Читать книгу Schlusspfiff - Thorsten Fiedler - Страница 10
FÜNF
ОглавлениеEs war wirklich ein gebrauchter Tag und Hessberger litt noch immer unter den Nachwirkungen seines Äppler-Exzesses. Genau deshalb brauchte er gegen Abend ein paar Leute um sich herum, die nicht über Tote, Drogen, Überfälle oder Vermisste sprachen, sondern einfach nur über Fußball und am allerbesten über den OFC. So entschloss er sich, kurz in der Kickerskneipe „Zum Bieberer Berg“ vorbei zu schauen. Diese Lokalität war ein Phänomen, denn die Kultgaststätte feierte schon 100-jähriges Bestehen. Die Wirtin, Lieselotte Hühne, stand mit ihren Töchtern, Elke und Heidrun, hinter dem Tresen und nicht selten mussten sie die Kickers-Fans mittels ihres unübertroffenen Hackbratens bei schlechten Spielen oder Niederlagen trösten. Was auch immer gelang.
Hessberger liebte die Atmosphäre dieses kultigen Treffpunkts der Fans. Die Fahnen und Wimpel an den Wänden zeugten von den vielen Erfolgen, leider vergangener Tage. Es schwebte ein Hauch von Nostalgie in den gemütlichen Räumen und hier wurden schon viele Entscheidungen von Schiedsrichtern diskutiert, die seltsamerweise immer zu Ungunsten der Kickers ausgefallen waren. In diesem Punkt war sich die Fanszene komplett einig.
Heute brauchte Hessberger Trost und vor allem eine Riesenportion Hackbraten mit Bratkartoffeln. Er saß noch nicht richtig auf seinem Stuhl, da hatte er schon sein Essen und ein großes Pils bestellt. Als er das Bier mit der herrlichen Schaumkrone vor sich stehen hatte, spürte er bereits eine deutliche Besserung seiner Laune.
Elke setzte sich dazu und legte den Arm um ihn. „Na, Adi, du scheinst mir heute besonders gestresst zu sein.“
„Da hast du recht. Heute ist nicht mein Tag, sondern einer, den man noch nicht einmal einem Frankfurter wünscht“, sagte Hessberger mit einem Zwinkern. „Wir haben eine Leiche auf dem Sportplatz der Gemaa Tempelsee gefunden und keine Ahnung, wer das Opfer ist. Wir kennen weder Motiv noch den Tatort, und es gibt keinen Ansatzpunkt, den wir verfolgen könnten.“
„Trink erst mal dein Bier, dann gibt es leckeren Hackbraten und du wirst sehen, gleich sieht die Welt schon wieder anders aus.“
Als das zweite Bier kam, fand Hessberger den Tag schon gar nicht mehr so gebraucht wie noch vor einigen Minuten. Dies war auch der Augenblick, an dem er darüber sinnierte, wie gut ihm seine zentrale Wohnlage gefiel, denn er konnte locker noch ein paar Bierchen trinken, da es bis zu ihm nach Hause nur ein fünfzehnminütiger Fußweg war. Als dann der Hackbraten kam, löste sich die Anspannung des stressigen Tages und er genoss jeden einzelnen Bissen seiner Lieblingshausmannskost.
Gegen 18.00 Uhr betrat Sina Fröhlich das Lokal. „Kann ich auch ein großes Pils bekommen?“
Das mochte Hessberger an ihr, kein bisschen affektiert, trinkfest und dazu noch gut gelaunt. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. „Wollen wir über unser Mordopfer reden oder hast du für heute genug von unaufgeklärten Fakten?“
„Ich bin extra hierhergekommen, um nicht über die Arbeit zu sprechen, sondern über ganz profane Dinge wie zum Beispiel Fußball.“
„Da trifft es sich ja prima, dass wir den Toten auf einem Fußballplatz gefunden haben, da können wir Berufliches und Privates hervorragend verbinden“, scherzte Sina.
„Also gut, du Nervensäge, was möchtest du loswerden?“
„Vielleicht lachst du mich ja aus, aber ich habe ein ungutes Gefühl, so als ob uns dieser Mordfall noch lange beschäftigen wird.“
Schlagartig verließ Hessberger seine inzwischen wiedergefundene, gute Laune. „Wie kommst du zu solchen Hirngespinsten? Wir haben einen Toten, sicher, aber das kam schon öfter vor.“
Ihre Diskussion wurde jäh durch einen Telefonanruf unterbrochen, denn Sina Fröhlich hatte Rufbereitschaft. Sie nahm das Gespräch an.
