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Die schlanke Frau mit den braunen Locken schaute aus dem Fenster. Auf der Straße war keine Menschenseele zu sehen. Es gab nicht mal Spuren im Schnee. Kein Wunder. Die Pendler, die im Westen Arbeit hatten, waren gestern sofort losgefahren, nachdem die Straßen auf Rügen frei waren und die Eisenbahn wieder fuhr. Die anderen Bewohner der Plattenbausiedlung waren Rentner oder hatten keine Arbeit. Obwohl Bergen die größte Stadt auf Rügen war, gab es wenig zu tun. Erst recht im Winter.

Nelly Blohm kam sich hier oft verloren vor. All ihre Schulfreunde waren längst nach Hamburg, Kiel oder Bremen gezogen. Der Arbeit hinterher. Nur sie war geblieben. Für eine Polizistin gab es auf Rügen eine Menge zu tun. Häusliche Gewalt, Körperverletzung, Diebstahl, Drogendelikte. Schon öfters hatte sie überlegt, sich wenigstens nach Stralsund versetzen zu lassen. Aber wie sollte sie dort als alleinstehende Mutter im Polizeidienst klarkommen. Hier hatte sie wenigstens ihre Mutter, die sich um Lukas kümmern konnte.

Gerade heute wurde ihr das bewusst. Der Vierjährige spielte auf dem Küchentisch mit seinen neuen Matchbox-Autos. Er hatte sie mit einer Polizeiwache und einer Feuerwehrstation zu Weihnachten bekommen. Immer wieder schickte er den Streifenwagen und das Krankenauto auf den Weg zu einem Unfall zwischen einem Tankwagen und einem Pkw. Dazu imitierte er mit einem leisen Summen die Sirenen. Nelly hatte einen Anruf des Stralsunder Polizeichefs bekommen. Im ersten Moment hatte sie sich gefreut. Ein ungeklärter Todesfall auf Hiddensee. Ein Toter auf einem gesunkenen alten Dampfer. Bökemüller hatte an sie gedacht, die junge Kommissarin aus Bergen. Doch der Stolz war im nächsten Moment der Sorge um Lukas gewichen. Sie würde ihren Sohn eine Weile allein lassen müssen. Es war aussichtslos, bei diesen Wetterverhältnissen jeden Abend von Hiddensee nach Bergen zurückzukommen. Sie wusste, dass der Fährverkehr seit Neujahr eingestellt war, weil die Fähre mit Motorschaden in Schaprode festlag. Natürlich hatte ihre Mutter sofort versprochen zu kommen, um sich um Lukas zu kümmern. Gleichzeitig hatte sich aber auch Nellys schlechtes Gewissen gemeldet, ihre Mutter so in Beschlag zu nehmen und die eigenen Pläne der rüstigen Rentnerin zu durchkreuzen.

Nelly streichelte Lukas über den Kopf. Er hatte ihre Ankündigung, ein paar Tage auf Dienstreise gehen zu müssen, nicht weiter tragisch genommen. Die Aussicht auf selbst gemachte Eierkuchen und Makkaroni mit Tomatensoße, die keiner besser machen konnte als seine Oma, war ihm Trost genug. Aber dann hatte er bei Nelly eine Wunde aufgerissen. „Triffst du den Stefan auf Hiddensee?“

Lukas hatte Stefan Rieder kennengelernt, als er im Herbst einmal bei ihr übernachtet hatte. Ihr Sohn hatte ihren Hiddenseer Kollegen gleich gemocht und beide hatten eine Weile miteinander gespielt. Lukas hatte Stefan Rieder nicht vergessen.

„Er wollte doch wiederkommen und mit mir spielen. Das hat er mir versprochen.“

„Du weißt doch, dass Stefan sehr krank ist. Deshalb haben wir doch auch in seinem Haus in Vitte gewohnt, als ich ihn dort vertreten habe. Und jetzt mach ich das wieder.“

„Wie lange ist der Stefan noch krank?“, fragte Lukas weiter.

