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Sulpicia

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Von Leid und Leidenschaft erzählen die Elegiker selten so bündig, dass sich Jubel und Klage zu einer stimmig fortlaufenden Liebesgeschichte zusammenreimen. Je nachdem, welchen Typus von Liebhaber glaubhaft zu verkörpern ihnen vorschwebte, schwanken ihre Bekenntnisse nicht nur von Buch zu Buch, sondern auch von Gedicht zu Gedicht, oder schlagen die Äußerungen ihrer Gefühle gar mittendrin um.71 Schon allein darin hebt sich Sulpicia von ihren Vorgängern als eine Ausnahme ab, die nach den gemeinsamen Merkmalen, die ihre Schöpfungen prägt, die Regel bestätigt. Wenngleich sie in drei ihrer Elegien, der ersten, dritten und fünften, nicht in der 1., sondern der 3. Person von sich spricht, verknüpft der Handlungsstrang, der sie durchzieht, doch alle elf zu einem Zyklus. Sprachlich verklammert ihre Liebeselegien schon allein, dass sie, die standesbewusste Tochter hochadliger Eltern, ein so beredtes Eigenschaftswort wie dignus, »würdig«, nicht weniger als fünf Mal im Munde führt.72

In der ersten Elegie wählt Sulpicia das Fest als Rahmen, das verheiratete Römerinnen, die auf ihren guten Ruf achteten, alljährlich am 1. März feierten, um ihre Schutzgöttin Iuno mit dem Beinamen Lucina zu ehren. An diesem Fest, den Matronalia, nimmt sie im heiratsfähigen Alter teil, weil ihre Mutter in den besseren Kreisen der römischen Gesellschaft verkehrt und ihre Tochter standesgemäß erzieht. Doch stellt sie von vornherein klar, dass sie, früh erblüht und hochgebildet, wie sie ist, sich zu den Schutzgottheiten der Liebe und der Dichtkunst stärker hingezogen fühlt als zu der von Müttern und Kindern. So nachdrücklich sie sich zu Venus, Amor und Apollon bekennt, so beredt schweigt sie im selben Gedicht von Iuno.

Wie belesen sie ist, kündigt sich in der Elegie, mit der sie den Zyklus eröffnet, bereits von mehreren Seiten an. In ihrem äußeren Erscheinungsbild je nach Haartracht oder Kleidung berückend wandlungsfähig zu sein rühmt sie sich in den vier Versen 3,8,9–12 so stolz, wie es Properz in den vier Versen 2,1,5–8 seiner Cynthia begeistert nachsagte. Den Inhalt der Versreihe 3,8,17– 20 schöpft sie aus den beiden Distichen 2,2,3–4 und 2,2,15–16 ihres Vorgängers Tibull; nur schilderte Tibull den arabischen Gewürzhändler als weichlich und sein Land als reich. Im Verspaar 3,8,13–14 greift sie auf, dass Properz den Stadtgott Vertumnus in der 2. Elegie seines vierten Gedichtbuchs als einen Verkleidungskünstler würdigte, der seinen Namen, wie er als Schöpfer römischer Aitien klarstellte73, seiner Wandlungsfähigkeit verdanke. Mit diesem Gott vergleicht sie sich auf der Sprachebene, dass sie im Vers 3,8,14 wie ihr Vorläufer im Vers 4,2,45 die Stilhöhe von apte, »schick«, zu decenter, »kleidsam«, anhebt. So voraussetzungsreich dichtete sie, nach seinen Zeitanspielungen auf den Rückzug der Sygambrer74 und die Feier des dritten Jahrfünfts seit der Seeschlacht von Aktium zu schließen75, frühestens um das Jahr 15 v. Chr.

In der zweiten Elegie enthüllt Sulpicia, weshalb sie Amor in der ersten als heißblütigen Gott begrüßte. Nunmehr lüftet sie ihr Geheimnis, dass ein junger Mann, den sie nach dem griechischen Namen des bittersüßen Bienenbrots Sandarach als Cerinthus anredet76, sie entflammte. Gern sähe sie ihn von Amor beschirmt und gefesselt. Doch hat ihn die Jagdleidenschaft gepackt.77 Welche Gottheit in dem Machtkampf um ihn siegen wird, ob Amor, der heißblütige Gott der Liebe, oder Diana, die keusche Göttin der Jagd, muss sie vorerst abwarten. Zwar hofft sie sehnlich, er werde so bald wie möglich in ihre Arme zurückkehren. Einstweilen aber sorgt sie sich, einer Nebenbuhlerin könnte es gelingen, ihn ihr zu entfremden.78

In der dritten Elegie gibt Sulpicia ihrem Geliebten Gelegenheit, sich zu Wort zu melden, um seine Gefühle zu äußern. Als er hört, sie sei mit hohem Fieber erkrankt, besteht er seine Bewährungsprobe als Liebhaber nach allen Regeln elegischer Dichtkunst. Tränen vergießt, Dankopfer gelobt und mit den Göttern hadert er, bis ihm Apollon, den er in seiner Not zu Hilfe ruft, als wohlgesinnter Heilbringer versichert, er werde sie in Rom genesen vorfinden.