„Hallo Sina, hier ist Rüdiger. Wir haben eine neue Leiche und jetzt halt dich fest! Weißt du, wo die liegt?“ Hessberger hörte sie ungläubig ins Handy sprechen: „Wirklich? Ich glaub es einfach nicht.“ Sie beendete den Anruf.
„Was ist los?“, fragte Hessberger wissbegierig.
„Sie haben eine zweite Leiche gemeldet.“
„Doch nicht schon wieder in Tempelsee?“
„Nein, aber nicht schlecht geraten, das Opfer liegt auf einem anderen Fußballplatz und zwar wieder im Mittelkreis. Ich glaube es war ein Ritualmord, oder hast du vielleicht schon viele Tote auf dem Mittelkreis eines Fußballplatzes gefunden?“
Hessberger schaute sie lange an und sagte dann: „Du liest einfach zu viele Krimis. Im wirklichen Leben hat vieles mit dem Zufall zu tun. Wahrscheinlich wollte der Täter das Opfer hinter dem Sportplatz vergraben und ist durch einen Spaziergänger gestört worden. Da hat er dann die Leiche einfach schnell abgelegt und hat sich aus dem Staub gemacht.“
„Glaubst du das wirklich? Zufällig fällt das Opfer genau auf den Mittelkreis? Da glaube ich schon eher, dass die Kickers in ein paar Jahren wieder in der Bundesliga spielen.“
„Siehst du, jetzt fängst du langsam an, wieder vernünftig zu werden. Natürlich spielt der OFC bald wieder im bezahlten Fußball.“
Sina konnte es sich nicht verkneifen, noch einmal zu sticheln: „Wieso, zählt die Landesliga jetzt schon zum bezahlten Fußball? Aber jetzt mal im Ernst, hast du nicht auch mit dem Gedanken gespielt, dass noch mehr hinter diesem Mord stecken könnte?“
„Ich meine, wir sollten nicht anfangen zu spekulieren, sondern uns den Tatsachen widmen“, sagte Hessberger. „Wo müssen wir eigentlich hin?“
„Du schon gar nicht, denn heute ist dein freier Abend, ich fahre mit Salzmann hin.“
„Nichts da! Ich komme natürlich mit, also wo ist der Fundort?“
„Im Sportzentrum Rosenhöhe.“
„Auch das noch! Du musst übrigens fahren, denn ich habe schon einige Bierchen intus.“
Schweigend fuhren sie am Bieberer Berg vorbei, ignorierten den Blitzer am Leonard Eißner-Park und in einer rekordverdächtigen Zeit erreichten sie um kurz nach 19.00 Uhr den Parkplatz des Sportzentrums Rosenhöhe. Die Anlage gehörte zu den größten im Einzugsgebiet Offenbach und somit mussten beide noch einen kleinen Fußmarsch zurücklegen, bevor sie auf ihre Kollegen trafen.
„Was habt ihr für uns?“
„Ein Toter, circa 50 Jahre alt, liegt im Mittelkreis des Rasenplatzes. Er hatte keine Papiere bei sich, aber wahrscheinlich handelt es sich um einen unserer Vermissten.“
„Wie kommst du darauf, wenn er doch keine Ausweise dabeihat?“
„Schaut es euch selbst an!“
Sie gingen über den gepflegten Rasenplatz bis zum Mittelkreis und plötzlich sahen Hessberger und Fröhlich, worauf der Kollege anspielte, denn der Tote vor ihnen hatte nur ein Bein.
„Das ist Lothar Wohlfahrt aus Obertshausen“, rief Hessberger aus. „Na super, jetzt können wir mit Fug und Recht behaupten, dass wir ihn gefunden haben. Wo bleibt eigentlich der Pelzer, kriegt der wieder mal seinen fetten Arsch nicht bewegt?“
„Das habe ich gehört“, sagte der deutlich missgelaunte Otto Pelzer, welcher unvermittelt hinter Hessberger auftauchte.
„Jetzt spiel hier nicht den Beleidigten, sondern sieh zu, dass du uns irgendetwas Brauchbares lieferst.“
„Sag mal, hast du getrunken? Du riechst, als hättest du dir Bier über die Klamotten geschüttet, statt es zu trinken.“
„Lamentier nicht rum, sondern fang an, dein Geld zu verdienen … Also, was ist dein erster Eindruck?“
„Wie es aussieht, wurde das Opfer mittels eines spitzen Gegenstandes wahrscheinlich an der Lunge verletzt und ist dann erstickt oder verblutet, mehr weiß ich leider erst nach der Obduktion. Aber die Parallelen zum ersten Opfer sind offensichtlich, zumal unser Opfer auch etwas kartonähnliches im Mundraum stecken hat …“
„Allerdings kam das Opfer nicht vom Joggen“, merkte Hessberger leicht gereizt an.
