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IV.Die Einsatztatbestände im Einzelnen 1.Verteidigungsfall: Ergänzung des Verteidigungsauftrags in Art. 87a Abs. 3 GG

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Höchste Eskalationsstufe der Notstandsverfassung und Inbegriff von Notstand schlechthin ist der Verteidigungsfall. Art. 115a Abs. 1 Satz 1 GG definiert den Verteidigungsfall als Situation, in der das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht. „Waffengewalt“ bedeutet militärische Gewalt, der mit polizeilichen Mitteln nicht wirkungsvoll entgegengetreten werden kann.274 Der Verteidigungsfall wird auf Antrag der Bundesregierung durch den Bundestag bei qualifizierter Zweidrittelmehrheit und mit Zustimmung des Bundesrates festgestellt. Die Feststellung ist vom Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt zu verkünden. In besonders kritischen Situationen sieht Art. 115a Abs. 2 GG subsidiär ein weniger aufwendiges Verfahren vor, nämlich die ersatzweise Feststellung durch den Gemeinsamen Ausschuss (Art. 53a GG) als Notparlament. Die Vereinfachung reicht bis zur rechtlichen Fiktion in Art. 115a Abs. 4 GG: Sind bei einem Angriff auf das Bundesgebiet die zuständigen Bundesorgane nicht handlungsfähig – etwa nach einem massiven Luftangriff auf Berlin –, dann gilt der Verteidigungsfall als eingetreten.

Im Verteidigungsfall wird die Organisation des Gesamtstaates durch Kompetenzverdichtung, Kompetenzverschiebung und Verfahrensstraffung teilweise umgebaut.275 Die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte geht gem. Art. 115b GG vom Bundesminister der Verteidigung auf den Bundeskanzler über. Die Befugnisse der Streitkräfte erschöpfen sich im Verteidigungsfall nicht in der Erfüllung des Verteidigungsauftrags. Die Streitkräfte können gem. Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG im Verteidigungsfall zum Schutz verteidigungswichtiger ziviler Objekte und zur Verkehrsregelung sowie gem. Art. 87a Abs. 3 Satz 2 GG zur Unterstützung der Polizei beim Schutz sonstiger ziviler Objekte eingesetzt werden.

a) Verteidigungsrelevanter Objektschutz. Wenn Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG die Streitkräfte zum Schutz ziviler Objekte ermächtigt, „soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist“, wird darin deutlich, dass es um verteidigungsrelevante zivile Objekte geht, also um Objekte, die militärisch von Bedeutung sind und daher Ziel feindlicher Handlungen werden können. Dies gilt etwa für Industrieanlagen, Fernmeldeeinrichtungen, Bahnhöfe oder Flughäfen. Der Schutz ziviler Objekte ist auch im Verteidigungsfall eine Aufgabe der Gefahrenabwehr und damit an sich Sache der Polizei. Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG ermöglicht jedoch den Schutz unmittelbar durch die Streitkräfte. Ein Objekt ist zivil, wenn es weder von der Bundeswehr noch von anderen Streitkräften innegehabt wird.276 Der Begriff der Verteidigungswichtigkeit ist seit 2002 zumindest auf einfachrechtlicher Ebene legaldefiniert, nämlich in § 1 Abs. 5 Satz 2 Sicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG): Verteidigungswichtig sind außerhalb des Geschäftsbereiches des BMVg solche Einrichtungen, die der Herstellung oder Erhaltung der Verteidigungsbereitschaft dienen und deren Beeinträchtigung die Gesundheit oder das Leben großer Teile der Bevölkerung sowie die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gefährden kann.

Die Regelung des Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG hat in mehrerlei Hinsicht ihren guten Sinn: Zunächst soll ein Doppeleinsatz von Polizei und Militär am selben Objekt vermieden werden. Wer sich durch Störaktionen, Attentate oder Kommandounternehmen gegen ein verteidigungswichtiges Objekt wendet, ist in der Regel kein „gewöhnlicher“ Krimineller. Polizeivollzugsbeamte wären hier dem Risiko einer Konfrontation mit überlegenen Kräften ausgesetzt. Umgekehrt soll eine Sicherheitslücke geschlossen werden, die entstehen würde, wenn der Schutz solcher Objekte allein durch Polizeikräfte erfolgte.277 Schließlich erübrigt sich auf diese Weise auch die Notwendigkeit einer Militarisierung der Polizei, womit wiederum dem oben (II. 2. a) genannten Trennungsgebot gedient ist.

