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Elli Koschinsky

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Das Café Griensteidl liegt im Schatten der Hofburg gleich neben dem großen Eingangsportal. Ich betrete es in aller Früh und nicht ohne Grund: Im Gegensatz zu den meisten intellektuell knisternden Köpfen der Stadt gehört Brohh zu den seltenen Morgenmenschen. Dass er mich nicht wiedererkennt, wundert mich keinesfalls. Es ist doch klar, dass ich für diesen Geistesriesen nur ein Piefke unter vielen bin, eine Spezies, die ihm nicht sonderlich gefällt, auch wenn er ihr gern seine Belehrungen erteilt. Heute allerdings betrete ich das Café am Michaelerplatz so zeitig, dass ich nur eine einzige Person ihm gegenüber bemerke, und von dieser nur den Rücken und das rostbraune Haar. Erst als ich mich auf der Höhe der Sitzecke befinde, erkenne ich Elisabeth Koschinsky. Ich zucke zusammen, kein Zweifel, sie ist es. Schon zweimal habe ich sie auf der Bühne des Burgtheaters gesehen und auf Anhieb bewundert, zuletzt in Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, wo sie die unglückliche Marianne spielte.

So verblüfft bin ich im ersten Moment über diese Begegnung aus nächster Nähe - bis dahin hatte ich sie ja nur aus der Ferne mit stark geschminktem Gesicht gesehen -, dass es mir die Sprache verschlägt und Dr. Brohh mich mit einem Ausdruck mustert, in dem sich abweisende Skepsis und Mitleid mischen: das Mitleid mit einem offensichtlichen Tollpatsch.

Es ist ein Glück, dass mir die Koschinsky mit einem Lächeln entgegenkommt, einem Lächeln, das ich, um es gleich hier zu Beginn meiner Chronik wahrheitsgemäß zu verzeichnen, von keinem anderen Menschen kenne. Sie hilft mir aus der Verlegenheit, kaum dass ich meinen Namen ausspreche.

Also Sie sind der Carsten Reddlich, dem ich das Loblied auf unsere Aufführung in der Frankfurter Allgemeinen verdanke! Bitte setzen Sie sich doch. Brohh, dieser junge Mann hat ein Gespür für Horvath und unser Burgtheater wie sonst kein anderer Deutscher.

Dr. Brohh nickt ihr zu und legt ihr die Hand auf den Arm.

Liebe Elli, wie schön ich es finde, dass Sie so begeisterungsfähig sind! Glauben Sie mir, die Begeisterung, das ist eine beinahe metaphysische Qualität, die den Ausnahmemenschen von bloßen Kopien unterscheidet. Ich glaube Ihnen sofort, dass der junge Mann Sie Ihren Verdiensten entsprechend gewürdigt hat, alles andere würde ja eine totale Verkennung Ihrer Talente bedeuten. Aber, bitte schön, das heißt noch lange nicht, dass der junge Mann Horvath, Wien oder gar die Wiener Seele wirklich versteht. Lobreden halten, Verrisse schreiben, kurz, halbwegs intelligente Gedanken über dieses und jenes sekretieren, das bringt jeder von uns Federfuchsern ohne viel Geistesaufwand zustande.

Schicken Sie mich zum Beispiel, na sagen wir, unter die Eingeborenen nach Papua-Neuguinea. Sie werden sehen, mit welcher Kunstfertigkeit und Überzeugungskraft ich die Leistungen der dortigen Einheimischen beschreibe, die es neuerdings fertig bringen, von der Jagd auf menschliche Köpfe auf die von Kasuaren umzusteigen, und dass anscheinend mühelos, ohne seelischen Schaden zu nehmen. All das würde ich sozusagen aus dem Ärmel schütteln. Geistesflüge solcher Art gehören nun einmal zu den Hausaufgaben aller halbwegs literarisch gebildeten Menschen. Jeder von uns hat seinen sprachlichen Instrumentenschrank mit allerlei Gerät vollgestopft, das uns in allen erdenklichen Lagen über die Runden hilft.

Aber heißt das schon, dass ich die Einheimischen Papua-Neuguineas wirklich verstehe? Nein, natürlich heißt es das nicht, obwohl ich auf dieser Pazifikinsel doch nur in das Innenleben von Wilden eindringen muss. Aber jetzt machen Sie bitte einen Sprung über mehrere Tausend Jahre Zivilisation zu unseren unendlich viel raffinierteren Wienern mit ihrer hochgezüchteten Seele. Wie soll ein Fremder das begreifen?