In der vierten Elegie verspricht Sulpicia, den Tag stets heilig zu halten, an dem ihr heißgeliebter Cerinthus geboren wurde. Doch verhehlt sie sich nicht, dass sie sich in einen Schwarm heranwachsender Römerinnen verliebt hat, der noch zögert, sich so fest zu binden, wie sie es sich innigst wünscht. In dieser Lage klammert sie sich an die Hoffnung, dass er zwar genauso empfindet wie sie, sich aber schämt, es so offen wie sie auszusprechen.79 – Wie weit sie sich in Selbsttäuschungen flüchtet, muss die Zukunft zeigen.

In der fünften Elegie begrüßt Sulpicia ihren Geburtstag als Gelegenheit, Iuno in aller Stille als Schutzgöttin ehelicher Treue um ihren Segen zu bitten. So weit denkt sie voraus, ohne ihre Mutter, Messallas Schwester Valeria, in ihr Geheimnis einzuweihen. Davon sieht sie wohlweislich ab, weil ihr bewusst ist, dass die Witwe eines Mannes von so altem Adel wie Servius Sulpicius Rufus andere Heiratspläne schmiedet.80 Da ihr Vater, der gleichnamige Sohn des Konsuls vom Jahr 51 v. Chr., bereits verstorben ist, muss seine Gattin, um die Lücke zu schließen, als besorgte Mutter den besorgten Vater ersetzen, dem nach den aus Lebenserfahrung gesprochenen Worten, mit denen Properz einen Nebenbuhler verwünscht81, kein Schwiegersohn gut genug sein kann. Nach diesem Maßstab empfiehlt sich ein junger Mann vom Schlage eines Cerinthus nur bedingt als Wunschkandidat, der mit einer höheren Tochter eine lebenslange Musterehe zu führen verheißt. So noble Passionen wie die Jagdleidenschaft kann er zwar nur mit einem Vater geteilt haben, der den besseren Kreisen der römischen Gesellschaft angehörte.82 Als Don Juan, dem die Herzen junger Römerinnen zufliegen, zögert er aber noch immer, sich von seinem unbeschwerten Leben als begehrter Junggeselle loszusagen. Nicht er, sondern Sulpicia ist es, die Venus wechselseitig bindende Fesseln huldvoll breitzuhalten bittet und den Bund mit ihm, ganz gleich, wer von ihnen beiden die Oberhand gewinnen wird, Jahr um Jahr verlängern zu wollen versichert.83 Nie ist es er, der für sie, sondern stets sie, die für ihn mitspricht. Wie weit sie sich Selbsttäuschungen hingibt, bleibt nach wie vor in der Schwebe.

In der sechsten Elegie dankt Sulpicia Venus, der römischen Aphrodite Urania, dafür, dass sie ihr Cerinthus zuführte, um ihr den Herzenswunsch zu erfüllen, ihn wie einen kostbaren Schatz in ihrer Obhut zu verwahren.84 Nun, da ihr die Göttin beisteht, die sie in ihren Gedichten inständig um Hilfe anflehte, scheut sie sich nicht länger, die Maske der Ehrbarkeit abzulegen.85 Ohne zu zögern, ihr Geheimnis zu lüften, bekräftigt sie in dem Schlussvers »Zusammengewesen sei ich mit einem, der mich genauso verdient, wie ich ihn verdiene, werde über mich verbreitet«, dass sie sich im vorhergehenden Gedicht mit den Worten »Keinem anderen Mädchen zu Diensten zu stehen ist er würdiger oder umgekehrt sie keinem anderen Mann« aus tiefer Zuneigung zu Cerinthus bekannte. Wer von ihnen beiden, ob sie oder er, die Oberhand gewinnt, wird sich nach diesem Zwischenstand erst im Laufe ihres Zusammenlebens herausstellen.