Dr. Horst Pelzer schaute dem Hauptkommissar lange in die Augen und sagte dann: „Wie es scheint, haben wir es mit einem Serienmörder zu tun.“
Hessberger widerstrebte diese Vorstellung. „Nach zwei Todesfällen kann man wirklich noch nicht davon reden, dass da draußen einer rumläuft und serienweise Menschen umbringt. Aber wie dem auch sei, wir müssen jetzt erst einmal Frau Wohlfahrt bitten, den Toten zu identifizieren, obwohl ich mir sicher bin, dass hier ein Irrtum ausgeschlossen ist. Allzu viele einbeinige Vermisste sind ja nicht bei uns gemeldet.“
Fröhlich und Hessberger machten sich also zum zweiten Mal auf den Weg nach Obertshausen. Angehörigen eine Todesnachricht zu überbringen, war jedes Mal aufs Neue schlimm.
„Bleib du im Auto“, sagte Hessberger. „Das müssen wir uns nicht beide antun. Ich beeile mich und dann fahren wir mit ihr zur Gerichtsmedizin. Ruf doch schon mal an, dass wir in etwa vierzig Minuten dort sind.“
Sina kannte die Alleingänge ihres Chefs schon zur Genüge, aber sie war auch nicht besonders scharf darauf, die Überbringerin schlechter Nachrichten zu sein.
Kurz darauf stand Hessberger vor der Tür und Frau Wohlfahrt öffnete ihm. Man konnte ihr die Panik im Gesicht ablesen. Vorsichtig eröffnete der Kriminalhauptkommissar ihr, dass sie zur Identifizierung eines Unbekannten mit in die Gerichtsmedizin fahren müsse.
„Ist er tot, mein Lothar? Sagen Sie es mir, Herr Kommissar, muss ich einen Toten identifizieren?“
„Wir haben keine Papiere gefunden und können es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.“
Noch während er diesen Satz über die Lippen brachte, fing sie hysterisch an zu schreien und schlug wild um sich. Hessberger wollte sie festhalten, da riss sich Frau Wohlfahrt mit einem Ruck los, stolperte und fiel rückwärts mit dem Kopf gegen die Marmor-Fensterbank. Blut strömte aus einer Wunde am Kopf und als sich Hessberger über sie beugte, spürte er keinen messbaren Puls. Er riss die Tür auf und schrie Richtung parkendes Auto: „Sina, ruf einen Krankenwagen! Sie sollen sich beeilen!“
Sekunden später, nachdem Sina den Rettungswagen angefordert hatte, rannte sie zum Haus und sah, wie ihr Kollege versuchte, die Blutung aus der Kopfwunde zum Stillstand zu bringen.
„Was ist denn hier passiert?“, hörten sie plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. „Was haben Sie mit Frau Wohlfahrt gemacht?“
Es handelte sich wohl um einen Nachbarn, der skeptisch zu den Kommissaren herübersah.
In diesem Moment kamen die Sanitäter hereingestürmt und kümmerten sich um die Schwerverletzte.
Hessberger sah furchterregend aus mit seinen blutdurchtränkten Klamotten.
Der Nachbar näherte sich Hessberger und rümpfte die Nase. „Sie haben getrunken und Frau Wohlfahrt im Suff erschlagen.“
„Sie ist gestolpert und unglücklich gefallen.“
„Das können Sie mir nicht weismachen, vor allem mit dem ganzen Blut am Körper … zudem stinken Sie nach Alkohol … Ich werde das bei der Polizei anzeigen.“
„Ich bin die Polizei!“, echauffierte sich der sichtlich genervte Hessberger.
„Das werden wir ja sehen, auf jeden Fall werden Sie mich noch kennenlernen.“
Hessberger verlor die Kontrolle. „Noch ein Wort und ich polier dir die Fresse!“, schrie er, ohne auch nur ein bisschen nachzudenken.
Sina drängte sich gerade noch dazwischen, konnte den wütenden Hauptkommissar jedoch kaum bändigen. Zuviel Alkohol, der Sturz der Frau und dann noch dieser Lackaffe brachten das Fass zum Überlaufen. „Wer sind Sie überhaupt?“, schrie Hessberger.
„Staatsanwalt Dr. Jochen Reimers. Das Ganze wird ein böses Nachspiel für Sie haben!“ Mit diesen Worten verließ er das Haus.
„Oh je, das war aber ein Eigentor“, sagte Sina zu ihrem Kollegen, der so langsam seine Fassung wiedergewann.
