Читать книгу Schlusspfiff - Thorsten Fiedler - Страница 13
ACHT
ОглавлениеEr öffnete die Augen, aber es war alles schwarz.
Ich kann nichts mehr sehen, dachte er.
Die Luft war extrem stickig und es war so eng, dass er vor lauter Platzangst eine Panikattacke bekam. Die Hände waren so stramm befestigt, dass es wirkte, als seien sie festgetackert. Mit dem Kopf versuchte er, sich ein Stückchen nach oben zu tasten, stieß aber sofort auf einen Widerstand.
Ich stecke in einem Sarg!, schoss es ihm durch den Kopf.
Die Angst raubte ihm fast die Sinne und er hoffte verzweifelt, dass alles nur ein Traum sei. Alle Versuche, sich selbst zu beruhigen, waren komplett erfolglos. Was war nur geschehen, dass jemand ihn auf diese Weise festhielt?
Die Warnung …!, dachte er plötzlich. Ich hielt es für einen Witz, doch leider ist es grausame Realität. Warum habe ich nicht die Polizei eingeschaltet?, überlegte er, während er immer stärker nach Luft rang.
Plötzlich wurde er jäh geblendet, denn der Deckel über seinem Gesicht hob sich. Er schaute in ein Augenpaar, das ihn eiskalt fixierte.
Durch den Lichteinfall konnte er aus den Augenwinkeln seine Hände sehen und das Grauen raubte ihm fast die Sinne. Seine Hände waren quasi auf dem Holzboden festgeschraubt. Das erste, was er dachte, war: Warum habe ich keine Schmerzen?
Dann schloss sich der Deckel und die Dunkelheit breitete sich um ihn herum aus.
Gegen 21.00 Uhr klingelte es bei Hessberger an der Haustüre. Als Sina hereinkam, die ihren Besuch kurz zuvor per Telefon angekündigt hatte, umarmte er sie fest und es schien, als wollte er sie gar nicht mehr loslassen.
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich auf seine Couch. Er bot ihr ein Offenbacher Bier an, aber sie wollte nur Wasser trinken, da sie immer noch Bereitschaft hatte.
„Danke, dass du so viel für mich getan und sofort an den Anwalt gedacht hast.“
„Ehrensache! Aber ehrlich gesagt, habe ich nicht geglaubt, dass sie dich so schnell wieder rauslassen. Immerhin ist ja der Frankfurter Staatsanwalt kein ausgewiesener Fan von dir.“
„Ja. Roland Hartwig ist schon ein genialer Rechtsanwalt und er hat sich tüchtig ins Zeug gelegt, sodass ich nur so lange wie unbedingt notwendig in der Stadt der Unaussprechlichen verbringen musste.“
„Aber wie soll es jetzt mit unserem Serienmörder weitergehen und was passiert, falls er wieder zuschlägt?“
„Was hältst du davon, wenn ich ein wenig im Hintergrund recherchiere und wir uns gegenseitig auf dem Laufenden halten?“
„Du weißt schon, dass es mächtig Ärger gibt, wenn das rauskommt? Ich glaube nicht, dass die Ermittlungsbehörde oder Polizeirat Thalbach von dieser Art Undercover-Einsatz begeistert sein werden.“
„Da hast du natürlich recht, aber wer soll es ihnen denn schon sagen? Wir bestimmt nicht!“
„Meinst du, wir sollten Rüdiger auch mit ins Boot holen? Auf jeden Fall brauchen wir Seli auf unserer Seite. Über sie laufen fast alle Telefonate. Ich denke mal, die beiden würden uns auf jeden Fall unterstützen.“
Danach philosophierten sie noch eine ganze Weile über diese schrecklich aus dem Ruder gelaufene Angelegenheit. Dabei hielt Sina die ganze Zeit Adis Hand und er mochte sich überhaupt nicht mehr von ihr trennen.
