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In einer zweisprachigen Gesamtausgabe, die sich um Werktreue bemüht, müssen Text und Übersetzung so eng wie möglich miteinander verzahnt sein. Je besser es gelingt, einem so ehrgeizigen Ziel nahezukommen, desto merklicher schmilzt der Wissensvorsprung, den der antike Leser dem heutigen von Natur aus voraushatte. Von diesem Leitgedanken war die Richtung vorgezeichnet, in der lateinischen Fassung zwischen Editio maior und minor, in der deutschen zwischen gebundener und ungebundener Rede einen Mittelweg einzuschlagen. Je zielstrebiger er beschritten wird, desto klarer treten die beiden Vorteile hervor, dass die Wortstellung genauer gewahrt und ihre dichterische Note getreuer bewahrt bleibt. Welche Feinheiten zum Vorschein kommen, wenn er entschlossen verfolgt wird, erhellen sprechende Beispiele besser als allgemeingültige Aussagen über den richtigen Weg. Drum seien wenigstens einige der zahllosen Belege angeführt, die es schlagend beweisen.

In 1,2,93 ist, nach dem vergleichbaren Satzbau der Distichen 1,2,19–20 und 1,2,41–42 zu urteilen, velle auf componere mitzubeziehen, obwohl es erst im nächsten Vers hinter fingere nachfolgt. In 1,5,6 verwehrt die Wortstellung so sicher wie der Gedankengang, post haec dem vorhergehenden Satz zuzuschlagen. In 1,5,47 begründet der Nebensatz quod adest huic dives amator die nachfolgende, nicht die vorhergehende Aussage. In 1,5,61 hält der handschriftliche Befund mit der Zeichensetzung pauper erit praesto tibi praesto, pauper adibit schon deshalb der Nachprüfung stand, weil sonst an der Anapher pauper … pauper gerüttelt werden müsste. In 1,6,72 gebieten Satzbau und Kontext, inmerito als in merito zu lesen und mit pronas … vias zu verknüpfen. In 1,10,70 gibt die Wortstellung den Fingerzeig, candidus ante sinus mit »vorher weißer Bausch« zu übersetzen und daraus zu schließen, dass die Toga sauber war, bis Obst ihren Faltenwurf verfleckte. In 2,5,84 schildert plena Ceres als prall, nicht die Scheunen, die sie in fetten Jahren bersten lässt, als voll.

Wie alle römischen Dichter und Schriftsteller wandte Tibull sich an gebildete Leser, die seine Muttersprache so weit beherrschten und seine Welt gut genug kannten, um Anklänge heraushören und Anspielungen verstehen zu können. Diesen Wissensvorsprung vermag kein Übersetzer aufzuheben, mag er sich auch noch sehr bemühen, ihn so weit wie möglich auszugleichen. Wohl aber kann er anstreben, bildhafte Redewendungen so getreu wie möglich in seiner Muttersprache wiederzugeben. Vor allem die deutsche Volkssprache ermutigt dazu auffällig oft. In welchem Maße sie von Rückübersetzungen zehrt, spiegelt sich etwa darin wider, dass so gängige Ausdrücke wie »Hand anlegen«, »den Daumen auflegen«, »nicht von der Seite weichen«, »das hohe Lied singen«, »sich eine Blöße geben« oder »weggehen« im Sinne von »verschwinden« letztlich in der lateinischen wurzelten und dass das Grundwort texere, je nachdem, ob in oder sub als Vorsilbe davorgesetzt ist, von »verweben« zu »vertexten« oder von »weben« zu »texten« hinübergleitet.4

Vom Altertum zur Neuzeit durchläuft eine bildhafte Wortwahl mitunter freilich einen Bedeutungswandel, der ihren Sinn auf eine andere Ebene verschiebt. Davon zeugt etwa, dass ein römischer Liebesdichter nicht an eine wilde, sondern eine stürmische Ehe dachte, wenn er von einem coniugium ferum sprach5, oder dass fovere, »warmhalten«, in seinem Wortschatz erotisch eingefärbt war6, während sein deutsches Gegenstück zu der Redewendung »sich jemanden warmhalten« verblasste.

