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Lygdamus

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Der Fortsetzer, der sich selbst nur einmal, im Vers 3,2,29, Lygdamus nennt, die große Liebe seines Lebens aber neun Mal als Neaera anredet37, träumte davon, mit ihr, die er mit Engelsgeduld umwarb, eine bürgerliche Ehe zu führen. Doch offenbarte ihm Apollon in seiner Eigenschaft als göttlicher Warner die bittere Wahrheit, dass sie sich in der Rolle einer umschwärmten Schönheit wohler fühle als in der einer züchtigen Hausfrau und Mutter.38 In der gleichen Eigenschaft riss Apollon den Liebesdichter Properz aus dem Traum, sich zum Dichter von Heldenliedern aufzuschwingen.39 Den Namen, den Properz dem Haussklaven seines Vertrauens beilegte40, wählte er kurzum nicht etwa deshalb als Decknamen, weil er von unfreier Herkunft gewesen wäre, sondern wird er sich aus dem Grund zugelegt haben, dass er sich wie ein Sklave dem Willen seiner Herrin Neaera beugte.

Kleidete Lygdamus in die Worte des Distichons 3,5,17–18, dass seine Eltern im selben Jahr, in dem die beiden Konsuln Hirtius und Pansa im Bürgerkrieg ihren schweren Verletzungen erlagen, den Tag, an dem er geboren wurde, zum ersten Mal als Geburtstag erlebten41, muss er etliche Jahre nach Tibull und Properz zur Welt gekommen sein und geraume Zeit später als beide zu dichten begonnen haben. Wie er den Altersunterschied nutzte, hat sich in zahlreichen Lesefrüchten niedergeschlagen. Soweit sie auf Properz zurückgehen, reichen sie von seinem zweiten bis zu seinem vierten Gedichtbuch. Das zweite regte ihn dazu an, dass er keinem Menschen »zerstoßene Giftkräuter«, trita venena, verabreicht zu haben beteuerte. 42 Dem dritten entlehnte er, Besitztümer wie ein Herrenhaus mit marmornen Säulen vom Tainaron und vergoldete Deckenbalken geringzuschätzen.43 Im vierten las er, dass Cynthia an einer verkehrsreichen Überlandstraße bestattet zu werden wünschte und die Priesterin der Göttin Bona Dea selbst Göttern den Zutritt zu ihrem Heiligtum verwehrte.44 Im gleichen Geist wünscht er sich, auf der belebten Stirnseite seines Grabmals weise eine Inschrift auf die traurige Ursache seines Todes hin, und mit Nachdruck bestätigt er, dass den Geheimkult der Bona Dea nicht einmal Götter ungestraft entweihen dürfen.45

Nach diesen Anhaltspunkten zu schließen, kann nicht Tibull, sondern muss ein Fortsetzer sich den Decknamen Lygdamus zugelegt haben, der noch dichtete, als Properz sein viertes Buch bereits vollendet hatte. Wann er die letzte der sechs Elegien verfasste, die in den Anhang zu Tibulls beiden Gedichtbüchern Eingang fanden, steht zwar dahin. Je weiter aber dieser Zeitpunkt vom Todesjahr der beiden Konsuln Hirtius und Pansa abgerückt wird, desto schwerer sind Einflüsse sicher und lückenlos nachzuweisen. Schon deswegen weckt es grundsätzliche Bedenken, Lygdamus und seine sechs Elegien in die flavische Zeit zu versetzen.46

So dicht folgte Lygdamus freilich keinem seiner Vorläufer auf dem Fuße, dass er sich nicht bemüht hätte, aus ihrem Schatten hervorzutreten. Mit den Zügen, die er sich und Neaera verleiht, nimmt er sich eher als männlicher Gegenentwurf zu Sulpicia aus. Geduldig fleht er Neaera an, ihn zu erhören47, und selbst als Apollon ihn vor Selbsttäuschungen warnt48, hofft er noch immer, sie mit göttlichem Beistand umstimmen und heiraten zu können.49 Doch muss er sich am Ende eingestehen, dass die Selbstachtung es ihm gebietet, ihr edelmütig Lebewohl zu sagen. So sehr es ihn auch schmerzt, dass sie seine Gefühle nicht mehr erwidert, wünscht er ihr gleichwohl eine ungetrübte Zukunft.50

