Читать книгу Harter Ort - Tim Herden - Страница 7
I
ОглавлениеEr lehnte den Kopf an die kühle Scheibe. Trotzdem wurde ihm nicht kälter. Er schwitzte in seinem gefütterten Anorak und der dicken Allwetterhose. In dem überfüllten Bus mussten fast dreißig Grad sein. Trotzdem war es wohl die richtige Entscheidung am Morgen gewesen, nicht nach Stralsund, sondern nach Bergen auf Rügen zu fahren. Rechtzeitig hatte er noch erfahren, dass die Silvesterfährlinie zwischen Stralsund und Hiddensee wegen Eisgangs eingestellt worden war. Die Fahrrinne war zugefroren, nachdem es seit Weihnachten fast ununterbrochen geschneit hatte und die Temperaturen beständig unter null gefallen waren. Auch jetzt schneite es wieder. Doch den Schnee sah er nur durchs Fenster, wenn der Bus an einer Straßenlaterne vorbeifuhr und in ihrem Licht der Flockenwirbel zu sehen war. Von Schaprode, dem kleinen Fährort auf Rügen, ging eigentlich immer ein Schiff nach Hiddensee. Dort gab es auch die einzige Fähre, die zum Eisbrechen taugte. Sie hatte zwar schon einige Jährchen auf dem Buckel, aber in den letzten Jahren immer ihren Dienst getan. Auch bei Eis und Schnee. Das Schiff war jetzt das Ziel nicht nur für ihn, sondern auch für zahlreiche Urlauber, die Hiddensee bis zum Abend erreichen wollten, um dort den Jahreswechsel zu feiern. Ein paar Raketen schauten aus seiner Tasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte.
Der Bus hielt in Trent, dem vorletzten Ort vor Schaprode. Er schaute kurz auf, um zu sehen, wer zustieg. Aber es war kein Platz mehr für neue Fahrgäste. Vorn diskutierte lautstark der Busfahrer mit einem Wartenden. Dann rief er ein paarmal in den Bus, ob man nicht zusammenrücken könnte. Doch mehr als ein ärgerliches Raunen und Brummen bekam er nicht zur Antwort. Niemand bewegte sich. Der Fahrer schloss die Tür, der Bus fuhr an und er konnte im Schein des Wartehäuschens einen Mann und eine Frau erkennen, die über ihr Zurückbleiben miteinander in Streit gerieten. Sicher wäre noch Platz für die beiden gewesen, wenn der eine oder andere Fahrgast in Bergen bereit gewesen wäre, seinen Rollkoffer im Laderaum des Busses zu verstauen. Doch keiner wollte Zeit verlieren beim anstehenden Wettlauf von der Bushaltestelle zum Ticketschalter der Fähre. Die Zeit bis zur Abfahrt der Fähre war knapp. Er konnte gelassen sein. Er besaß eines der billigen Insulaner-Tickets für die Einwohner Hiddensees.
Sein dicker Nachbar auf der Sitzbank drückte ihn immer mehr an die Bordwand des Busses. Schmerzhaft stießen nun die Kanten der Langlaufski gegen seine Knie. Er hatte sie samt Schuhwerk und Stöcken kurz entschlossen in Bergen erworben. Bei mittlerweile über fünfzig Zentimetern Schnee auf der Insel würde er damit gut vorankommen und müsste nicht zu Fuß durch den Schnee stapfen. Wenn es weiter so schneite, würde über kurz oder lang der Inselbus seine Fahrten einstellen.
Endlich Schaprode. Die Passagiere wurden kurz durchgeschüttelt, als der Fahrer heftig vor dem Schneeberg bremsen musste, der an der Endhaltestelle aufgetürmt worden war. Er wartete, bis sich die meisten schon durch die enge Bustür geschoben hatten, bevor er sich aus seinem Sitz schälte. Draußen schlug ihm ein eisig kalter Wind entgegen. Er zog sein Basecap aus braunem Cord tiefer ins Gesicht. Nicht ohne Genugtuung marschierte er am Reederei-Gebäude vorbei. Es hatte sich eine lange Schlange gebildet. Wie nicht anders zu erwarten, war nur ein Ticketschalter geöffnet. Die „Vitte“ lag schon da. Ansonsten waren die Schiffe im Hafen Schaprode vom Eis eingeschlossen. Bis es Tauwetter gäbe, würde also der Eisfahrplan gültig sein und nur die „Vitte“ zwischen Hiddensee und Rügen verkehren. Fünfmal am Tag. Sonst gab es selbst im Winter zehn Verbindungen. Er ging über die Gangway, zog seinen Fahrschein aus der Tasche und hielt ihn dem Matrosen hin, der einen Abschnitt abriss. Doch als er weiterwollte, hielt ihn der Mann in der blauen Wattejacke mit der Aufschrift „Reederei Hiddensee“ auf.
„Frachtschein?“, fragte er und zog dabei das Wort mit dem typischen norddeutschen Zungenschlag in die Länge.
„Was für ein Frachtschein?“
Der Mann der Reederei zeigte auf die Langlaufskier und wiederholte: „Frachtschein?“
„Dafür?“, antwortete er verwirrt.
„Genau.“
„Aber die gehören doch zu meinem Gepäck.“
Der Matrose schüttelte den Kopf. „Das ist ein Fortbewegungsmittel. Dafür braucht’s einen Frachtschein.“ Damit war die Diskussion für das Besatzungsmitglied der Fähre offenbar beendet.
Er schob ihn zur Seite und winkte den nächsten Fahrgast heran.
