forscher konnte bei Arbeitsverweigerung ausgesprochen hitzig reagieren. Der Gedanke ließ Oskar lächeln. Vielleicht würde ein ordentliches Feuerchen ja die Kälte aus seinen Gliedern vertreiben. Er wollte gerade seinen Aufschrieb fortsetzen, als er bemerkte, dass ein Tropfen Tinte von seinem Federkiel gefallen und auf dem Notizzettel gelandet war. Die Flüssigkeit zog eine hässliche Spur quer über das geneigte Pult. Ehe sie auf seine Hose tropfen konnte, brachte er blitzschnell seine Beine in Sicherheit. Dabei stieß er mit dem Knie gegen Charlottes Tisch. Es gab ein Rumpeln und ein Poltern, dann fiel das Tintenfass hinab. Die schwarze Flüssigkeit spritzte einen Meter weit über das Eichenparkett.
»Himmel, pass doch auf!« Charlotte sprang auf und blickte entsetzt auf ihr Kleid. »Schau dir das an. Das wollte ich heute Abend tragen.«
Humboldt trat zwischen die beiden und funkelte Oskar streng an. »Was ist denn hier los?«
»Es tut mir leid«, stammelte Oskar. »Ich war in Gedanken. Mir war kalt und ich habe nicht auf meine Schreibfeder geachtet.«
Humboldt musterte die Pfütze am Boden und kräuselte die Lippen. »Hol einen Lappen und wisch das weg. Charlotte, du gehst zu Eliza. Sie weiß am besten, was zu tun ist. Ihr anderen: Es gibt keinen Grund zu lachen. Ich möchte, dass jeder die Deklination des Wortes Domina – Herrin – niederschreibt, und zwar Singular und Plural. Und ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf.«
Oskar holte Eimer und Lappen und begann, die Tinte aufzuwischen. »Müssen wir denn wirklich Deklinationen machen?«, maulte er. »Ich meine, heute ist Heiligabend. Alle bereiten sich auf das Fest vor. Überall herrscht Festtagsstimmung, nur bei uns nicht. Es gibt noch eine Menge Dinge zu erledigen«, ergänzte er schnell, als er die steile Falte zwischen den Brauen des Forschers bemerkte.
»Heiligabend ist keine Ausrede«, erwiderte Humboldt. »Zumindest der Vormittag ist ein Werktag wie jeder andere. Ihr seid nicht die Einzigen, die heute arbeiten müssen. An den Feiertagen erlasse ich euch den Unterricht, aber heute wird bis Punkt zwölf gearbeitet. Und damit Ende der Diskussion.«
Aber Oskar ließ nicht locker. »Können wir denn nicht wenigstens etwas Spannendes machen? Etwas aus dem Bereich Geografie, Biologie oder Chemie? Selbst an der Universität gibt es spezielle Weihnachtsvorlesungen. Hab ich jedenfalls gehört«, fügte er kleinlaut hinzu.
»Was passt dir denn nicht an Latein?«
Oskar tauchte den Lappen in den Eimer und wrang ihn aus. »Es ist so langweilig. Eine tote Sprache, die kein Mensch mehr spricht.«
»Wenn du dich da mal nicht irrst«, erwiderte der Forscher. »Latein ist die Sprache der Naturwissenschaften. Ohne vernünftige Sprachkenntnisse wirst du nie in der Lage sein, die Nomenklatur der Arten korrekt zu lesen oder neue Spezies einzuordnen. Abgesehen davon lassen sich mit Latein alle anderen Sprachen, insbesondere die romanischen, viel leichter erlernen. So, und jetzt weiter im Text.« Er wollte sich wieder der Tafel zuwenden, doch Oskar hatte noch nicht aufgegeben.
»Ich frage mich, wozu wir dann das Linguaphon haben«, sagte er. »Wenn wir die Sprachen dann doch lernen müssen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ich rede von unserem Übersetzungsapparat. Warum sollen wir Sprachen erlernen, wenn wir ein solch fantastisches Gerät besitzen? Es kann jede Sprache übersetzen, sogar solche, die uns bisher noch völlig unbekannt sind. Selbst Wilma hat mit seiner Hilfe das Sprechen erlernt. Warum nicht das Linguaphon benutzen und die gesparte Zeit für andere Dinge einsetzen?«
Humboldt stemmte die Hände in die Hüften. »Das Erlernen einer Sprache kann niemals durch ein technisches Gerät ersetzt werden. Es ist in erster Linie eine Schulung für logisches Denken und strukturiertes Handeln«, erwiderte Humboldt. »Es hilft euch, Klarheit in eure Köpfe zu bringen. Abgesehen davon – was, wenn der Strom ausgeht oder eine Panne eintritt? Technik ist anfällig, besonders in solch entlegenen Gegenden, wie wir sie bereisen. Ihr wollt doch nicht etwa in irgendwelchen Kochtöpfen enden, nur weil ihr versäumt habt, euer Sprachzentrum zu trainieren?« Er reichte Oskar die Hand und zog ihn auf die Füße. »Komm«, sagte er. »Setz dich, damit wir fortfahren können.«
Oskar kam sich vor wie ein Idiot. Wie hatte er nur annehmen können, einen Schlagabtausch mit seinem Vater zu gewinnen? Humboldt war ein Mann, der gewohnt war zu bekommen, was er wollte, ein geborener Sieger. Es lag in seiner Natur zu gewinnen. Genau wie in der seines Vaters, des berühmten Naturforschers Alexander von Humboldt. Vorausgesetzt, man nahm die Behauptungen des Forschers über seine Herkunft für bare Münze.
Oskar räumte Eimer und Lappen weg, ging zum Tisch zurück und rutschte wieder auf seinen Platz. Er hatte gerade entschieden, diesen Heiligen Abend zu einem der schlechtesten seines Lebens zu erklären, als ein heftiges Pochen an der Haustür zu hören war.
Humboldt zögerte, blickte hinaus, dann verließ er den Raum. »Hat man denn nicht für eine Minute Ruhe in diesem Haus?«