Ich kann mir ein heimliches Lächeln nicht verkneifen. Dieses Phantasieren über die Kasuare von Neuguinea und die hochgezüchtete Seele der Wiener, das ist schon der ganze Brohh: witzig, amüsant und alles so leicht dahingesprochen, dass er seine Anhänger zur Not Tage lang auf diese Art zu unterhalten vermag. Und dennoch ziehen seine Worte in diesem Augenblick an mir vorbei. Sie strömen sozusagen ins Leere, weil ich meine Augen nicht von Ellis Gesicht losreißen kann. Ich glaube, ich brauche mich nicht näher zu erklären. Jeder hat in seinem Leben irgendwann diesen Moment erlebt, da ein Funke überspringt, er innerlich sozusagen in Brand gerät. Mein Verstand ist nahezu kalt gestellt, nicht völlig ausgeschaltet natürlich, denn ich gebe mir alle Mühe, meine innere Verfassung unter Verschluss zu halten. Es gibt nun einmal Konventionen, über die man sich nicht hinwegsetzen kann. Doch dass ich von dieser Frau nicht mehr loskommen werde, das ist mir augenblicklich auf eine beinahe schmerzhafte Weise klar. Ihre Stimme, ihr seltsam schwebendes Lächeln, ihr rostbraunes fast bis auf die Schultern fallendes Haar - alles an dieser Frau fesselt mich.

Wissen Sie übrigens, wendet sich Elli mir zu, als hätte sie etwas von meiner inneren Erregung bemerkt und wollte mich von sich selbst und den Witzeleien Dr. Brohhs ablenken, wissen Sie, dass alle Welt ganz wild nach diesem Handaufleger aus Deutschland ist? Forchtel heißt er und hat einen Blick, einen sehr seltsamen, ich würde sogar sagen, einen Blick, vor dem man sich fürchten muss. Er dringt unter die Haut und zieht die einen magnetisch an, während er bei den anderen im Gegenteil Widerstand oder sogar Widerwillen hervorruft. Nur gleichgültig bleibt keiner in seiner Gegenwart. Dieser Mann lässt niemanden kalt.

Brohh bekräftigt ihre Worte mit einem Nicken.

Es scheint, dass gerade unter den Damen der besseren Gesellschaft viele seiner Anziehungskraft erliegen. Ja, in diesem Handaufleger sehe ich eine Art wiederauferstandenen Rasputin, ein Phänomen zweifellos. Man könnte auch sagen, ein Hand-werker im besten und überhaupt ganz wörtlichen Sinne, der ein nahezu ausgestorbenes Gewerbe von neuem belebt. Die meisten benutzen ihre zwei Pranken doch nur, um in Wirtshäusern damit Radau zu machen oder zu anderen mehr oder weniger banalen Verrichtungen. Ich finde diesen Mann – Forchtel heißt er? – zunächst einmal aufregend und durchaus kompatibel mit unserer alten und neuerdings etwas kraftlosen Vindobona. Ich würde sogar sagen, er passt nach Wien, auch wenn er ein Deutscher ist, aber immerhin kommt er aus Rosenheim in Bayern, woher viele unserer fernen Ahnen stammen.

Wissen Sie, spricht Dr. Brohh jetzt zu mir hinüber, wir Österreicher lieben das Immaterielle, wir sind geradezu süchtig nach Geist. Und dieser Mann gebraucht seine Hände, um damit Geist auszusenden, einen feurigen Strom sozusagen, der unsichtbar auf andere überfließt, wie es scheint, vorzugsweise auf den weiblichen Teil unserer Stadt. Energie, nennt er das.

Also Energie, meinetwegen! Energie haben wir hier dringend nötig. Der einzige Fehler des typischen Einheimischen unserer Stadt besteht doch darin, dass ihn unsere zweitausendjährige Zivilisation schlaff und müde machte - manche von uns sind geradezu Defätisten. Wenn da jemand aus dem von roher Kraft immer noch strotzenden Bayern kommt, vollgeladen mit Energie, dann soll er willkommen sein.

Mitten in seiner Tirade bricht Brohh plötzlich ab, räuspert sich. Seine Augen nehmen einen sinnenden Ausdruck an, genauer gesagt, schaut er über Elli Koschinskys und meinen Kopf hinweg irgendwohin in die Leere. Schluss! Das Zeichen ist unverkennbar. Elli begreift so gut wie ich, dass der besondere Moment gekommen ist, wo der schöpferische Geist sich auf Dr. Brohh niedersenkt, mit schnellem Flügelschlag sozusagen. Die Audienz ist vorüber. Wir dürfen gehen.

Wir stehen vor dem Griensteidl auf dem Michaelerplatz.

Nach der Lektüre Deines schönen Artikels, sagt Elli zu mir, hatte ich sofort den Wunsch, Dich irgendwann zu treffen.

Die Wirkung dieser Worte vermag ich im Nachhinein nur schwer zu beschreiben. Diese Zeilen notiere ich sehr viel später, und ich verfüge natürlich über genug Erfahrung als Feuilletonist, um zu wissen, dass ein Autor sich hüten sollte, seine Gefühle auf allzu offensichtliche Art auszudrücken. Deshalb erlaube man mir die ornithologische Verfremdung. An diesem Tag glaube ich über den Kohlmarkt mit weit geöffneten Schwingen zu schweben und dabei nur ein einziges Bild vor meinen Augen zu sehen, das Bild dieser Frau. Ein oder zweimal wurde ich auf dem Graben angesprochen, aber ich fliege weiter, nehme niemanden der an mir Vorbeiströmenden wahr. Wie im Traum gelange ich zu meiner Wohnung in der Seilerstätte.

Wien!

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