Zur Ehe hält Neaera von weiblicher Seite aus dem gleichen Beweggrund Abstand wie Cerinthus von männlicher. Beide suchen nicht die Geborgenheit, sondern möchten die Freiheiten eines ungebundenen Lebens genießen. Nur drückt Lygdamus seine Gefühle holpriger aus als die sprachgewandtere und geschmackssicherere Sulpicia ihre. Im Verspaar 3,1,11–12 verlagert er das gemeinsame Subjekt ohne Not vom Haupt- in den Nebensatz. Im Distichon 3,1,15–16 dehnt er das Hyperbaton per … lacus ungelenk vom Anfang des Hexameters bis zum Ende des Pentameters aus. In den beiden Verszeilen 3,4,25–26 mutet er seinen Lesern ein Zeugma zu, das ihnen die geistige Leistung abverlangt, sich aus dem Prädikat videt des nachfolgenden Satzes vorausahnend das des vorhergehenden im Perfekt hinzuzudenken. In der Versfolge 3,4,65–66 zeiht er Amor nicht weniger als drei Mal der Unbarmherzigkeit, ohne die dichterische Wirkung unbestritten zu steigern. Mittlerweile haben sich die Herausgeber vielmehr darauf geeinigt, saeva gegen posse auszuwechseln, obwohl diese jüngere Lesart alle Merkmale eines plumpen Texteingriffs auf sich vereint. Erstens hat es sich bei so großen Abweichungen durchweg bewährt, der Fassung des Fragmentum Cuiacianum größeres Vertrauen als allen anderen Lesarten zu schenken, zweitens verleitete der Stein des Anstoßes, dass Lygdamus das Eigenschaftswort saevus in kurzem Abstand zwei Mal auf Amor und ein Mal auf seine Peitschenhiebe münzt, leicht zu dem Trugschluss, saeva müsse verbessert werden, und drittens behebt ein so entbehrliches Füllsel wie posse den Schönheitsfehler nur scheinbar.

Wortwiederholungen, Hyperbata und Zeugmata streute Tibull zwar gleichfalls ein, aber durchweg so durchdacht, dass sie den Sprachfluss nicht hemmen. Wie weit Lygdamus mitunter hinter der Dichtkunst seines großen Vorgängers zurückbleibt, verrät sich im Versbau denn auch merklicher als in der Aussagekraft seiner sechs Elegien. Von der Form auf den Inhalt zu schließen birgt von vornherein die Gefahr, ihm nur bedingt gerecht zu werden. Verschiedentlich wird er nur deswegen unterschätzt, weil sinnwidrige Texteingriffe oder gedankenlose Übersetzungen den Zugang zu Wortlaut und Sinn der Urfassung verschütten.

Im Vers 3,2,15 drückte Lygdamus sich zu gewählt aus, um verstanden zu werden. Zu der sinnlosen Lesart rogate wurde eher rogalem als precatae, vocatam oder recentem verschrieben. Über so geläufige Wortformen wie precatae oder recentem wäre ein Mönch, der in der Schreiberwerkstatt seines Klosters arbeitete, wohl kaum gestolpert, und selbst wenn ihn eine der drei überfordert hätte, wäre er wohl kaum auf den Gedanken verfallen, sie zu rogate zu verballhornen.

Im Vers 3,3,37–38 spricht Lygdamus nicht von einem »reichen Orkus«, einem dives … Orcus, sondern wünscht er sich, die Toteninsel Orkus des Unterweltgottes Dis, der Ditis … Orcus, berufe ihn zu seinen entsetzlichen Strömen und seinem nachtschwarzen Morast ab, sollte Neaere vor ihm sterben. Mit seinem römischen Namen Dis führte er Pluto, den Gemahl der Proserpina, schon im letzten Vers seiner ersten Elegie ein, als er beteuerte, die Hoffnung auf eine Ehe mit Neaera werde ihm erst Dis’ bleiches Gewässer, die pallida Ditis aqua, wegnehmen.