Wie sehr sich die Mühe lohnt, die Verwandtschaft beider Sprachen auszuloten, veranschaulicht kein Beispielfall klarer als die Versreihe 2,4,7–10. »O wieviel lieber wollte ich«, klagt Tibull im Ton tiefster Verzweiflung sein Liebesleid, »um nicht verspüren zu können solche Qualen, auf eiskalten Bergen Felsgestein sein oder standhalten als tobenden Winden trotzendes Riff, an das schiffbrecherisch hämmerten die Wogen des gläsernen Meeres.« In dem zweiten dieser beiden Distichen erfordert die Bildkraft seiner Sprache einen wachen Sinn für Feinheiten. Dazu, das Eigenschaftswort naufragus zu wählen, regte ihn an, dass bereits Horaz seinen Inhalt von »schiffbrüchig« zu »schiffbrecherisch« verschob, als er in V. 10 der Ode 1,16 von einem mare naufragum sprach. Die Wortbildung »schiffbrecherisch« kennt der deutsche Sprachschatz zwar nicht, wohl aber eine so gängige wie »halsbrecherisch«, die sie hinlänglich nachempfinden hilft.

Keiner sprachschöpferischen Lösung bedarf es, um das Zeitwort tundere so genau wie möglich zu verdeutschen. Das kräftige Bild, dass die Wogen des sturmgepeitschten Meeres mit der Wucht eines Hammers an Felswände schlagen, ist so geläufig wie eh und je geblieben. Weshalb aber sollte Tibull das Meer gläsern genannt haben?

Mit dieser Wortwahl überforderte er schon den Mönch, der vitrei zu vasti glätten zu müssen meinte. Nicht von ungefähr bewahrten den ursprünglichen Wortlaut nur die beiden ältesten und zuverlässigsten aller verfügbaren Handschriften, der Codex Ambrosianus vom Jahr 1374 und der Codex Vaticanus Latinus 3270 aus der Zeit um 1425. Alle anderen vererbten und verfestigten den Fehler, die leichtere Lesart vasti der schwierigeren Lesart vitrei vorzuziehen. Nicht genug damit, versäumten es die Herausgeber durchweg, ihn zu berichtigen, obwohl ihre Entscheidung gegen die wichtigste Grundregel einfühlsamer Textkritik verstieß und auf den Widersinn hinauslief, dass sich der Schreiber des Codex Ambrosianus dichterischer ausgedrückt haben müsste als der Dichter.

Wiederum ist es Horaz, der das Rätsel lösen hilft. Im Vers 2,3,222 seiner Satiren verwandte er das gleiche Sprachbild, als er die Eigenschaft, leicht zu zerspringen, vom Glas auf den Ruhm übertrug. Nicht etwa als gleißnerisch, sondern als zerbrechlich wie Glas schätzte er den vergänglichen Ruhm ein, wenn er ihn zur vitrea fama erklärte. Darin bestärken so schlagende Beweise wie die vergleichbaren Beispielfälle, dass der Kirchenvater Augustinus in De civitate dei 4,3. p. 149,7 Dombart/Kalb den vergänglichen Jubel aus dem gleichen Grund gläsern nennt wie Publilius Syrus sent. 189 das vergängliche Glück. In dem deutschen Reim »Glück und Glas, wie leicht bricht das« lebt das lateinische Sprichwort fortuna vitrea est: tum, cum splendet, frangitur zeitlos gültig fort. Als gläsern betrachtete Tibull das Meer kurzum deshalb, weil es sich leicht wie Glas an der Felswand brach, wenn ein Sturm es so heftig peitschte, dass sein Wellengang an das Riff eines Kaps hämmerte.

Ärmer als der deutsche Sprachschatz, bringt der lateinische vergleichsweise oft die Qual der Wahl mit sich, in einer großen Bandbreite von Möglichkeiten zu entscheiden, welche Wortbedeutung den Sinn am ehesten trifft. Je zielstrebiger und beharrlicher die Fingerzeige des Dichters, die Eigenheiten seiner Verskunst und die Merkmale des Satzbaus zum Gradmesser genommen werden, desto sicherer können zwar die Spielräume eingeengt werden. Mitunter verbleiben aber gleichwohl noch Geschmacks- und Ermessensfragen, die keine eindeutige Antwort zulassen. In diesen Zweifelsfällen gebietet es die Redlichkeit, die Wahlmöglichkeiten zu benennen. Soweit sie nicht näher begründet werden müssen, sind sie bereits in der Übersetzung vermerkt. Die übrigen Zweifelsfragen werden jeweils im Kommentar erörtert.

Zweisprachige Gesamtausgabe

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