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Die schöne Leich
ОглавлениеDr. Dombrowsky fühlte sich natürlich besonders geehrt, dass man ihm diesen Fall anvertraute. Keinerlei äußere Spuren deuten auf ein Organversagen, so teilte man ihm vor seiner Ankunft im Leichenhaus mit. Noch dazu handele es sich um einen ehemaligen Österreich-Meister im Kugelwerfen.
Von der Richtigkeit dieser Feststellung konnte sich Dombrowsky alsbald durch den Augenschein überzeugen. Üppige Muskelpakete ließen die Oberarme wie wohlgerundete Hühnerkeulen aussehen. Es war, mit anderen Worten, ein perfektes Mannsbild, das da auf der Bahre unter dem Schein der Neonbeleuchtung lag, nur eben tot – und darin lag die Herausforderung, die Dombrowsky zu seiner eigenen und zur Befriedigung der ärztlichen Kunst meistern sollte. Es galt, die Ursache für dieses merkwürdige Ableben zu finden.
Ereignet hatte sich der Unfall – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen durfte – auf der Mitte der Kreuzung, wo die Josefstädterstrasse nach einem Rechts- und einem daran anschließenden Linksknick den Gürtel quert. Die Beifahrerin, eine Freundin des Sportlers, brachte, von der Polizei befragt, nichts als stammelnde Laute über die Lippen. Boris hätte, so gab sie zu Protokoll, kurz zuvor noch einen Witz über einen seiner Kollegen vom Sportsverein gerissen, so einen Herrenwitz, wissen Sie, den ich als Frau nicht erzählen kann. Er habe wild gelacht, ja, aber leider nur kurz, denn gleich darauf sei er mitten im Lachen verstummt.
Die Frau verstummte nun ebenso und begann still zu schluchzen.
Nun fahr doch endlich, habe sie ihren Freund gedrängt. Die Ampel sei längst auf Grün gesprungen, und die Fahrer in ihrem Rücken hätten schon wild zu hupen begonnen. Aber er fuhr nicht, saß einfach da. Sie hätte ihm einen Puff in die Rippen versetzt, und dann, ja dann sei sein Kopf einfach so nach vorne gekippt.
Erneut musste die Polizei ihr Schluchzen abwarten, bis sie am Ende hervorstieß:
Wissen Sie, ich kann es einfach nicht fassen, das ist so unbegreiflich!
Und Sie selbst haben überhaupt nichts bemerkt, fragte einer der Polizisten.
Doch, es sei ganz eigenartig gewesen. Während er seinen Witz erzählte – wir befanden uns da schon fast in der Mitte des Gürtels – hätte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln am ganzen Körper verspürt. So etwas habe sie schon einmal erlebt, damals auf einem Ferienaufenthalt in der Nähe von Barcelona, als der Weg unter einer summenden und reichlich tief hängenden Hochspannungsleitung verlief. 380 000 Volt, ein seltsames Gefühl. So ähnlich sei es auch auf der Kreuzung gewesen.
Dombrowsky hatte den Akt sorgfältig gelesen. Als er auf die Stelle mit dem Kribbeln stieß, konnte er sich eines Lächelns nicht erwehren. Typisch weiblich, dachte er. Was die Frauen sich so zusammenreimen! Mitten in Wien Hochspannung auf einer viel befahrenen Kreuzung. Absurd! Der Mann hatte einen Schaden, das war alles, und er, Dombrowsky, würde diesen Schaden aufgrund seiner langen Erfahrung als Gerichtsmediziner alsbald ermitteln und mit vorschriftsgemäßer Ausführlichkeit beschreiben.
Zu diesem Zwecke wurde der ehemalige Kugelwerfer nach allen Regeln der ärztlichen Kunst in seine sämtlichen Teile zerlegt: das Herz, die Lungen, die Milz und die Leber, natürlich auch das Stammhirn und die Nebenhirne. Dieser Arbeit vermochte Dombrowsky gerade dann mit besonderer Genugtuung zu obliegen, wenn sie einen jung Verstorbenen betraf, denn dann konnte man noch das großartige Werk der Evolution bewundern, die in allerhöchster Präzision und ohne Scheu vor einem unglaublichen Aufwand an Komplexität das perfekte Uhrwerk eines lebenden Organismus erschuf.
Eine schöne Leich, murmelte Dombrowsky immer wieder und bewies damit auf seine besondere Art, wie groß die Ehrfurcht des Wieners vor dem Tode in seiner erhabenen Schönheit ist. Natürlich ließ Dombrowsky diesmal keinen einzigen Schritt der üblichen Prozedur außer Acht. Die einzelnen Organe wurden fein säuberlich abgetrennt, zerlegt, abgelichtet und physiologisch wie nach dem Augenschein der sorgfältigsten Begutachtung unterworfen, Gewebeproben entnommen und an die einschlägigen Institute zur genaueren Untersuchung verschickt.
Das Ergebnis war dann freilich auf schmerzliche Art enttäuschend – zumindest für einen so gewissenhaften Gutachter wie Dombrowsky. Man muss sogar sagen, es war sehr enttäuschend, denn schließlich ging es dabei um seine ärztliche Reputation. Ein Mensch stirbt ja nicht einfach so, von einem Moment auf den anderen und noch dazu mitten beim Erzählen eines deftigen Herrenwitzes. Eine Wirkung muss ihre Ursache haben, ihren nachweisbaren Grund - das war und ist ein Grundsatz der Medizin, an dem nur Schwachsinnige und Esoteriker zu rütteln oder zu zweifeln wagen. Doch Dombrowsky, einer der angesehensten Spürhunde seiner Zunft, dem auch der kleinste Webfehler eines menschlichen Körpers nicht zu entgehen vermochte, entdeckte zwar, dass die Leberwerte des Mannes aufgrund einer zehn Jahre zuvor ausgeheilten Hepatitis – unerfreuliche Nachwirkung eines vormaligen Indienbesuchs - den Normwert nicht völlig erreichten, doch in jeder sonstigen Hinsicht war der Mann kerngesund, ja strotzte geradezu vor Gesundheit. Dombrowsky musste sich eingestehen, dass es keinen Grund für sein Ableben gab, oder dass - genauer gesagt, denn einen Grund musste es ja geben, da nichts auf dieser Welt grundlos geschieht - dass er, Dombrowsky, diesen Grund nicht zu finden vermochte. Das wurmte ihn schrecklich, bereitete ihm geradezu geistige Pein. Andererseits war Dombrowsky ein von Grund auf ehrlicher Mann, ehrlich genug jedenfalls, genau das in seinem Befund zu vermerken.
Wörtlich bezeichnete er das Ableben von Boris Kowatsch als unerklärlich. Das hätte er besser nicht tun sollen!