Читать книгу Harter Ort - Tim Herden - Страница 6

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Ein Schrei. Es war ein Schrei gewesen. Er hatte einen Schrei gehört. Oder hatte er sich getäuscht? Hatte er diesen Schrei nur geträumt?

Stefan Rieder drehte den Kopf hin und her. Nein, da war nichts. Wieder starb ein Stück Hoffnung. Denn nun war wieder nur das Glucksen des Wassers zu hören, wie es an der Bootshaut leckte. Als wolle es sich Appetit holen, bevor es das leichte Boot in die Tiefe ziehen würde. Das Paddelboot antwortete mit dem Knarren der hölzernen Spanten. Je tiefer die Wellentäler, umso lauter stöhnte der Bootskörper. Noch hielt er stand.

Um sich herum sah Rieder nur tiefe Dunkelheit. Kein Blinken eines Leuchtfeuers. Keine Bojen. Keine Positionslichter eines Schiffes. Das Meer glitzerte nicht, sondern erschien wie ein wogender dunkelgrauer Sumpf. Hier draußen gab es keine Wellenkämme. Nur Wasser. Beständig bewegte es sich auf und ab. Darüber lag ein grauer Nebelschleier.

Wie lange hatte er geschlafen? Ein paar Minuten? Ein paar Stunden? Rieder wusste es nicht. Auch nicht, wie lange Damp und er jetzt schon über die Ostsee trieben. Er war froh gewesen, als endlich der Schlaf über die Angst gesiegt hatte. Das nährte seinen Wunsch, den Tod nicht zu spüren. Den nassen Tod. Hier auf dem offenen Meer. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, so hatte er den Glauben an eine Rettung längst aufgegeben.

Er rief nach Damp. Doch von hinten kam keine Antwort. Umdrehen konnte er sich nicht. Das verhinderten die straffen Fesseln an seinen Unterarmen. Was war mit Damp? Noch einmal rief er den Namen seines Kollegen. Doch wieder blieb es still. Schlief Damp? War er bewusstlos? Oder vielleicht schon tot? Immerhin hatten sie ihn mehrmals mit einem Elektroschocker traktiert.

Rieder verfiel ins Grübeln. Es war auf alle Fälle seine Schuld gewesen, dass sie jetzt hier auf der Ostsee trieben. Zwischen Hiddensee und dem Nirgendwo. Aber was brachte ihm diese Erkenntnis jetzt noch? Er senkte den Kopf. Sein Nacken schmerzte. Eine lähmende Müdigkeit überkam ihn aufs Neue, aber die Angst vor einem Todeskampf mit dem Wasser hielt ihn noch wach. Er stellte sich vor, wie es mit salzigem Geschmack in seinen Mund spülen würde. In seinen Rachen. Sein Körper würde sich ein letztes Mal aufbäumen. Der letzte Versuch zu überleben. Er schüttelte sich. Es war doch sinnlos, darüber nachzudenken. Es war doch besser, sich durch das monotone Anschlagen der Wellen am Boot und das Rauschen des Wassers betäuben zu lassen. Langsam döste er wieder ein.

Da war es wieder! Untrüglich! Ein Schrei! Ein Rufen! Er öffnete die Augen. Grelles Rot blendete ihn. Was war das? Das Licht des Jenseits? Raste er in diesen letzten Tunnel vom Leben zum Tod? Das wollte er nicht sehen. Er kniff die Augen zusammen.

Stimmen drangen an sein Ohr und waren doch weit weg. Sie klangen dumpf. Sein Kopf schien von Watte umhüllt. Er verstand kein Wort. Wer hatte auch gesagt, dass man im Jenseits seine Sprache sprechen würde? Gleichzeitig begann jemand, an ihm zu zerren. Er schrie auf! So laut hatte er sich noch nie schreien hören! Der Schmerz hatte sich einen Weg durch seinen Körper gebahnt und war durch seine Kehle als Urschrei nach außen gedrungen. Von den Schultern ins Herz. Er versuchte sich zu wehren, wollte seine Arme bewegen. Doch er spürte sie nicht mehr. Er spürte seine Arme nicht mehr. Seine gefesselten Arme fühlten sich taub und schwer an. Ein Griff unter seine Achseln hob seinen Körper an. Er glaubte, seine Schultern würden brechen. Der erneute tiefe Schmerz ließ ihn ohnmächtig werden. Stefan Rieder empfand das als letzte Gnade, die ihm gewährt wurde.

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