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Der zweite Stadtgründer von Edo –
Tokugawa Ieyasu (1543 – 1616)
ОглавлениеTokugawa Ieyasu ergriff im Herbst 1590 Besitz von Edo und begann den Ausbau zu seiner neuen Hauptstadt. Die Burg war in schlechtem Bauzustand und zu klein, es war eine komplette Neuplanung vonnöten. Genau wie bei der Hauptstadt Kyōto waren die geomantischen Voraussetzungen günstig. Wie erforderlich gab es im Osten einen Fluss, im Süden die See, im Westen eine große Straße (die Tōkaidō) sowie im Norden Berge. Das geomantisch bedeutende Problem der spirituellen Sicherung der gefährlichen Nordostecke lösten Ieyasus Nachfolger durch den Bau des Kan’ei-ji-Tempels auf dem Hügel von Ueno (s. Die großen Tempel von Edo – Tenkai, S. 78). Zwar gab es in der Bucht von Edo keine Möglichkeit einen großen Hafen zu erbauen, aber die zahlreichen in sie mündenden Flüsse und Kanäle erlaubten es, an ihnen entlang Anlege- und Umschlagplätze sowie reihenweise Lagerhäuser zu errichten. Die Flüsse von den nördlichen Bergen sicherten die Trinkwasserversorgung, auf der weiten Musashi-Ebene konnten die zur Versorgung von Edo nötigen Lebensmittel erzeugt werden. Verfeinerte Produkte, vor allem Sake, sowie Baumaterialien konnten per Schiff aus dem Westen, besonders aus Ōsaka, herangebracht werden. Ieyasu ernannte zügig Verantwortliche für den Bau und die Bauaufsicht, ließ alles vermessen und die Arbeiten am Kanalsystem von Edo beginnen. Zuerst wurde der Dōsanbori-Kanal zwischen dem Hirakawa-Fluss und dem Haupttor der Burg, dem Ōte-mon, angelegt. Für eine leistungsfähige Trinkwasserversorgung sorgten der Tameike-Teich und die Wasserwerke von Kanda Jōsui. Gleichzeitig entstanden Straßen, Brücken und weitere Kanäle, wobei die Infrastruktur von Anfang an auf Wachstum ausgelegt war. So wurden für herbeiströmende bürgerliche Zuwanderer große Blocks von gut 120 × 120 Metern mit zweistöckigen Häusern nach dem Vorbild von Kyōto angelegt. Die Straßen waren bis zu 18,2 Meter breit, was schon damals zu Diskussionen im Handel führte, ob die große Breite nicht eher vom Shoppen abhalten, als es fördern würde.
Ieyasu war in seinen Entscheidungen von zwei gegensätzlichen Prinzipien geprägt: Einerseits hatte er stets pragmatisch und flexibel agiert und sich rechtzeitig Neuem geöffnet. Dies war in den Turbulenzen des 16. Jhs. notwendig gewesen, um seinem Haus das Überleben zu sichern. In den Jahren ab 1600 stand Tokugawa Ieyasu dann als der mächtigste der Fürsten Japans ganz oben, 1603 wurde er Shōgun und damit der offiziell vom (machtlosen) Kaiser mit der Führung des Landes Beauftragte. Es ging nun nicht mehr darum, die Macht zu erringen, sondern sie zu sichern. Dies tat er mit konservativen Mitteln, um gesellschaftliche Umstürze und den schnellen Aufstieg potenzieller Rivalen zu verhindern. Von nun an sollte jeder in der Gesellschaft seinen Platz kennen und dort verbleiben. Die Teilung der damaligen Gesellschaft in Adel (Samurai), Bauern, Bürgerliche (Kaufleute und Handwerker) sowie Geistliche (Buddhisten und Shintō-Priester) spiegelte sich deutlich in der Zuweisung von Siedlungsbereichen in der Stadt Edo wider. Ieyasus alte Gefolgsleute errichteten ihre Anwesen an strategisch wichtigen Stellen, wie vor dem Haupttor der Burg oder an Flussufern. Andere Samurai ließen sich im Norden und Westen nieder, wo es hügeliger war. Bis heute hat sich die grobe Unterteilung von Edo/Tōkyō in die Bereiche »Yamanote« und »Shitamachi«, erhalten.
