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1. Bedeutung
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Im Bereich des Verwaltungsrechts gibt es sehr häufig Vorschriften, die auf der Tatbestandsseite einen unbestimmten Rechtsbegriff enthalten und auf der Rechtsfolgenseite der Behörde Ermessen einräumen.
Beispiel:
§ 20 Abs. 3 S. 1 BImSchG lautet: „Die zuständige Behörde kann den weiteren Betrieb einer genehmigungsbedürftigen Anlage durch den Betreiber oder einen mit der Leitung des Betriebs Beauftragten untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit dieser Personen in Bezug auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen dartun, und die Untersagung zum Wohl der Allgemeinheit geboten ist.“
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Der Begriff „Unzuverlässigkeit“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; weil der weitere Betrieb untersagt werden „kann“, besteht Ermessen. Normen, die sowohl unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten als auch der Behörde Ermessen einräumen, heißen „Koppelungsvorschriften“ oder Mischtatbestände[78]. Das Problem besteht darin, ob die gerade zuvor dargestellten Lösungen für das Ermessen der Verwaltung einerseits und den unbestimmten Rechtsbegriff andererseits auch im Falle der Koppelungsvorschriften Anwendung finden. Das BVerwG hat dieses jedenfalls einmal behauptet[79]: „Das Vorliegen eines dienstlichen Bedürfnisses für die Versetzung ist als unbestimmter Rechtsbegriff gerichtlich voll nachprüfbar, die daran anschließende Ermessensentscheidung jedoch nur auf Ermessensfehler.“ Das Gericht bejaht in diesem Fall die Möglichkeit genauer Trennung zwischen Erwägungen, die den Tatbestand oder die Rechtsfolge betreffen.
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Dieser Idealfall liegt jedoch nicht immer vor. Es ist zum einen möglich, dass bereits bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs alle für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind; in diesem Fall spricht man vom Ermessensschwund, weil für die Ausübung des Ermessens keine Gesichtspunkte mehr ersichtlich sind[80].
Beispiel:
Nach § 35 Abs. 2 BauGB (Sa. I Nr 300) können sonstige Bauvorhaben im Außenbereich zugelassen werden, wenn ihre Ausführung oder Benutzung öffentliche Belange nicht beeinträchtigt. Wenn dem Bauvorhaben keine öffentlichen Interessen entgegenstehen, verbleiben im Rahmen der Ermessensprüfung lediglich geringe Spielräume für ein Ermessen[81]. Aber auch bei der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB belässt die umfangreiche Prüfung auf der Tatbestandsebene lediglich geringe Spielräume für ein verbleibendes Ermessen[82].
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Es gibt aber auch Fälle, die kennzeichnet, dass der auf der Tatbestandsseite vorhandene unbestimmte Rechtsbegriff in Wirklichkeit das Ermessen in seinem Umfang und Inhalt bestimmt. Eine solche Konstellation ist treffend als „Ermessenssog“ bezeichnet worden[83]. Hier sind Merkmale auf der Tatbestandsseite in Wirklichkeit der Rechtsfolgenseite zuzurechnen und prägen daher das Ermessen.
Beispiel:
Nach § 131 Abs. 1 AO a.F. (idF von 1919)[84] konnten im Einzelfall Steuern erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Normalerweise ist der Begriff „unbillig“ ein unbestimmter Rechtsbegriff; in diesem Fall hat aber der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes[85] entschieden, dass der Begriff „unbillig“ kein Tatbestandsmerkmal sei, sondern das Ermessen präge.
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Wenn der Gesetzgeber ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, so ist es ihm manchmal möglich, entweder einen unbestimmten Rechtsbegriff zu verwenden oder aber Ermessen einzuräumen; unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessenseinräumung sind austauschbar.
Beispiel:
Nach § 99 Abs. 2 BBG (Sa. I Nr 160) ist die Genehmigung für die Durchführung einer Nebentätigkeit eines Beamten zu versagen, wenn zu besorgen ist, dass durch die Nebentätigkeit dienstliche Interessen beeinträchtigt werden. Der Begriff „dienstliches Interesse“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; es besteht kein Versagungsermessen. Dieses Ergebnis wäre auch durch folgende Gesetzesformulierung zu erzielen: Die Genehmigung zur Nebentätigkeit kann versagt werden, wenn …. In diesem Fall ist der zuständigen Behörde Ermessen eingeräumt, welches sie aber nur dann fehlerfrei handhabt, wenn sie die Erlaubnis zur Ausübung der Nebentätigkeit aus dienstlichen Interessen versagt.