Читать книгу Tokyo - eine Biografie - Till Weber - Страница 9
Der erste Stadtgründer Ōta Dōkan (1432 – 1486)
ОглавлениеIn den Jahrhunderten vor und nach Taira Masakado galten die Provinzen »östlich der Bergkette« (Kantō) als zurückgeblieben und für einen kultivierten Menschen aus dem Kansai-Gebiet (den Provinzen »westlich der Bergkette« einschließlich der Hauptstadt Kyōto) als unerträglich. Die Bewohner des Kantō-Gebiets wurden als azuma ebisu (»östliche Barbaren«) bezeichnet, und das waka-Gedicht des aus Kyōto stammenden Adligen Ariwara Narihira (825 – 880) wurde zu einem Klassiker, der die Einsamkeit eines gebildeten Reisenden in dieser Region ausdrückte. Er hatte einen ihm unbekannten Vogel gesehen und von den Einheimischen erfahren, dass man diesen »Hauptstadtvogel« nannte.
»Wenn, wie dein Name sagt,
Du ein Vogel der Hauptstadt bist,
Dann sag mir bitte dieses:
Ist die Person, die ich zuhause liebe,
Noch am Leben oder nicht?«
Diese trostlose Momentaufnahme kontrastiert mit einem anderen waka-Gedicht, das in derselben Region 1486 als Sterbegedicht von Ōta Dōkan verfasst wurde:
»Hätte ich nicht gewusst,
Dass ich schon
Tot bin,
Beklagte ich den Verlust
Meines Lebens.«
Was war es, dass das Leben im Osten so viel lebenswerter gemacht hatte für Ōta Dōkan? In der Tat hatte sich seit dem 9. und 10. Jh., den Zeiten von Ariwara Narihira und Taira Masakado, viel verändert in der Region. Dazu gehörten das Auftreten des Ortsnamens »Edo« und ein bedeutender zivilisatorischer Aufschwung.
Ariwaras Kantō war noch im Wesentlichen eine einzige Graswüste mit vielen Sümpfen, die den größten Teil der Musashi-Ebene einschließlich des heutigen Stadtgebiets von Tōkyō bedeckte. Nur zwei Überlandstraßen führten vom Landeszentrum im Westen hierher, die Tōkaidō am Pazifik entlang sowie die Tōsandō über die Bergketten, die man heute auch als die Japanischen Alpen bezeichnet. Es gab reichlich Wasser von Flüssen, allen voran vom Arakawa und dem mächtigen Tonegawa, der den Kantō in einen Nord- und Südteil teilt. Häufige Überschwemmungen weiter Teile der Ebene erschwerten das Leben der wenigen Bauern, und auch von Mückenplagen wird berichtet. Am Meer gab es Fischer, außerdem wohnten Gruppen rauer Krieger vom Schlage des Taira Masakado und seiner Rivalen auf ihren Anwesen. Einer von diesen war der lokale Machthaber Edo Shigenaga, der ein Parteigänger der Minamoto war, die 1185 ihre neue Hauptstadt und den Sitz des Shōgun, also des faktischen Machthabers des Landes, nach Kamakura im Süd-Kantō verlegten. »Edo« bedeutet »Tor zur Bucht«, und bezog sich auf den von der gleichnamigen Familie kontrollierten Landstrich an der heutigen Bucht von Tōkyō. Die Stelle lag strategisch günstig am weiten Delta des Tonegawa. In der Nebenbucht von Hibiya gab es reichlich Fisch zu fangen, der Hirakawa-Fluss gab Frischwasser und die Kōjimachi-Hügel boten Schutz vor Überschwemmungen und Feinden. Zudem gab es einen Weg entlang der Küste nach Kamakura. Edo Shigenaga errichtete auf den nördlichen Hügeln eine Befestigungsanlage, das erste Fort Edo.
