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ОглавлениеZurück nach Kloster ging es aus dem Hochland schneller durch die getretene Spur, auch wenn es mittlerweile wieder zu schneien angefangen hatte. Die Polizisten begegneten keiner Menschenseele. Nur hier und da zeigte ein erleuchtetes Fenster, dass Menschen zu Hause waren, aber bei dem frostigen Wetter nicht vor die Tür gingen.
Die Fenster des Polizeiautos waren eingefroren. Damp kramte in den Seitenfächern der Türen vergeblich nach einem Eiskratzer, während Nelly Blohm mit heftigem Hüpfen versuchte, ihre kalten Füße etwas aufzuwärmen. Damp holte sein Portemonnaie heraus, griff seine Krankenkassenkarte und begann damit die Scheiben zu schaben.
„Können Sie nicht schon mal den Motor anmachen?“, fragte Nelly bibbernd.
Damp lehnte ab. „Wir müssen Benzin sparen. Wer weiß, wann wir Nachschub kriegen.“
Nelly verzog das Gesicht. „Was machen wir denn nun?“, wechselte sie das Thema.
Damp zuckte mit den Schultern. „Gar nichts, bis sich dieser Quacksalber aus Greifswald meldet und uns sagt, wie Dehne umgekommen ist.“ Er hielt mit dem Eiskratzen kurz inne. „Ich frage mich echt, wie er sich als Lehrer diesen Schuppen leisten konnte.“
„Durch den Verkauf der Häuser.“
Damp schüttelte den Kopf. „Ich bin bestimmt kein Fachmann, aber wie das da alles auf Chic gemacht ist, das zahlt man nicht aus der Portokasse. Und das Haus, die alte Vogelwarte, musste er sich vorher ja auch noch kaufen. Nee, irgendwas passt da nicht.“
Damp setzte Nelly Blohm in der Sprenge ab. Trotz des Neuschnees war der Weg hinter dem Bodden durch den Einsatz der Feuerwehr noch gut befahrbar. Sie musste um das Haus laufen, denn Maltes Pension stand mit der Giebelseite zum Bodden. Der Eingang befand sich in einem kleinen Hof. Gerade als Nelly an das Fenster der Veranda klopfen wollte, kam Malte und öffnete die Tür.
„Immer herein.“
Nelly trat ein und zögerte. Sie wollte mit ihren nassen Schuhen die Teppichläufer nicht schmutzig machen.
„Lassen Sie mal. Ist nur Wasser. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein paar Latschen besorgen. Meine Gäste lassen immer was liegen. Da findet sich sicher was.“
Aus der Küche duftete es nach gebratenem Fisch. Nelly merkte, wie hungrig sie war. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Sie musste sich dringend was besorgen. Hoffentlich hatte der Supermarkt noch offen.
„Ich würde nur kurz meine Tasche abstellen und dann noch mal schnell los. Ich habe noch nicht eingekauft.“
„Nun mal langsam, junge Frau“, beruhigte sie Malte. „Gehen Sie erst mal auf ihr Zimmer und richten sich ein. In einer Viertelstunde gibt es Abendbrot.“
„Aber …“
„Keine Widerrede.“
Als sie wenig später wieder herunterkam, war in der Stube der Tisch gedeckt. Nelly hatte mit Lukas und ihrer Mutter telefoniert. Offenbar vermisste sie ihren Sohn mehr als umgekehrt. Jedenfalls hatte er ihr begeistert erzählt, dass er mit seiner Oma gespielt, gelesen und gebacken hätte. Dann hatte er das Telefon weitergereicht. Ihre Mutter hatte hinterlistig gefragt, ob sie denn heute noch kommen würde. Nelly wusste nicht recht, was sie sagen sollte. „Nein, das zieht sich hier noch hin.“
„Was habe ich dir prophezeit“, hatte ihre Mutter noch einmal in der Wunde gebohrt und dann aufgelegt.
Nelly musste an der Schwelle zu Maltes Wohnstube den Kopf einziehen. Der graue Kater hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und schaute sie prüfend an. Scheu kannte er durch die vielen Sommergäste nicht.
„Setzen Sie sich“, ließ sich Malte aus der Küche vernehmen. Kurz darauf erschien er mit zwei Tellern.
„Ich hoffe, Sie essen Fisch?“
„Bin doch ein Mädchen von der Küste.“
Sie schaute mit offenem Mund auf das, was er vor ihr abstellte.
„Das ist Zanderfilet, gebraten, dazu Bratkartoffeln mit Speck.“
„Es duftet herrlich“, erklärte Nelly begeistert, „aber ich kann Ihnen doch nicht Ihre Vorräte wegessen …“
„Mach dir mal keine Sorgen, Mädchen. Die Kühltruhe ist voll. Die Speisekammer auch. Ist für mich nicht der erste harte Winter auf der Insel. Musst nicht alles glauben, was die so erzählen im Fernsehen von Mangel und Not hier, nur weil mal der Bodden dicht ist. Auf Hiddensee ist noch keiner verhungert. Jedenfalls kein Hiddenseer. Und nun iss mal, sonst wird’s kalt.“
Erleichtert griff sie nach ihrem Besteck und begann zu essen. „Das schmeckt ausgezeichnet. Wo haben Sie so gut kochen gelernt?“
„Auf dem ‚Klausner‘. War dort erst Lehrling, dann Koch, schon zu DDR-Zeiten. Heute wird um diese Zeit viel Gewese gemacht. War aber auch nur ’ne Kneipe wie jede andere. Wenn draußen die Gäste warten, muss es drinnen in der Küche laufen. Nach der Wende habe ich dann von meiner Mutter den Pensionsbetrieb übernommen und den Kochlöffel an die Wand gehängt. Nur für besondere Gäste werfe ich den Herd mal an.“
Er zwinkerte Nelly zu. Nachdem Malte die Hälfte seines Filets aufgegessen hatte, nahm er den Teller und stellte ihn auf das Blech vor dem Ofen. Sofort sprang der Kater vom Sessel und stürzte sich mit lautem Schmatzen darauf.