„Ich kann doch nicht ahnen, dass hier auf einmal ein Staatsanwalt reinschneit.“
„Das nicht, aber du musst dich auch nicht wie die Axt im Wald aufführen, nur weil etwas schiefgelaufen ist. Was ist überhaupt passiert?“
„Alles ging so schnell, dass ich es mir kaum selber erklären kann. Ich wollte die Frau nur beruhigen, dabei ist sie vollkommen ausgetickt. Dann hat sie sich von mir losgerissen, ist gestolpert und mit dem Kopf auf der Fensterbank aufgeschlagen.“
„Ist jetzt nicht mehr zu ändern. Also lass uns ins Revier fahren und den Bericht fertigmachen. Wir können nur hoffen, dass es Frau Wohlfahrt schnell wieder besser geht.“
Zunächst fuhren die beiden ins Stadtkrankenhaus, um sich dort bei den Ärzten über das Befinden von Frau Wohlfahrt zu erkundigen. Erst nach über einer Stunde konnten sie den zuständigen Arzt sprechen, der den Zustand der Patientin zwar als sehr kritisch bezeichnete, aber zu detaillierteren Aussagen ließ er sich nicht hinreißen. So machten sie sich im Anschluss wieder auf den Weg zur Dienststelle.
Als sie um 21.30 Uhr im Büro eintrafen, kam der direkte Vorgesetzte von Hessberger, Polizeirat Klaus Peter Thalbach, auf sie zu und sagte: „Kommen Sie bitte mit in mein Büro!“
Hessberger konnte schon am Blick seines Chefs erkennen, dass es keine Einladung auf Kaffee und Kuchen werden würde.
Thalbach ließ sich die gesamte Geschichte – von den Morden bis hin zum Vorfall im Hause des Vermissten – berichten. Erst dann schaute er Hessberger mit ernstem Blick an und sagte: „Sie sind deutlich über das Ziel hinausgeschossen und haben sich mit Staatsanwalt Dr. Reimers angelegt … Mit dem ist nicht gut Kirschen essen! So leid es mir tut, aber Reimers macht Sie für die schweren Verletzungen der Frau verantwortlich und hat einen Haftbefehl gegen Sie erwirkt. Dazu kommt noch Trunkenheit im Dienst, Beleidigung und tätlicher Angriff auf einen Staatsanwalt. Aufgrund seiner massiven Beschwerde werden Sie vorerst vom Dienst suspendiert. Leider ist das noch nicht das Schlimmste, denn zur Aufklärung des Sachverhaltes wurde angeordnet, dass Sie nach Frankfurt in Untersuchungshaft kommen und dass vorher noch ein Alkoholtest bei Ihnen durchgeführt wird.“
„Das ist doch nicht wirklich ihr Ernst? Da draußen läuft ein Serienmörder frei herum und dieser Idiot von Staatsanwalt setzt mich Schachmatt aufgrund persönlicher Befindlichkeiten.“
„Die Suppe haben Sie sich leider selber eingebrockt und dabei auch noch mich und unsere Dienststelle mit reingezogen. Geben Sie mir jetzt Ihre Waffe und den Dienstausweis und dann können wir nur noch hoffen, dass der Alkoholtest sich nicht nachteilig für Sie auswirkt und dass es der Frau bald wieder besser geht.“
In diesem Moment kamen zwei Beamte herein, die sich sichtlich unwohl dabei fühlten, einen der ihren abzuführen.
„Wollt ihr mir vielleicht auch noch Handschellen anlegen?“
„Uns macht das auch keinen Spaß, also komm einfach mit und lass es uns schnell über die Bühne bringen!“
Das Polizeipräsidium verfügte zwar über eine gewisse Anzahl von Ausnüchterungszellen, aber die Dienstvorschrift besagte, dass man nicht gegen die eigenen Kollegen ermitteln darf und somit brachten sie Hessberger in einem Dienstfahrzeug in die ungeliebte Stadt auf der anderen Mainseite. Mit der dort ansässigen Kriminalpolizei arbeitete man in solchen Fällen wie dem vorliegenden schon seit Jahren zusammen.
Hessberger hatte sich in der Zelle kaum auf die Pritsche gesetzt, als schon ein Arzt vorbeikam, um ihm Blut abzunehmen. Danach schloss sich die Zellentür. Das hätte er sich in seinen krassesten Träumen nicht vorstellen können, dass er jemals hier landen würde. Viele Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum: Muss ich mir einen Rechtsanwalt nehmen? Kann mir der Unfall von Frau Wohlfahrt zur Last gelegt werden? Wie fällt der Alkoholtest aus?
Aber wenn er schon mal hier lag, konnte er sich auch eine Mütze voll Schlaf gönnen. Und schon wenige Augenblicke später fielen ihm die Augen zu.