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Die Verengung der Welt

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Von Dr. Hieronymus Brohh

„So ist er nun mal der Herr Karl, unser Zeitgenosse auf der Insel der Seligen: Eng angekettet an den Pflock seiner Augenblickswünsche und unbedeutenden Tagessorgen, blickt er fast nie über den Tellerrand der gerade fälligen Aktualität. Während die vier Wände seiner Mietwohnung im ersten Bezirk für ihn die Grenzen des Kosmos bilden, entgeht es ihm ganz und gar, wie der große, runde durch das All trudelnde Globus unter ihm gleichsam schrumpft und verschrumpelt, ganz so als wollte der spielende Knabe, der unser Schicksal nach der Vorstellung der alten Griechen in seinen Händen hält, sich einen besonderen Spaß daraus machen, den Erdball auf einer heißen Herdplatte auszudörren. Die Welt wird eng, ja sie wird sogar jeden Tag etwas enger, ganze Teile sind bereits extraterritorial – Feindes- und Niemandsland, wo sich Herr Karl nicht mehr hintrauen würde. Da sind die neuen Kopfjäger unterwegs, die neuen Kannibalen, die neuen Lösegelderpresser, die neuen Vergewaltiger, Henker und Schlächter, die nicht einmal davor zurückschrecken würden, einem braven Wiener aus dem ersten Bezirk den Kopf abzuschneiden. Die Welt wird eng - und Herr Karl hier in Wien bekommt das nicht einmal mit.

Es ist kaum zu glauben: Schnelle Autos hat fast jeder von uns, bei manchen sind es schon zwei oder drei pro Familie, aber inzwischen gibt es ganze Regionen, die wir ohne Gefahr für Leib und Leben nicht länger befahren dürfen. Flugzeuge fliegen jedes Jahr in größerer Menge, aber es gibt immer weniger Plätze, auf denen wir unbesorgt landen können. Davon aber will unser Herr Karl gar nichts wissen. Er bildet sich immer noch ein, auf einer Insel zu leben, einer Insel der Seligen, wie er das nennt. Ungerührt, als wäre nichts geschehen, schlürft er allmorgendlich seinen Espresso in sich hinein, ungerührt, als gäbe es die weite Welt nicht einmal. Dann verbringt er den restlichen Tag damit, den aufgestauten Grant auszuschwitzen.“

Solche Worte perlen dem Dr. Brohh mühelos aus der Feder. Andeutungen, Anspielungen und geistreiche Pirouetten scheinen ihm zuzufliegen, aber manchmal treibt er es doch zu arg, so jedenfalls kam es mir damals vor. Erst sehr viel später sollte es dann gerade der Schluss dieses Aufsatzes sein, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ist Brohh da etwa selbst zum Sprachrohr für jenen Würfel spielenden Knaben geworden, den er in seinem Artikel erwähnt (zweifellos mit der bekannten Eitelkeit eines Literaten, der ganz gern die Pfauenfeder seiner humanistischen Bildung spreizt)? Dr. Brohh beendet seinen Artikel mit folgenden Worten, die ich jetzt, wo ich diesen Bericht niederschreibe, nicht ohne Erschütterung lese und wiederhole:

„Und wenn in unserer Zeit, wo auf einmal alles möglich erscheint, selbst das Unmögliche geschähe? Ich meine, wenn Wien selbst schrumpfen würde, weil wir nun einmal im Zeitalter der Globalisierung leben, und kein Ereignis vor den Toren der eigenen Stadt nur deswegen stehen bleibt, weil wir die Ampel auf rot gestellt haben? Angenommen, Wien würde enger und enger werden, angenommen, wir würden in der Stadt nur noch zu Fuß gehen können, weil nur noch der Erste Bezirk und vielleicht noch der Naschmarkt übrig bleiben? Eine absurde Vorstellung, hält mir der ungeneigte Leser entgegen? Gewiss doch, das gebe ich bereitwillig zu, aber aufgepasst: Wir leben in einer Zeit der Absurditäten, die uns wie die apokalyptischen Reiter von allen Seiten bedrängen.“

Wien!

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