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Оглавление§ 10 Das Verwaltungsrechtsverhältnis
I. Begriff
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Das Verwaltungsrechtsverhältnis ist ein Unterfall des Rechtsverhältnisses. Die Kategorie „Rechtsverhältnis“ entstammt der allgemeinen Rechtslehre. Ein Rechtsverhältnis liegt vor, wenn sich aus einem konkreten Sachverhalt auf der Grundlage einer Rechtsnorm eine rechtliche Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder einer Sache ergibt[1]. Rechtsverhältnisse sind bereits aus dem Privatrecht bekannt: So begründet etwa ein privatrechtlicher Vertrag Rechtverhältnisse zumindest unter den Vertragsparteien. Nicht-vertragliche privatrechtliche Rechtsverhältnisse können etwa bei der Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677 ff BGB entstehen. Wenn die Rechtsbeziehung demgegenüber verwaltungsrechtlicher Art ist, handelt es sich um ein Verwaltungsrechtsverhältnis. Auch das Verwaltungsrechtsverhältnis kann vertraglicher Natur sein, muss es aber nicht. Oftmals bestehen spezifische Zusammenhänge des Verwaltungsrechtsverhältnisses mit dem subjektiven öffentlichen Recht; denn aus subjektiven Rechten können Verwaltungsrechtsverhältnisse entstehen, umgekehrt können sie subjektive Rechte begründen[2].
II. Bedeutung
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Die heutige Bedeutung des Verwaltungsrechtsverhältnisses ergibt sich insbes. aus dem Verwaltungsprozessrecht. Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann der Bürger auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines „Rechtsverhältnisses“ klagen[3]. Da auch für die Erhebung einer solchen Feststellungsklage gemäß § 40 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein muss, erfordert dies eine Beschränkung auf Verwaltungsrechtsverhältnisse.
III. Feststellung im Einzelfall
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Da sich das Verwaltungsrechtsverhältnis auf einen konkreten Sachverhalt beziehen muss, ist das allgemeine Staat-Bürger-Verhältnis kein Rechtsverhältnis in diesem Sinne[4]. Ein Rechtsverhältnis entsteht erst, wenn der Bürger zum Staat in eine nähere Beziehung tritt. Dieses ist der Fall, wenn die Verwaltung gegenüber dem Bürger eine bestimmte Rechtspflicht durch eine behördliche Entscheidung konkretisiert oder wenn der Bürger vom Staat eine bestimmte Entscheidung begehrt[5]. Besonders einfach gerät die Feststellung eines Verwaltungsrechtsverhältnisses beim Abschluss eines ör Vertrags (dazu ausf. § 17). Aber auch ohne Abschluss eines Vertrags kann ein Verwaltungsrechtsverhältnis begründet werden.
Beispiel:
Ein Unternehmer hat nach § 6 BImSchG einen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer genehmigungsbedürftigen Anlage, wenn er die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt. Stellt er einen solchen Antrag, entsteht zwischen ihm und der Genehmigungsbehörde ein Verwaltungsrechtsverhältnis.
IV. Arten
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Zum Gegenstand eines Verwaltungsrechtsverhältnisses kann inhaltlich alles werden, was rechtlich erlaubt ist. Eine Typologie des Verwaltungsrechtsverhältnisses bedeutet deshalb zugleich eine Typologie des geltenden Rechts. Diese Typologie kann hier nicht geleistet werden[6]. Allerdings sind einige Differenzierungen möglich, die sich auf die Arten von Verwaltungsrechtsverhältnissen auswirken.
1. Differenzierung nach der Dauer
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Eine erste Differenzierung betrifft die Dauer des Verwaltungsrechtsverhältnisses. Insoweit sind kurzfristige und langfristige Verwaltungsrechtsverhältnisse zu unterscheiden. Ein kurzfristiges Verwaltungsrechtsverhältnis entsteht aus einem konkreten und einmaligen Anlass; es beschränkt sich auf die rechtliche Bewältigung dieses Anlasses. Demgegenüber sind langfristige Verwaltungsrechtsverhältnisse auf eine gewisse Dauer angelegt.
Beispiele:
• | für kurzfristige Rechtsverhältnisse: die polizeiliche Verfügung zum Abriss eines Hauses; die Einsichtnahme in Akten; |
• | für langfristige Rechtsverhältnisse: Beamtenverhältnis. |
2. Differenzierung nach dem Gegenstand
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Längerfristige Verwaltungsrechtsverhältnisse lassen sich nach dem Gegenstand des Rechtsverhältnisses unterscheiden. Mit Maurer/Waldhoff[7] können personenbezogene, vermögensbezogene Verwaltungsrechtsverhältnisse sowie Anstalts- und Benutzungsverhältnisse unterschieden werden. Diese vorgenommene Differenzierung ist allerdings nicht idealtypisch. Häufig finden sich in Dauerverwaltungsrechtsverhältnissen mehrere der aufgezeigten Merkmale.