„Kannten Sie eigentlich den Toten? Diesen Herrn Dehne?“, fragte Nelly. „Auf so einer kleinen Insel kennt doch sicher jeder jeden.“
Malte wiegte den Kopf hin und her. „Ich hatte kaum mit ihm zu tun. Ich habe keine Kinder. Da hat man mit den Lehrern der Inselschule wenig am Hut. Und dann hat doch jeder auf der Insel so – wie sagten wir früher als Kinder? – seine Bande. Heute nennt man es wohl eher Clique. Abgesehen davon, war er ein paar Jahre jünger als ich. Er ist sicher schon in der neunten Klasse nach Bergen auf die erweiterte Oberschule gegangen und erst nach dem Studium zurückgekommen. Außerdem wohnte Dehne in Süderende auf der Ostseeseite von Vitte. Nicht mein Beritt. Ist es denn sicher, dass er ermordet wurde?“
Nelly schüttelte den Kopf. „Wir müssen noch die Obduktion abwarten.“
„Außerdem war er einer dieser Vogelkieker.“
„Sie meinen, er war Ornithologe.“
„Wenn Sie so wollen. Schon als Kind ist er mit dem Raben, also Walter Blank, losgezogen, um Gänsen, Möwen und was weiß ich nachzustellen. Das waren für uns die Streber.“
„Ach ja, von dem Raben habe ich schon gehört.“
„Dehne und Blank waren ganz dicke, schon als Dehne noch ein Pionier war. Wissen Sie, was das ist?“
Nelly lächelte. „Was es bedeutet, weiß ich, aber selbst bin ich noch zu jung, um Pionier gewesen zu sein.“
„Mit blauem Halstuch sind die losgerannt und haben mit dem Raben am Bessin oder auf dem Gellen Vögel gezählt. Öde. Da bin ich lieber mit meinen Kumpels auf dem Bodden angeln gegangen oder habe die Kirschbäume der Nachbarn geplündert.“
„Was ist das eigentlich für ein Schiff, auf dem Martin Dehne gefunden wurde“, fragte Nelly.
Malte stand auf und zog aus seinem Regal ein Buch. Er blätterte darin und legte es dann aufgeschlagen vor Nelly hin. Er zeigte auf eine Reihe von Bildern eines Passagierdampfers.
„Die ‚Caprivi‘ heißt eigentlich ‚Seebad Wustrow‘. Auf diesen Namen wurde sie im Februar 1964 in Magdeburg getauft. Sie war das letzte Schiff der sogenannten Seebäder-Serie. Diese Dampfer wurden extra für die Ostseeküste gebaut, um dem Ansturm der Tagestouristen Herr zu werden.“
Malte blätterte eine Seite weiter. „Hier sehen Sie mal, wie es drinnen aussah. Ziemlich komfortabel für die damalige Zeit mit dem Salon, von dem man über das Vordeck Aussicht über den Bug hatte. Außerdem hatte das Schiff eine besondere Verstärkung am Vorschiff und gehörte damit zur Eisklasse.“
„Eisklasse?“
„Es konnte auch bei Eisgang oder selbst bei einer geschlossenen Eisdecke auf dem Bodden bis zu zwanzig Zentimeter noch fahren und die Eisdecke aufbrechen“, erklärte Malte. „So ein Schiff fehlt uns heute. Die Reederei verspricht uns immer nur, diese klapprige alte Fähre mal durch ein eisgängiges Schiff auszutauschen. Aber außer hübschen Bildern in den ‚Inselnachrichten‘ passiert nichts. Nur die Preise steigen ständig.“
„Warum liegt die ‚Caprivi‘, äh, die ‚Seebad Wustrow‘ nun hier?“
„Nach der Wende wurde sie außer Dienst gestellt, rostete dann in Stralsund still vor sich hin, bis sich unter anderem Angela Merkel erbarmte und uns den Dampfer schickte. Erst wurde ein Jugendklub draus, dann ein Hotelschiff. Nun ist der Besitzer wohl pleite oder was weiß ich. Jedenfalls liegt der Dampfer schon eine Weile hier, ohne dass sich was tut. Und jetzt ist es eh vorbei. Das Schiff ist ein Wrack. Schade drum.“
Er klappte das Buch zu und trug es wieder zum Regal. Als er sich umdrehte, schien Nelly in Gedanken versunken. „Wo sind Sie denn gerade? Bei Ihrem Sohn?“
Nelly schüttelte den Kopf. „Ich habe an Stefan Rieder gedacht. Haben Sie vielleicht mal was gehört, was mit ihm ist?“
„Nein, nur das, was alle wissen, dass er im Koma in einer Klinik auf Møn liegt, nicht transportfähig ist und es nicht gut aussieht.“
Tränen rannen Nelly übers Gesicht. Malte setzte sich neben sie und legte unbeholfen seinen Arm um ihre Schultern. „Na, Mädchen, du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen.“
„Wenn das so einfach wäre …“
„Behalt ihn so in Erinnerung, wie er war. Als netten Kerl. Ich vermisse ihn auch, selbst wenn wir zuletzt nicht immer einer Meinung waren. Aber denk mal, was wäre, wenn er aufwacht und nur noch Watte im Kopp hat? Er sollte seinen Frieden finden …“