Im späten 15. Jh. wurde der größte Teil des südlichen Kantō-Gebiets vom Fürsten Uesugi Sadamasa (1443 – 1494) kontrolliert, der als sechste Person vom Shōgun zum Kantō kanrei ernannt worden war, also zu seinem offiziellen Stellvertreter in dieser Region. Das Shōgunat war zur Familie Ashikaga gewechselt, die in Kyōto residierte, und der Kantō kanrei hatte Kamakura zu seiner Regionalhauptstadt gemacht. Einer der Hauptvasallen der Uesugi war der 1432 geborene Ōta Sukenaga, ein robuster Kriegsmann. Ōta war vor allem als Stratege bekannt und erkannte die günstige Lage des alten Forts Edo. 1457 begann er umfangreiche Bauarbeiten und es entstand eine neue Burg, welche die Keimzelle der späteren Burg der Tokugawa-Shōgune und auch die Stätte des heutigen Kaiserpalastes werden sollte.
Ōtas Burg Edo dürfen wir uns nicht vorstellen wie die großen japanischen Schlossanlagen wie Himeji oder Ōsaka mit meterhohen Steinsockeln, riesigen Grabenanlagen und weißverputzten Aufbauten mit schweren Dachziegeln aus Ton. Diese Anlagen entstanden in ihrer Mehrzahl erst an der Wende vom 16. zum 17. Jh. Im 15. und größtenteils noch im 16. Jh. wurden Erdwälle aufgeschüttet und Palisaden und Gebäude aus Holz ausgeführt. Statt einer Lage in der Ebene mit weiten Gräben wählte man Lagen auf Hügel- oder Bergkuppen, deren topografische Merkmale geschickt in den Verteidigungsplan einbezogen wurden. Von Ōtas Edo ist bekannt, dass die Burg fünf »steinerne« Tore aufwies, was höchstwahrscheinlich nur bedeutete, dass die Tore steinerne Sockel besaßen. Dennoch demonstrierte das im damaligen Kantō-Gebiet erhebliche Stärke. Das Areal war in einen Haupthof, einen zweiten Hof und einen äußeren Hof dreigeteilt; hier liegt der Ursprung der späteren Höfe Honmaru, Ninomaru und Sannomaru der Burg der Tokugawa, wie sie heute noch in Tōkyō existieren. An Bauwerken gab es Wirtschafts- und Lagergebäude, Unterkünfte, zwei Türme sowie eine Residenz für Ōta selbst, der außerdem auch in Kamakura eine Residenz besaß.
Als der Ōnin-Krieg von 1467 – 1477 die ferne Hauptstadt Kyōto verwüstete, erwies sich das als Glücksfall für den Herrn von Edo. Viele Flüchtlinge mit spezialisierten Berufen oder sogar von Adel erreichten die Region und sorgten für einen wirtschaftlichen wie kulturellen Aufschwung. Das Dorf Hirakawa am gleichnamigen Fluss unterhalb der Burg entwickelte sich zu einer aufblühenden kleinen Burgstadt (jōkamachi), in die jetzt auch Händler kamen, die Fisch, Reis, Tee und sogar Importwaren aus anderen Ländern Asiens mitbrachten. Die weite Brücke Takahashi über die Mündung des Hirakawa wurde zu einem frühen Wahrzeichen von Edo, so wie der von Ōta Dōkan gegründete Sannō-Hie-Schrein zu einem der drei bedeutendsten Shintō-Heiligtümer Tōkyōs wurde. Die Stadtgestalt wurde auch durch die Umleitung eines Teils des Hirakawa-Flusses verändert, wodurch östlich der Kanda-Brücke ein neuer Fluss entstand, der heute von der zentralen Brücke Nihonbashi überquert wird, dem Ausgangspunkt der bedeutendsten Straßen des Landes. In den Jahrhunderten nach Ōta wurden weitere Flüsse umgeleitet und kanalisiert, Hügel abgetragen und Teile der Bucht aufgefüllt, bis sich die Stadttopographie zur heutigen entwickelte.
Ōta Sukenaga schor sich schon 1458 den Kopf und wurde Laienpriester. Dabei nahm er den buddhistischen Namen Dōkan an. Solche Konversionen waren unter Samurai nicht selten und sie bedeuteten in der Regel kein völliges Entsagen von der Welt. Sie konnten aber Entlastung von den Tagesgeschäften und von familiären Pflichten bringen.