Beispiele:
• | für personenbezogene Verwaltungsrechtsverhältnisse: das Beamtenverhältnis; die Zugehörigkeit eines Studenten zu einer Universität; |
• | für vermögensbezogene Verwaltungsrechtsverhältnisse: Subventionsverhältnisse; Steuerschuldverhältnisse; Sozialleistungsverhältnis mit Rentenanspruch; |
• | für Anstalts- und Benutzungsverhältnisse: Wasser- und Energieversorgung; Abfallentsorgung. |
3. Differenzierung nach der Bindungswirkung
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Weiterhin kann nach der Reichweite der Bindungswirkung zwischen einfachen Verwaltungsrechtsverhältnissen, verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnissen und verwaltungsvertraglichen Schuldverhältnissen differenziert werden. Letztere weisen den höchsten Bindungsgrad auf und werden durch öffentlich-rechtlichen Vertrag begründet[8]. Verwaltungsvertragliche Schuldverhältnisse unterliegen besonderen Gesetzmäßigkeiten und werden daher gesondert behandelt (dazu ausf. § 17)[9]. Zwischen den verwaltungsvertraglichen und den einfachen Verwaltungsrechtsverhältnissen angesiedelt sind die sonstigen verwaltungsrechtlichen Schuldverhältnisse (dazu ausf. § 18). Diesem Typ werden Rechtsverhältnisse zugeordnet, die sich durch einen schuldrechtsähnlichen Charakter auszeichnen. Auf sie finden die Vorschriften des BGB über die Ansprüche bei Leistungsstörungen entsprechende Anwendung[10]. Ein typisches verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis ist die öffentlich-rechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag[11].
4. Differenzierung nach den am Rechtsverhältnis Beteiligten
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Die zuvor dargestellten Verwaltungsrechtsverhältnisse waren „bipolar“. Von ihnen sind zu trennen die sog. multipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisse. Bipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse kennzeichnet ein Gegensatz zwischen Staat und Bürger. Multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse sind dadurch charakterisiert, dass sowohl auf der Seite der Behörde als auch auf der Seite der Bürger unterschiedlichste Interessen eine Rolle spielen. Ein typisches Beispiel für ein multipolares Verwaltungsrechtsverhältnis bildet das Planfeststellungsverfahren (s.o. Rn 177). Es ist gesetzlich vorgeschrieben, wenn verschiedenste Interessen in Ausgleich gebracht werden müssen.
Beispiel:
Nach § 35 Abs. 2 S. 1 KrWG ist für die Errichtung und den Betrieb einer Deponie die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens vorgeschrieben. Mit Blick auf die Errichtung einer Deponie lassen sich regelmäßig folgende unterschiedliche Interessen feststellen: das Interesse des Staats an der Entsorgung von Abfällen; das Interesse abfallerzeugender Unternehmen an einer möglichst nahen und deshalb kostengünstigen Entsorgung von Abfällen; das Interesse von Bürgern, von der Errichtung einer Abfallentsorgungsanlage verschont zu werden, weil ihr Betrieb mit Unannehmlichkeiten verbunden ist.
V. Das „besondere Gewaltverhältnis“
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Die Rechtsfigur „besonderes Gewaltverhältnis“ (andere Bezeichnungen: Sonderstatusverhältnis, öffentlich-rechtliche Sonderbindung, verwaltungsrechtliches Sonderverhältnis) ist Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden. Dem Begriff wurde eine Reihe von Rechtsbeziehungen zugeordnet, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sich Bürger in einer besonderen Nähe zum Staat befanden. Diese besondere Nähe konnte freiwillig oder zwangsweise begründet worden sein. Das besondere Gewaltverhältnis betraf insbesondere die Beziehung von Schülern zur Schule, den Strafvollzug, das Beamtenverhältnis und das Wehrdienstverhältnis. Die spezielle Rechtsbeziehung, welche das besondere Gewaltverhältnis ausmachte, bestand darin, dass dem Bürger der Rechtsschutz gegen Handeln des Staats fehlte. Ferner galten die Grundrechte im besonderen Gewaltverhältnis nicht, so dass die Exekutive auch ohne förmliches Gesetz in die Rechtssphäre des Bürgers eingreifen konnte. Nach damaliger Auffassung, die sich trotz wachsender Kritik bis 1972 halten konnte, reichten Verwaltungsvorschriften als Rechtsgrundlage für einen solchen Eingriff aus.
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In der Strafgefangenen-Entscheidung[12] hat das BVerfG die Geltung der Grundrechte im besonderen Gewaltverhältnis bejaht und den Vorbehalt des Gesetzes betont (s.o. Rn 184). Allerdings hat es eingeräumt, dass angesichts der speziellen Sachstrukturen dieser Rechtsbeziehungen (möglichst eng begrenzte) Generalklauseln zulässig sind. Im Anschluss an diese Entscheidung hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Grundrechte und der Gesetzesvorbehalt auch in diesen besonderen Gewaltverhältnissen gelten. Die Figur ist daher als eigenständige Kategorie funktionslos geworden[13]. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass diese besonderen Gewaltverhältnisse durchaus gewisse Eigenarten aufweisen[14]. Dies gilt etwa für ein Kopftuchverbot für Referendarinnen im juristischen Vorbereitungsdienst[15].