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Ein Loblied auf Forchtel
ОглавлениеIm Café Bräuner gegen halb zehn abends eingetroffen, schlage ich wie immer das Blatt der intellektuellen Szene auf, den ‚Wiener Tag- und Nachtfalter’. Da stoße ich gleich auf eine Kolumne von Brohh. Vermutlich liegt mir da das Ergebnis seiner plötzlichen Geistesabwesenheit vor Augen, als er den Gesprächsfaden mit Elli und mir plötzlich kappte und wir mit einem Mal sozusagen durchsichtig für ihn wurden: Über unsere Körper hinweg schien er in eine unendliche, ihn geheimnisvoll inspirierende Ferne entrückt. Das rühmen seine Jünger an ihm, diese überfallsartig auf ihn eindringenden Momente der Inspiration, wenn der schöpferische Impuls plötzlich von ihm Besitz ergreift. Nun halte ich also schwarz auf weiß die Frucht der plötzlichen Eingebung in Händen.
Die große Verheißung
Dr. Hieronymus Brohh
Sie stehen Schlange vor dem Imperial – sie, das sind all die zahllosen Wiener und Wienerinnen, die der Politik nicht mehr trauen – wir tun es ja alle nicht mehr. Die sich aber inspirieren und spirituell renovieren lassen durch einen Mann, der für uns alle ein großes Geheimnis ist und für einige auch eine große Verheißung. Die Rede ist von Cornelius Forchtel, jener Sternschnuppe, jenem leuchtenden Meteorit, der aus heiterem Himmel in unsere Köpfe schlug. Allgemein wird er als Handaufleger bezeichnet, was offenbar seine Profession im engeren Sinne ist, aber damit scheint mir das Phänomen Forchtel viel zu oberflächlich beschrieben. Gewiss, von seinen Händen scheint eine ungeheure Kraft auszustrahlen. Alle, die bei ihm waren, berichten übereinstimmend von der inneren Verwandlung, von der belebenden Wirkung, der tiefen Freude, die sie nach der Begegnung mit diesem Manne verspüren. Ja, und einige – das wollen wir nicht misstrauisch oder als blasierte Skeptiker übergehen – sprechen sogar von erstaunlichen Heilungen. Ein Blinder sei wieder sehend geworden, ein Lahmer wieder gehend. Der Philosoph sollte sich dazu jeder Meinungsäußerung entschlagen. Solange die Wissenschaft uns nicht eindeutige Fakten liefert, besteht unsere Pflicht in der objektiven Berichterstattung. Diese allein erlaubt uns allerdings jetzt schon eine Aussage von größter Reichweite und Relevanz. Cornelius Forchtel bringt einen frischen, einen moralisch tonisierenden Wind in unsere doch manchmal reichlich dekadent anmutende Stadt. Die Schläfrigen unter uns werden aufgerüttelt, die Satten und allzu Bequemen herausgefordert, die pfründenumhegten Politiker aus ihrer Selbstgefälligkeit gerissen. Dieser Mann macht uns klar, dass unsere Stadt eine Aufgabe hat. In einer vielfach desorientierten Welt, in der nur noch das Materielle, der Nutzen und der Augenblick zählt, muss Wien grundsätzlich anders sein, indem es den Menschen wieder die spirituelle und moralische Richtung zeigt. Cornelius Forchtel ist der Stern am Horizont, dem wir alle gern folgen.
Aber Achtung, lieber Forchtel, hüte dich vor all den Speichelleckern, die dich erst umschwänzeln, um dich danach genüsslich zu Fall zu bringen! In Wien sind die Neider und Scheelsüchtigen stets zur Stelle, sobald ein Genie ihr eigenes kleines Licht in den Schatten stellt. Schon höre ich von verschiedenen Seiten missgünstige Kommentare.
Für fünf Minuten Handakrobatik stecke der Forchtel fünfhundert Euro ein.
Na und? Was büßt ihr Reichen und Satten denn dadurch von eurem Wohlleben ein? Wie viel gewinnt ihr anderseits durch die vulkanische Energie des Mannes, wenn sie von seinen Händen auf euch herabströmt? Das Volk jedenfalls ist bereits abgöttisch in den Rosenheimer verliebt, denn nach neun Reichen, die ihren wohlbemessenen Tribut entrichten, lädt er jeweils einen Armen kostenlos zu sich ein, um ihn von seinen Leiden zu heilen. Dieser Mann hat nicht nur zwei heilbringende Hände, sondern dazu noch ein weites, mitleidendes Herz.
So einen Mann braucht Wien, so einen Mann brauchen wir in unserer Mitte! Vergesst nicht, dass schon seit Tagen von merkwürdigen Todesfällen am Gürtel gemunkelt wird. Wenn etwas dran ist, worüber ich mir vorerst noch kein Urteil erlauben möchte, dann ist Cornelius Forchtel noch am ehesten jener Mann, der uns mit seiner aufrechten Gesinnung und seinen Händen vor Unheil bewahren wird...
Eine so überschwängliche Panegyrik aus der Feder von Brohh - ich staune. Auf mich wirkt der Handaufleger bisher nur ernüchternd. Was ist dieser Mann denn anderes als einer der vielen hochstapelnden Quacksalber und Scharlatane, die seit einiger Zeit ganz Europa heimsuchen? Ich weiß, die Wiener sind wie alle geborenen Theatermenschen leicht zu begeistern. Sobald ein begabter Schauspieler unter ihnen erscheint, wird die Vernunft ausgeschaltet, sie sind einfach hingerissen. Ich sehe darin eine gewisse Unfähigkeit, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Außerdem versetzt es mir einen Stich, wenn ich daran denke, dass auch Elli eine der Wartenden in der Schlange vor dem Hotel am Ring, dem Hotel Imperial, sein könnte.
Sorry, stand in ihrem SMS, der Handaufleger ist im letzten Moment dazwischengekommen.