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EINS Sonntag, 04. März 2018, 19.55 Uhr

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Ferdinand Bruch joggte im Regen durch den Waldpark am Bieberer Berg, um die 90 Minuten noch einmal Revue passieren zu lassen. Sein Sonntagsritual nach dem Spiel. Die Bilder liefen wie ein Film in seinem Kopf ab und er konnte jede einzelne Szene immer wieder neu abspielen. Im Prinzip hatten ihn die Zuschauer deutlich ihren Unmut spüren lassen, denn was könnte einfacher sein, als auf den Schiedsrichter zu schimpfen? Und das taten sie auch. Selbst in der Kreisoberliga beim Spiel Seligenstadt gegen Germania Bieber durfte man sich keinen Fehler erlauben. In der 70. Minute hatte er einen Elfmeter gegen die Heimmannschaft gepfiffen. Die Folge war ein gellendes Pfeifkonzert der ungefähr 300 Zuschauer. „Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht!“, war noch der harmloseste Spruch, den er sich hatte anhören müssen. Wenn es ans Eingemachte ging und die Leute brüllten: „Oh, hängt sie auf die schwarze Sau“, dann wurde ihm schon manchmal mulmig zumute.

Heute war es leider eskaliert, denn kurz vor Schluss musste er noch zwei brutal eingestiegene Spieler der Heimmannschaft vom Platz stellen und danach ging es drunter und drüber. Es gab die berüchtigte Rudelbildung – Mannschaften und Betreuer gingen mit Fäusten aufeinander los. Erst als die Polizei mit zwei Einsatzwagen anrückte, konnte er unter Polizeischutz das Gelände verlassen. Die letzten Worte, die er zu hören bekam, ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren: „Wir kriegen dich und dann machen wir dich fertig!“

Auch wenn der dreifache Familienvater, Tierliebhaber und Darmstadt 98-Fan, der sich in seiner Freizeit um die Integration von sozial benachteiligten, jugendlichen Straftätern kümmerte, sehr gerne Schiedsrichter war, konnte er mit solchen Drohungen und Anfeindungen nicht umgehen. Die schlimmste Situation war der anonyme Drohbrief, den er vor Kurzem erhalten hatte. Deshalb war es heute besonders wichtig, zu laufen, um den Stress abzubauen. Seinen Hund, Herodes, der inzwischen drei Jahre alt war, hatte er bei einem Spaziergang in der Nähe des Waldzoos Offenbach gefunden. Der kleine Welpe, der damals im Gebüsch lag, hatte ein Bild des Jammers geboten. Da sich in den darauffolgenden Wochen kein Besitzer gemeldet hatte, päppelte Bruch ihn auf. Der Hund war fortan das sechste Familienmitglied. Dass Herodes ihn bei seinem Lauf begleitete, gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn dieser kein ausgewiesener Wachhund war; selbst einen Einbrecher würde er wahrscheinlich schwanzwedelnd begrüßen. Er freute sich über jede noch so kleine Streicheleinheit.

Bruch wischte sich Schweißperlen von Stirn und Nase. Seit einigen Minuten hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden, aber das lag wahrscheinlich an den unschönen Begleiterscheinungen rund um das heutige Spiel. Die ausgesprochenen Drohungen gegen ihn nahm er stets ernst, obgleich er solche Beleidigungen schon hundert Mal zu hören bekommen hatte.

Auch als er sich erneut umdrehte, konnte er niemanden entdecken, aber bei der Dunkelheit war es auch nicht möglich, mehr als ein paar Meter weit zu sehen. Zudem regnete es schon seit Stunden ohne Unterlass und durch den aufkommenden Bodennebel entstand eine fast gespenstische Atmosphäre. Jetzt bereute er es, diesen Schleichweg durch den Wald, nahe der Schnellstraße B448, genommen zu haben. Aber was sollte schon passieren? Er war schließlich eine stattliche Erscheinung von knapp 1,90 Meter und zur Not auch so sportlich, dass er bei einer drohenden Gefahr schnell und ausdauernd weglaufen konnte. Doch seine Versuche, sich selbst Mut zu machen, wurden bei jedem weiteren Geräusch erfolgloser. Die Angst erfasste seinen ganzen Körper, und der Drang zu rennen, wurde immer größer. Aber es war, als ob eine bleierne Lähmung sich seines Körpers bemächtigte. Etwas berührte ihn an der Schulter und er schrie unkontrolliert los, bis er feststellte, dass es sich nur um einen Ast handelte, der ihn streifte.

Ich muss meine Nerven besser in den Griff bekommen, dachte er bei sich. Jetzt ein Glas Cognac zur Beruhigung. Aber damit würde er noch wenigstens zehn Minuten warten müssen, denn so lange dauerte der Weg bis zu seinem Haus in Tempelsee.

Als ihn ein weiterer Ast leicht im Gesicht streifte, war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Adrenalin schoss ihm unvermittelt ins Blut und plötzlich stürmte er los. Sein Körper schien ihm zu signalisieren: Renn! Renn um dein Leben!

Gemeinsam mit Herodes rannte er so schnell, wie er nur konnte. Der Regen peitschte in sein Gesicht und mit den Händen schützte er sich vor den tiefhängenden Ästen.

Jetzt waren es nur noch ein paar Meter bis zu seiner Gartenpforte und dann erreichte er das vertraute Umfeld seines Hauses. Niemand hatte versucht, ihn zu überfallen oder auszurauben. Glücklich, aber komplett ausgepumpt, schloss er die Gartentür auf und ärgerte sich über sein unkontrolliertes Verhalten. Zum Glück hatte keiner etwas davon mitbekommen.

Was würden seine Frau oder die Kinder denken, wenn sie mitbekämen, wie ängstlich sich der sonst so unerschrockene Ehemann und Vater auf einmal anstellte? Noch mal gut gegangen, dachte er.

Als er das Gartentor schließen wollte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Bevor er reagieren konnte, spürte er einen schmerzhaften Stich im Oberkörper. Es war, als ob seine Lunge sich plötzlich zusammenzog und immer kleiner wurde.

Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein pfeifendes Röcheln zustande. Die Umgebung um ihn herum verschwamm und er glaubte, ein Gesicht zu erkennen. Augen, die ihn aufmerksam beobachteten. Sie wirkten nicht brutal, eher interessiert, als ob es sich hier um einen Tierversuch in einem Labor handele, bei dem man das Objekt in allen Stadien des Versuches genau analysiert.

Doch Bruch verlor immer mehr an Konzentration, weil ihm der notwendige Sauerstoff fehlte. Im Tauchtraining hatte er es schon geschafft, über zwei Minuten die Luft anzuhalten, aber es kam ihm vor, als ob er schon eine Ewigkeit nicht mehr geatmet hätte.

Die Schmerzen in der Brust wurden immer schlimmer und er verlor schließlich die Gewalt über seinen Körper. Er fiel – fast wie in Zeitlupe – mitten in eine tiefe Pfütze und in seinem Mund bildete sich blutiger Schaum. Ihm wurde bewusst, dass er diesen Tag nicht überleben würde.

Er versuchte zu schreien: Herodes lauf weg! Aber er brachte keinen Ton heraus. Warum hatte er der Warnung nicht mehr Beachtung geschenkt – warum nur?

Herodes stand winselnd neben seinem Herrchen, als sich der Mörder zu ihm herunterbeugte.

Schlusspfiff

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