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Pyramiden sind aus Brot gebaut
ОглавлениеGroße Bauvorhaben führen große Menschenmassen zusammen. Diese Menschen arbeiten über längere Zeiträume ausschließlich an diesen Projekten, sie haben keine Zeit, sich um die Beschaffung und Zubereitung des Essens zu kümmern. Daraus entsteht die Aufgabe, sie angemessen zu verpflegen und sich um die Beseitigung der Abfälle zu kümmern. Alle Großprojekte – wie der Bau der Pyramiden, die Flussregulierung und Bewässerung im Vorderen Orient oder der Aufbau der großen Tempel in Ägypten und im Zweistromland – mussten sich dieser Aufgabe stellen. Die Ernährung der vielen Arbeitenden konnte nur durch organisierte Gemeinschaftsverpflegung sichergestellt werden. Antiken Überlieferungen zufolge sollen schon an der vergleichsweise bescheidenen Stufenpyramide in Sakkara 100.000 Menschen 30 Jahre lang gearbeitet haben. Dann wären die viel größeren Pyramiden, die mit den Pharaonen Chephren und Cheops in Verbindung gebracht werden, tatsächlich ein Weltwunder. Auch wenn man heute von einer realistischeren Zahl von 10.000 Arbeitern ausgeht, wird das Wunder nicht kleiner.
Das Weltwunder der Pyramiden besteht nicht nur darin, dass die Ägypter einige Millionen Tonnen Steine verbauten, sondern dass sie die Menschenmassen, welche die Steine schleppten, bearbeiteten und auftürmten, überhaupt ernähren konnten. Anders als mit einer strengen Bewirtschaftung der Nahrungsressourcen und einem durchdachten Verpflegungssystem wäre diese Aufgabe nicht zu lösen gewesen. Aber die Ägypter lösten sie! Neueren Berechnungen zufolge wurden zur Beköstigung der Pyramidenarbeiter jeden Tag 21 Rinder und 23 Schafe herangeschafft. 1988 fand man in Oberägypten die Reste einer Bäckerei und einer Brauerei. Wo Getreide zum Backen war, gab es meist auch Getreide zum Brauen. Die Bäckerei hatte sechs Backöfen aus Lehm. Sie stammten aus der Zeit vor der ersten Dynastie der Pharaonen – um 3500 v. Chr. Großbäckereien wie diese entstehen nicht zufällig und nicht aus dem Nichts. Sie sind Teil einer wirtschaftlichen Infrastruktur, die einem höheren Zweck diente.
Getreidebrei, Bier und Brot waren die Grundnahrungsmittel der Ägypter. Getreide ließ sich gut aufbewahren; ausreichende Vorräte sicherten die Kontinuität der Versorgung. Brei konnte man schnell zubereiten, Brot war haltbar, verdarb nicht so schnell und war so beliebt, dass es den Ägyptern in der antiken Welt den Ruf einbrachte, ein Volk von Brotessern zu sein.
Die Ägypter waren die Ersten, die mit den Backhefen umzugehen wussten. Sie lernten, gesäuerte Brote zu backen, das heißt einen Teig zu machen, der ‚gehen‘ musste. Und sie bauten Backöfen, die hohe Hitze entwickelten, wodurch die Feuchtigkeit des Teiges sofort verdampfte und die Krustenbildung verzögert wurde. Das Brot der Ägypter war nicht mehr der gebrannte Getreidebrei, sondern ein ganz neues Nahrungsmittel, das erste synthetische Produkt, das in der Natur so nicht vorkam. Und es war vorzüglich für die Verpflegung großer Menschenmassen geeignet. Ohne Übertreibung kann man sagen: Der unscheinbare Backofen aus Lehm war es, der das Wunder der Pyramiden erst möglich gemacht hatte. Der Backofen, das Bier und die Verpflegungslogistik der Ägypter – sie sind das eigentliche Weltwunder. Die Pyramiden sind aus Brot gebaut.
Miniaturmodell einer altägyptischen Küche (Handwerker beim Mahlen, Backen und Brauen), Holz, Mittleres Reich (12. Dynastie, 2000–1800 v. Chr.), Berlin, Ägyptisches Museum