So einfach wollte er sich nicht verdrängen lassen. Er trat wieder nach vorn und versperrte den Weg, was sofort mit einem ärgerlichen Murren der Nachfolgenden beantwortet wurde. Solidarität war hier nicht zu erwarten.
„Und kriege ich den Frachtschein hier bei Ihnen?“, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Sie wurde dann, statt mit Worten, durch zwei Gesten gegeben. Der Matrose deutete einmal mit dem Arm zum Reederei-Gebäude und wedelte ihn dann noch mal kurz mit der Hand zur Seite. In ihm kam das alte Kindergefühl auf, wenn er beim „Mensch ärgere Dich nicht“ mit seiner Figur nur noch einen Schritt vom Ziel entfernt gewesen war, ihn aber sein Bruder noch abgefangen und rausgeworfen hatte. Seine Wut hatte dann innerhalb von Sekunden den Siedepunkt überschritten und das Spielbrett war vom Tisch geflogen.
Mit dieser Wut im Bauch marschierte er zum Fahrkartenschalter und reihte sich in die Schlange ein. Immer wieder ging sein unruhiger Blick auf die Uhr an der Wand. Noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt und noch knapp ein Dutzend Leute vor ihm. Er war nicht der Einzige, der mit seiner Geduld am Ende war. Jemand brüllte durch den Raum: „Macht mal einen zweiten Schalter auf?“ Der Ruf schien ungehört zu verhallen. Dann schob sich aber doch noch in Zeitlupe und mit Kaffeetasse in der Hand eine Angestellte aus einem Nebenraum, stellte die Tasse betont langsam an einem zweiten Schalter ab, setzte sich und winkte den nächsten Kunden heran.
Endlich war er dran. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt.
„Ich brauche einen Frachtschein“, fauchte er die Frau am Ticketschalter an.
Sie schaute ihn ratlos an. „Wofür?“
Statt zu antworten, hielt er ihr die Skier entgegen. Sie zuckte mit den Schultern. „Skier hatten wir noch nicht.“ Sie wandte sich an ihre Nachbarin. „Petra, hatten wir schon mal Skier?“
Petra stellte ihre Arbeit ein. Verständnislos blickte sie ihre Kollegin an und schüttelte dann den Kopf. „Nö, hatten wir noch nicht.“
„Aber der Mann auf der Fähre verlangt einen Frachtschein“, versuchte er den Vorgang zu beschleunigen. „Die Skier seien ein Fortbewegungsmittel.“
„Ach so“, meinte nun die Frau, tippte in ihren Computer etwas ein und stoppte dann aber wieder. „Petra, meinst du Fahrrad- oder Handwagenkarte.“
Jetzt zuckte Petra mit den Schultern.
„Ich nehme die teurere, dann bin ich auf der sicheren Seite“, schlug er völlig entnervt vor.
„Also Fahrradkarte.“
Er hatte im Inneren der Fähre weder einen Sitzplatz noch einen Stehplatz gefunden. Er stand mit einigen anderen Fahrgästen auf der offenen Stellfläche für die Fahrzeuge. Er hatte sich hinter den Traktor gestellt, der immer auf der Fähre mitfuhr, um Hänger an Bord zu ziehen oder an Land zu schieben. Er versuchte, sich so ein wenig gegen den frostigen Fahrtwind zu schützen. Hinten am Heck konnte er beobachten, wie der Schiffskörper das gebrochene Eis zur Seite drängte. Die Schollen waren schon gut zehn Zentimeter dick. Als er endlich auf die Fähre gelangt war, hatten einige der anderen Gäste abfällig auf die Raketen in seinem Rucksack geblickt.
„Also ich finde es nicht gut, wenn die Ruhe im Biosphärenreservat nun auch noch durch diese Knallerei gestört wird“, ereiferte sich eine Frau so laut, dass er es hören musste. „Wir sind doch extra aus Berlin hierhergekommen, um diesem Krach zu entfliehen. Ich finde diese Knaller müssten auf Hiddensee verboten werden.“
„Mir egal“, antworte ihr Mann, „ein bisschen Feuerwerk ist doch ganz nett.“
In Vitte stürmten die Menschen von Bord. Auf dem Kai warteten Vermieter mit Handwagen und Schlitten auf ihre Gäste. Einige Passagiere gingen gezielt auf die wartenden Hiddenseer zu. Wahrscheinlich waren es Stammgäste oder Verwandte. Pferdekutschen standen bereit, um Touristen nach Kloster im Norden und nach Neuendorf im Süden zu bringen. Beide Orte wurden bei Eisgang nicht von der Reederei angefahren. Ihn beachtete keiner, als er die Fähre verließ, obwohl er auch den einen oder anderen kannte.
Er überlegte kurz, gleich die Skier auszuprobieren. Doch das Hafengelände war gut geräumt. So strömte er mit den meisten am Kai entlang, beobachtete dabei, wie sich Leute mit einem Nicken wiedererkannten, sich manche freudig in die Arme fielen, andere überrascht schienen, wen sie auf Hiddensee trafen und, wie er zu erkennen glaubte, nicht unbedingt hatten treffen wollen.
Der Deichweg war nicht geräumt. Er schnallte die Skier an, griff die Stöcke, machte ein paar gleitende Bewegungen mit jedem Fuß. Dann stieß er sich kräftig ab. Obwohl er wohl über zwanzig Jahre nicht mehr auf Skiern gestanden hatte, kam er gleich gut voran und verschwand in der Dunkelheit.