„Ich weiß es nicht.“

Nellys Augen waren feucht geworden, wie immer, wenn sie an Stefan Rieder erinnert wurde. Er würde sicher nie wieder in diese Wohnung kommen, nie wieder mit Lukas spielen und nie wieder mit ihr das Bett teilen, wie in dieser einzigen gemeinsamen Nacht. Silvester hatte sie sich beim Anstoßen mit ihrer Mutter auf das neue Jahr im Stillen versprochen, nein: befohlen, sich Rieder endlich aus dem Herzen zu reißen. Aber das war leichter gesagt als getan. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie eine Frau die Straße heraufkommen. Sie pflügte mit ihren schnellen Schritten durch den Schnee. Nelly erkannte sie trotz Mütze sofort.

„Oma kommt“, rief sie Lukas zu. Der Junge sprang vom Tisch auf, rannte zur Tür und stürmte den Hausflur hinunter. ‚Nicht gerade sehr vorsichtig für eine Polizistin und Mutter‘, dachte Nelly bei sich. Sie klappte den Laptop zusammen, denn sie hatte schon versucht, ein paar Dinge über den Toten, einen gewissen Martin Dehne, zu erfahren, war aber nicht weit gekommen.

Ihre Mutter kam herein, von Lukas mit tausend Fragen bedrängt, was sie alles tun würden, denn der Kindergarten hatte noch bis zum Ende der Woche geschlossen. Nicht gerade praktisch für berufstätige Mütter wie Nelly. Sie hätte noch Urlaub gehabt, aber nun rief sie die Pflicht.

Nellys Mutter nahm sich einen Kaffee. „Ist das eine gute Idee?“, fragte sie ihre Tochter. „Was meinst du?“

„Tu doch nicht so. Du weißt ganz genau, was ich meine. Hiddensee wird dir nicht guttun. Erinnere dich, wie du im Dezember wiedergekommen bist. Total durcheinander, weil du diesen Rieder nicht aus dem Kopf bekommst.“

Ihre Mutter setzte sich an den Tisch.

„Das ist vorbei“, belog Nelly sich und ihre Mutter. „Jetzt geht es um einen Fall. Vielleicht einen Mord. Das ist auch eine Chance.“

„Ich glaub dir kein Wort. Wie willst du überhaupt rüberkommen? Fährt doch kein Schiff.“

„Mit dem Hubschrauber. Die Kollegen der Spurensicherung holen mich vom Flugplatz Güttin ab.“

„Außerdem hast du noch Urlaub.“

„Mutti! Du erinnerst dich doch sicher noch an die Zeiten mit Papa, wie das bei einem Polizisten sein kann.“

„Ja, das tu ich. Ich weiß es noch sehr gut“, seufzte ihre Mutter. „Sein Pflichtbewusstsein hat ihn mit dreiundsechzig ins Grab gebracht. Immer war jeder Fall wichtiger als die Familie oder Urlaub.“

Nelly legte ihrer Mutter die Arme von hinten um den Hals. „Vielleicht ist es doch nur ein Unglücksfall und ich bin heute Abend schon wieder zurück.“

Ihre Mutter griff nach ihren Händen und drückte sie. „Du bist jedenfalls ganz die Tochter deines Vaters. So hat er mich auch immer vertrösten wollen. Dann war er Tage, Wochen weg, kam nur mal nach Haus, um die Wäsche zu wechseln.“

Lukas kam durch die Tür und schleppte mehrere Kinderbücher heran. Er legte sie auf den Tisch. „Kannst du mir jetzt endlich vorlesen?“, quengelte der Kleine und versuchte den Schoß seiner Oma zu erklimmen.

„Ich seh schon, ich werde hier nicht mehr gebraucht“, bemerkte Nelly spitz. „Ich muss auch los. Bis später, ihr beiden.“

Harter Ort

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