Beim Abschied gegen 23.30 Uhr nahm sie ihn in den Arm und er spürte, wie er anfing auf ihren warmen Körper zu reagieren. Sie schaute ihm tief in die Augen und ihre Lippen näherten sich unaufhaltsam seinem Mund. Sein ganzer Körper vibrierte bei dem Gedanken, wie sehr er sich dieses Szenario im Traum immer wieder vorgestellt hatte.
Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn vom ersten Kuss …
„Rrrring!“
Das Handy seiner Kollegin klingelte laut und tötete sofort jegliche romantische Schwingung zwischen den beiden.
„Fröhlich“, hörte er sie sagen, gefolgt von einem beklemmenden Schweigen. „Bin schon unterwegs.“
„Was ist passiert?“, fragte Hessberger.
„Sie haben eine neue Leiche gefunden und zwar auf dem Sportplatz beim VFB Offenbach. Der Tote liegt auf dem Mittelkreis und wie es aussieht, war es wieder unser Täter. Ich muss los und mir mit Rüdiger den Tatort ansehen. Du weißt ja, dass ich faktisch jetzt das Kommando habe, seit du suspendiert bist.“
Und schon sah Hessberger sie aus seiner Haustür stürmen.
Was wäre wohl passiert, wenn nicht ausgerechnet in diesem Augenblick das Telefon geklingelt hätte? Oder war es nicht vielleicht sogar gut? Private Verquickungen im Dienst – gab es Schlimmeres? Belastend und der Liebe und Libido eher abträglich. Das wusste jeder.
Furchtbar war nur der Umstand, dass er zur Tatenlosigkeit verurteilt war und dass es nicht abzusehen war, wann er wieder ins Geschehen eingreifen konnte. Wenn er schon nicht mitspielen durfte, dann konnte er sich wenigstens ein eiskaltes Bier gönnen. Irgendwie musste nach der verpassten Gelegenheit mit Sina ein Highlight folgen und schon kam ihm der Gedanke, ein wenig Nostalgie in die verkorksten letzten Tage zu bringen. Er ging zum Schrank mit seinen selbstaufgenommenen DVDs und nach ein paar Minuten angestrengten Suchens wurde er fündig. Die Aufschrift auf der DVD lautete ‚Frankfurter Waldstadion‘ mit dem Datum ‚24. August 1974‘. Vor ihm wurden die Bilder lebendig … Auch wenn er damals noch gar nicht auf der Welt war, kam es ihm dennoch vor, als hätte er das Spiel OFC gegen Bayern München live erlebt. Er trank einen großen Schluck von dem eiskalten Offenbacher Bier – seit diese Marke im Handel war, trank er kein anderes mehr – und sah, wie Winfried Schäfer nach neunzehn Minuten das 1:0 für die Offenbacher markierte. Eigentlich sollte es nur eine Frage der Höhe sein, wie die Bayern gegen die mutmaßlich chancenlosen Mannen vom Bieberer Berg gewinnen würden. Zumal mit Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Zobel, Hoeneß und Schwarzenbeck die Crème de la Crème des deutschen Fußballs auf dem Platz stand. Hessberger schaute so gebannt zu, als wäre es ein Live-Spiel und nicht die Aufzeichnung längst vergangener Tage. Da fiel auch schon das 2:0 durch Schwemmle. So ging es Schlag auf Schlag weiter und es sorgten zweimal Erwin Kostedde, Sigi Held und der eingewechselte Egon Bihn für das auch in dieser Höhe verdiente 6:0 für den OFC. Das bayerische Starensemble schien durchaus erleichtert, als Schiedsrichter Ohmsen aus Hamburg die Partie nach 92 Minuten endlich abpfiff. Damit waren die Offenbacher durch den höchsten Bundesligasieg der Vereinsgeschichte zusätzlich noch Tabellenführer, wenn auch nur für kurze Zeit. Ach, was waren das damals für erfolgreiche Zeiten! Leider alles Schnee von gestern oder besser gesagt: von vorvorgestern. Doch auch wenn die erstklassigen Zeiten des OFC der Geschichte angehörten, hätte Hessberger mit keinem Fan eines Bundesligisten oder der zweiten Liga jemals tauschen wollen. Das Motto war klar und eindeutig: Einmal Kickers immer Kickers!