In der siebten Elegie nimmt Sulpicia die Vorgefechte um ihren nahenden Geburtstag zum Anlass, ihren Onkel Marcus Valerius Messalla Corvinus in ihren Gedichtzyklus einzubeziehen. Mit ihm wechselt sie in dieser Angelegenheit Briefe, da er sie als ihr nächster männlicher Verwandter einlud, ihren Festtag auf seinem umbrischen Landsitz in der Gemarkung Arezzo zu feiern. Seit dem Tod ihres Vaters Servius Sulpicius Rufus Halbwaise, durchschaut sie zwar, dass er sie zu gängeln versucht, weil er sich als ihr Vormund verpflichtet fühlt, auf ihren guten Ruf zu achten. Um ihn aber nicht zu brüskieren, bemüht sie sich, seine Pläne so sacht wie möglich zu unterlaufen. Doch als er sich über die Verzögerungen ihrer Abreise ungehalten äußert, spürt sie, auf welch schmalen Grat sie sich bewegt, wenn sie sich auf so durchsichtige Ausflüchte wie die Ausrede verlegt, dass an seinem Landgut der eiskalte Arno vorbeifließe.86 »Nun beruhige dich schon, Messalla, mein allzu sehr um mich besorgter und mit meiner nicht pünktlichen Reise hadernder Verwandter« schreibt sie ihm daraufhin, um ihn wenigstens zu beschwichtigen, wenn sie ihn schon nicht davon abbringen kann, auf seiner Einladung zu bestehen.87 So gewählt redet sie ihn an, um ihn schelmisch zu einem römischen Achill zu überhöhen, der seiner Nichte wegen der Verschiebungen des Antritts ihrer Reise so fürchterlich grollt, wie nach Vergils Aeneis der Achill der griechischen Sagenwelt den Königen Agamemnon, Menelaos und Priamos zürnte. Las ihr hochgebildeter Onkel die Zeile neu tempestivae saeve propinque viae, konnte sie darauf vertrauen, dass er sich an den Vers Atridas Priamumque et saevum ambobus Achillem des Dichters erinnert fühlte, dessen Nationalepos mittlerweile zum Gemeingut geworden war.88 In der gehobenen Wortwahl und Tonlage ihrer Anrede klang deutlich genug die sprachliche Neuerung nach, die Vergil einführte, als er im Vers 1,458 seiner Aeneis das Eigenschaftswort saevus mit dem Dativ verknüpfte.

In der achten Elegie teilt Sulpicia ihrem Geliebten erleichtert mit, ihr Onkel habe ihr wider Erwarten abgesagt. Als glückliche Fügung schildert sie ihm diese überraschende Wende, weil sie nach dem Stand, auf dem das vorhergehende Gedicht schloss, nicht mehr gehofft hatte, ihren Geburtstag mit ihm und anderen Gästen der Jeunesse dorée in der Hauptstadt feiern zu können. Weshalb ihr Onkel von seiner Einladung abrückte, verrät sie nicht. Doch hätte sie schwerlich von einer glücklichen Fügung gesprochen, wenn er sie aus Verärgerung ausgeladen hätte. Die ungetrübte Freude, mit der sie über seine Absage jubelte, deutet eher darauf hin, dass er aus beruflichen Gründen verhindert war oder am Ende als der Klügere nachgab.

In der neunten Elegie gewährt Sulpicia einen tiefen Einblick in das Standesdenken der Gesellschaftsschicht, in die sie als Tochter beidseits hochadliger Eltern hineingeboren wurde. Bisher war es ihr geglückt, die Einmischungsversuche ihrer Mutter Valeria und ihres Onkels Messalla geschmeidig genug abzuwehren, um nicht mit ihnen zu brechen. Doch hütete sie sich wohlweislich, die Erziehung zu verleugnen, die sie als höhere Tochter genossen hatte. So rebellisch gebärdete sie sich nicht, wenn sie einen umschwärmten Junggesellen wie Cerinthus zu heiraten gedachte, der mit seinem Vater die Jagdleidenschaft teilte, ohne seine zarten Hände abzuscheuern oder seine Arme und Beine der prallen Sonne auszusetzen.89 Noblen Passionen wie dieser frönte eher jemand, der zu Roms Jeunesse dorée gehörte. So hohe Ansprüche an Herkunft und Aussehen stellte sie, ohne zu hadern, dass sie dafür einen hohen Preis zu zahlen hatte. Obwohl ihr nicht entgeht, dass er sich mit Dirnen vergnügt, preist sie sich bis zur Selbstaufgabe glücklich, wenigstens nicht mit einer ernsthaften Nebenbuhlerin um seine Liebe kämpfen zu müssen. Mit entwaffnender Offenheit begrüßt sie vielmehr, dass er sie gut genug kenne, um zu wissen, so tief, sich mit Fehltritten zu rächen, werde sie niemals sinken. Dagegen glaubt sie sich hinlänglich gefeit, weil sie ihre Erziehung von dem tiefverwurzelten Standesdenken besorgter Verwandter geprägt sieht, die sie nur dann bitter enttäuschen würde, wenn sie sich einer Bettgefährtin unbekannter Herkunft geschlagen gäbe. Unverblümter hätte sie nicht aussprechen können, dass adelsstolze Römer nichts so arg schmerzte wie die Schmach, in dem Streben, mit dem Ruhm der Ahnen zu wetteifern, einen empfindlichen Rückschlag erlitten zu haben.