Yamanote bezeichnet die etwas erhöht liegenden Viertel vorwiegend im Westen, während sich die »Untere Stadt«, das bürgerliche Shitamachi, im Osten zur Bucht hin erstreckt. Beide sind durch eine Nord-Süd-Linie etwa von Ueno bis Meguro abgegrenzt, aber wegen des hügeligen Terrains gab es von Anfang an auch kleinere Shitamachi-Viertel mitten im Yamanote-Gebiet. Die bürgerlichen Viertel von Shitamachi entstanden im zentralen und südöstlichen Stadtgebiet, bevorzugt an Brücken, Kanälen und an der Bucht. Das zentrale Viertel Honchō lag östlich der Tokiwa-Brücke und differenzierte sich schnell nach Funktionen, etwa in Blöcke für die Holzversorger, andere für die Menschen im Wassertransport-Gewerbe und auch in Märkte. Die Bürgerlichen errichteten an den vier Seiten ihrer Wohnblocks ihre Stadthäuser (machiya), die typischerweise sowohl dem Wohnen als auch dem Erzeugen und Verkaufen von Waren dienten. Auf der Innenseite der Blocks standen Nebengebäude und geschützte Lagerhäuser, ganz in der Mitte des Blocks dann ein kommunaler Bereich mit Latrinen und einem Müllsammelplatz. Tempel und Schreine bekamen oft Areale zugewiesen, die an Hauptstraßen lagen, also gut zu erreichen waren. Diese Areale waren teilweise so groß, dass auch nach der Bebauung Freiflächen übrig blieben, welche die Funktionen zentraler Plätze in europäischen Städten übernehmen konnten, also zum Handel, zu Versammlungen und nicht zuletzt als Rückzugsraum bei Naturkatastrophen dienten. Tagsüber gab es relativ freie Bewegungsmöglichkeiten, nachts aber wurden die Aus- und Zugänge zu den Bürgervierteln geschlossen.
Nach und nach begann ein dichtes Netz von Kanälen die Stadt zu durchziehen. Nach einigen Jahren ging man vom rasterförmigen Stadtplan ab und ordnete alle Viertel spiralförmig an, ausgehend vom Herzen Edos, der gewaltigen Burg. Die Spirale und das Kanalsystem konnten sich immer weiter nach außen entwickeln und die Stadt immer weiter wachsen lassen, selbst in die Bucht von Edo/Tōkyō hinein, wo Landauffüllungsprojekte bis heute immer wieder Neuland schaffen.
Die Burg war das zentrale Element der Stadt, von der aus Shōgun Tokugawa Ieyasu und seine Nachfolger Stadt und Land beherrschten. Ieyasu hätte sich wohl auch für Kyōto als Amtssitz entscheiden können, hielt aber an seiner im Entstehen begriffenen eigenen Hauptstadt fest. Hier lag seine Burg, nicht der Kaiserpalast, im Mittelpunkt, alles richtete sich nach ihr und ihrem ranghöchsten Bewohner aus. Die Viertel der anderen Gruppen der Stadtbewohner lagen um die Burg herum angeordnet, wobei die vielen Kanäle und Gräben primär Teile des Sicherheitssystems der Burg, und erst in zweiter Linie Transportadern für die Wirtschaft waren. Wo ein Brückenbau die Sicherheit der Burg geschwächt hätte, unterblieb er und die Bürger mussten mit Fähren übersetzen. Die Betonung des herrschaftlichen Aspekts in der Stadttopographie entspricht dem patriarchalischen Staatsverständnis der Tokugawa. Die Trennung der sozialen Gruppen verdeutlicht die Ideologie, dass ein jeder an seinen Platz gehöre und soziale Mobilität nicht mehr erwünscht sei. Rangunterschiede zwischen den sozialen Gruppen wurden schon durch die Größe des zugewiesenen Platzes sichtbar: Insgesamt 70 % der zunehmend knapper werdenden Stadtfläche war Fürsten und anderen Samurai vorbehalten, 14 % verschiedenen Tempeln und Schreinen und nur 16 % den Bürgern.
So wurden in den Jahren um 1600 bereits die Grundlagen der Stadttopographie gelegt, die Edo prägen sollte, bis es 1868 zu Tōkyō wurde und die Moderne Einzug zu halten begann.
Als Tokugawa Ieyasu am 01. 06. 1616 im Alter von 73 Jahren starb, vermutlich entweder an Magenkrebs oder an den Spätfolgen einer 1615 vor Ōsaka erlittenen Wunde, hatte er alle seine Rivalen besiegt und überlebt. Bis zur Mitte des 19. Jhs. wagte es niemand die Tokugawa-Shōgune ernsthaft herauszufordern und keine Stadt Japans konnte mit der Hauptstadt Edo gleichziehen, obwohl sich viele Fürsten beim Ausbau ihrer Burgstädte in der Provinz am großen Vorbild Edo orientierten.