Im Vers 3,4,38 vergleicht Lygdamus weder mit dem Geplapper eines Kindes noch mit dem Zwitschern einer Schwalbe oder einer Rohrpfeife, wie die Leier klingt, wenn sie mit einem Griffel oder Stäbchen, dem Plektron, angeschlagen wird.51 Treffender gebrauchte er das lautmalende Eigenschaftswort garrulus, wenn er sich von ihrem perlenden Ton an das Geplätscher rinnender Bäche oder sprudelnder Quellen erinnert fühlte.52

Im Vers 3,6,3 verlangte Lygdamus seinen Lesern ab, vom vorhergehenden den Ablativ hedera aufzugreifen, um ihn gedanklich an pariter medicante anzukoppeln. Wie sehr er sie mit dieser Brachylogie überforderte, ist schon allein daraus zu ersehen, dass die Herausgeber noch immer den von Theodor Birt eingeschlagenen Irrweg festtreten, das einhellig überlieferte Adverb pariter durch patera zu ersetzen. So entging ihnen, dass Lygdamus den Efeu nicht nur als Kopfschmuck, sondern auch als Heilpflanze pries.

Im Vers 3,6,62 fordert Lygdamus den jungen Haussklaven, den er im Distichon 3,6,57–58 anwies, seinen Gästen Wasser im richtigen Mischungsverhältnis mit Wein einzuschenken, in den verdünnten, in liquidum, beherzter reinen Wein, merum, hinzuzugeben auf. Mit der ersten ist die zweite Anweisung freilich nur zu vereinbaren, wenn in dem Ast des Stammbaums, an dem Jacques Cujats verstümmelter und später verschollener Codex F hing, die Präposition in zu î abgekürzt war. Sonst müsste sich der Dichter binnen weniger Verse widersprochen haben.

Zusammengefasst ermöglichen diese Ergebnisse, abgewogener über seine Stärken und Schwächen zu urteilen. Nicht zu leugnen ist, dass im Versbau ärgerliche Klippen den Sprachfluss hemmen. Doch hellt sich das Bild, das der Inhalt seiner sechs Elegien vermittelt, merklich auf, wenn die Fehler abgezogen werden, die nicht ihr Verfasser zu verantworten hat.

37 Lygd. 1,6, 1,23, 2,12, 2,29, 3,1, 3,23, 4,57, 4,60 und 6,29.

38 Lygd. 4,43–60.

39 Prop. 3,2,15–24.

40 Prop. 3,6,2. 11. 19. 24. 31. 36. 42, 4,7,35 und 4,8,70. 79.

41 So nach gängiger Meinung Enk, Mnemosyne IV.3, 1950, 72–73, Skutsch, Philologus 103, 1959, 152–153, Bickel, RhM 103, 1960, 102. 106, und Büchner, Hermes 93, 1965, 90. 93, während Kraus, WSt 70, 1957, 198–199, keineswegs schlüssig verneinte, dass Lygdamus nach der römischen Berechnungsweise von Kalendertagen bereits den Tag seiner Geburt als ersten Geburtstag zählte.

42 Lygd. 5,10; vgl. Prop. 2,17,14.

43 Lygd. 3,13–16; vgl. Prop. 3,2,11–12.

44 So Properz 4,7,83–86 und 4,9,53–60.

45 So Lygdamus 2,27–30 und 5,7–8.

46 Schon deswegen Enk, Mnemosyne IV.3, 1950, 70–75, Kraus, WS 70, 1957, 197–204, und Büchner, Hermes 93, 1965, 65–66. 85. 89–111. 503–508, überzeugender als Hagen, Lygdamus-Gedichte, passim, Lee, PCPhS N.S. 5, 1958–59, 15–23, Axelson, Eranos 58, 1960, 92–111. 281–297, und Tränkle, Appendix Tibulliana, 57–63.

47 Lygd. 1,27–28.

48 Lygd. 4,51–60.

49 Lygd. 4,95–96.

50 Lygd. 6,29–30.

51 Zu der ersten dieser drei Verwendungsweisen von garrulus s. Tib. 1,5,26, zu der zweiten Verg. georg. 4,397, zu der dritten Tib. 2,5,30.

52 Zu diesem Wortgebrauch vgl. Ovid fast. 2,316, Calpurnius ecl. 4,2 und Seneca Oed. 493.

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