Tokugawa Yoshinobu (1837 – 1913), der letzte der 15 Shōgune aus seinem Hause, aufgenommen 1867 in Ōsaka in höfischer Tracht von Frederick Wiliam Sutton aus der königlich-britischen Marine. In diesem Jahr gab der letzte Shōgun sein Amt an den Kaiser zurück und wurde zum Privatmann.
Ōta Dōkans Persönlichkeit ging weit hinaus über die eines erfolgreichen Militärs und Burgstadtgründers. Von ihm erzählt man sich eine Geschichte, wie er sich seiner mangelnden Bildung bewusst wurde. Eines Tages weilte er auf der Jagd, als ein plötzlicher Regen über ihn hereinbrach. Er hielt an einer einfachen Hütte an und fragte das dort lebende Mädchen, ob sie ihm einen Regenumhang aus Reisstroh leihen könnte. Wortlos brachte sie ihm ein Japanisches Goldröschen (yamabuki). Ōta Dōkan zog verwirrt und durchnässt von dannen. Erst später in seiner Residenz machte ihn ein Gefolgsmann auf die Bedeutung der Blumengabe aufmerksam. In einem alten Gedicht des Prinzen Kaneakira heißt es, das Goldröschen blühe sehr schön, aber brächte nichts hervor. Letzteres kann im Japanischen ein Wortspiel mit »hat keinen Regenmantel« bedeuten. Das beschämte Mädchen hatte ihm also »durch die Blume« zu verstehen gegeben, dass es zu arm war, um einen Regenmantel zu besitzen.
Von nun an arbeitete Ōta Dōkan an seiner Bildung und schrieb bald selbst Gedichte. Eines seiner berühmtesten, neben seinem Sterbegedicht, beschreibt die Lage seiner Burg Edo:
»Meine Behausung
Grenzt an einen Kiefernhain
An der blauen See.
Von ihrer bescheidenen Traufe aus
Kann man den sich erhebenden Fuji sehen.«
Auch für dieses Gedicht wird Ōta Dōkan bis heute geschätzt und geliebt, fasst es doch die über die Jahrhunderte andauernde Freude der Japaner und ihrer Besucher zusammen, wenn sie den majestätischen Berg Fuji von Edo/Tōkyō aus zu Gesicht bekommen.
Ōta Dōkan war jedoch kein langer Lebensabend vergönnt. Er musste weiterhin die Pflichten eines Vasallen gegenüber Uesugi Sadamasa erfüllen, der in erbitterten Auseinandersetzungen mit regionalen Rivalen stand. Eine dieser Familien, die Hōjō, sollten die Region einschließlich Edo für den größten Teil des 16. Jhs. beherrschen. 1486 wurde Ōta von seinem Herrn fälschlich der Illoyalität beschuldigt und kam in Sagami ums Leben. Vermutlich geschah dies, wie unter Samurai üblich, durch die förmliche Übermittlung einer »Einladung« zum Seppuku, dem rituellen Selbstmord durch das eigene Schwert. Ōta Dōkans eingangs zitiertes Sterbegedicht drückt gleichzeitig das Bedauern über das Ende eines so reichhaltig gewordenen Lebens aus, ohne die Haltung der Todesverachtung aufzugeben, die von einem wirklichen Samurai zu erwarten war. Ōta Dōkan ging, aber Burg und Stadt Edo blieben auf der Landkarte. Sie waren zu Orten geworden, in denen es sich zu leben lohnte.
Ōta Dōkan wird, neben Tokugawa Ieyasu, heute als zweiter Stadtgründer von Tōkyō gefeiert, besonders am 1. Oktober, dem offiziellen Stadtgründungstag. 1956 war er sogar die Hauptperson des Gedenkens im Rahmen der offiziellen 500-Jahresfeier des Großraums Tōkyō. Sich auf den Burgbaubeginn unter Ōta Dōkan zu beziehen, mochte günstig sein, um nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs den historischen Bogen weiter zurück zu spannen und der Hauptstadt ein ehrwürdiges Alter zu geben. Seit 1956 also nimmt Ōta Dōkan einen vorderen Platz ein unter den regionalen Heldenfiguren Japans. Zahlreiche Denkmäler, Bücher, Filme und andere Medien legen davon beredtes Zeugnis ab.