In der zehnten Elegie erniedrigt sich Sulpicia dazu, Cerinthus und sich selbst bang zu fragen, ob es ihm nahe gehe, dass hohes Fieber sie plage.90 Wie erschreckend sie ihr Selbstbewusstsein schwinden fühlt, ist daran abzulesen, dass sie lieber sterben möchte als erleben zu müssen, dass er ihre Leiden mit Gleichmut hinnimmt.91 Während sie sich in der ersten Elegie ihres Gedichtzyklus als hinreißende Schönheit einführte, deren Liebreiz selbst einen Mars verzaubern könnte, ergibt sie sich nun in das Schicksal, dass Cerinthus ihr zu gefallen bestimmt sei.92 So vielsagend kehrt sie das Muster um, das sie zu ihrer Wortwahl anregte. Tibull vergab die Rolle, vom Schicksal zu gefallen ausersehen zu sein, an junge Schönheiten, die sich nicht unter Wert verkauften. Im 5. Gedicht seines zweiten Buchs verkörperten sie die Vestalin Ilia, die den Kriegsgott Mars, und ein Bauernmädchen, das einen reichen Viehhalter entflammt.93

In der elften Elegie deutet Sulpicia an, dass sie aus den Demütigungen, die Cerinthus ihr zumutete, die Lehre zog, ihre Verhaltensweise von nun an zu ändern. Statt sich ihm wie bisher hemmungslos hinzugeben, verlässt sie ihn, um ihre Liebesglut vor ihm zu verbergen, noch in der Nacht, in der sie ihn entflammte. Doch bereut sie zutiefst, Gefühlskälte vorgetäuscht zu haben, als sie sich darauf zurückbesinnt, dass er ihr zu gefallen vom Schicksal ausersehen ist. So endet zwar das letzte Gedicht ihres Zyklus, wohl kaum aber die Liebesgeschichte, die ihn wie ein roter Faden durchzieht. Wie sie ausging, lässt die Dichterin offen. Ob sie Cerinthus, einen Anderen oder überhaupt nicht heiratete, verschweigt sie. Nicht einmal, wieweit sie Dichtung in die Wahrheit einkreuzte, ist sicher auszumachen.

71 Glänzend beobachtet von Allen, in: Critical Essays 1, 111–118.

72 Je einmal in den Versen 3,8,15, 3,8,24 und 3,12,10, zweimal im Vers 3,13,10.

73 Prop. 4,2,19–22.

74 Prop. 4,6,77.

75 Prop. 4,6,69–74.

76 Zu seinen Eigenschaften s. Plin. nat. 11,17.

77 3,9,5–10.

78 3,9,21–24.

79 3,11,17–20.

80 3,12,15–16.

81 Prop. 3,8,37–38: at tibi, qui nostro tendisti retia lecto, sit socer aeternum nec sine matre domus!

82 Soviel zu V. 3,9,23, dem einzigen Hinweis auf seine Herkunft.

83 3,12,7–10 und 19–20.

84 3,13,3–6.

85 3,13,7–10.

86 3,14,4.

87 3,14,5–6.

88 3,14,6.

89 3,9,5–10 und 23–24.

90 3,17,1–2.

91 3,17,5–6.

92 3,17,1 nach der fraglos richtigen Lesart Cerinthe tuae placiture puellae.

93 Zu diesen beiden wörtlichen Anklängen vgl. Tib. 2,5,35–36 (… saepe gregis diti placitura magistro ad iuvenem festa est vecta puella die) und 2,5,51–52 (te quoque iam video, Marti placitura sacerdos Ilia, Vestales deseruisse focos).

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