Art. 87a Abs. 3 GG spricht nur von zivilen, nicht aber von militärischen Objekten. Das ist konsequent: Geht es nämlich um den Schutz militärischer Liegenschaften oder sonstiger militärischer Objekte – gleichgültig, ob der Angriff von Kombattanten im militärischen oder von Störern im polizeilichen Sinne ausgeht –, muss keiner der Ausnahmetatbestände des Grundgesetzes aktiviert werden, denn hier handelt es sich entweder um Verteidigung, also um das „Kerngeschäft“ der Bundeswehr, oder um die Sonderpolizeigewalt der Bundeswehr nach dem Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündete Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen (UZwGBw).278 Wird umgekehrt nicht auf das angegriffene Objekt, sondern auf das angreifende Subjekt abgestellt, gilt Folgendes: Handelt es sich bei den Angreifern um Kombattanten, ist es gleichgültig, ob das angegriffene Objekt ein militärisches oder ein ziviles – verteidigungswichtig oder nicht – ist. Rechtsgrundlage zur Abwehr des Angreifers ist das humanitäre Völkerrecht (Kriegsvölkerrecht).279 Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG ist also nur dann heranzuziehen, wenn der Angreifer kein Kombattant und das Angriffsziel kein militärisches Objekt ist.

Damit ist aber noch nicht entschieden, nach welchem Recht sich konkrete Maßnahmen der Streitkräfte beim zivilen Objektschutz nach Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG richten. Diese Frage ist umstritten. Abgesehen von denjenigen Autoren, nach denen Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG nicht nur das „Ob“ eines Streitkräfteeinsatzes im Innern regelt, sondern auch das „Wie“ und deshalb eine eigenständige und vollgültige Ermächtigungsgrundlage darstellt,280 stehen sich im Wesentlichen zwei Lager gegenüber: das polizeirechtliche und das völkerrechtliche.

Im polizeirechtlichen Lager wird eine Lösung darin gesehen, je nach Angreifer zu differenzieren. Hiernach sind Handlungen gegen Störer dem UZwGBw,281 Handlungen gegen Kombattanten dagegen dem humanitären Völkerrecht zu unterstellen. Auf diese Weise werde auch Art. 87a Abs. 2 GG Genüge getan, wonach, wie oben dargelegt, die Wahrnehmung von Aufgaben der inneren Sicherheit nur ausnahmsweise Sache der Streitkräfte, im Übrigen aber der Polizei ist.282

Für die Anwendung von humanitärem Völkerrecht beim zivilen Objektschutz sprechen hiesigen Erachtens die besseren Argumente. Die strengen Maßstäbe des Polizeirechts, wie sie auch im UZwGBw gelten (so viel Eingriff wie nötig, so viel Schonung wie möglich), sind auf „gewöhnliche“ Gefahrenabwehrsituationen zugeschnitten. Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG hat jedoch einen verteidigungsbezogenen Schwerpunkt (Wortlaut: „soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist“). In der Konsequenz des § 12 UZwGBw, der die Anwendung unmittelbaren Zwangs verbietet, wenn Erfolg und Schaden erkennbar außer Verhältnis stehen, könnten die Streitkräfte zur kampflosen Aufgabe eines verteidigungswichtigen Objekts gezwungen sein. Ein weiterer Punkt ist zu bedenken: Unter dem Aspekt heutiger hybrider Kriegführung, für die der Einsatz irregulärer Kräfte geradezu typisch ist, kann regulären Streitkräften kaum zugemutet werden, in der kritischen, mitunter lebensgefährlichen Situation unter Beachtung zweierlei rechtlicher Regimes zunächst eine Zuordnung nach Kombattanten und Nichtkombattanten vorzunehmen. Allerdings wird der Streit insoweit entschärft, als auch bei Anwendung von humanitärem Völkerrecht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – wenngleich nicht in seiner strengen polizeirechtlichen Ausprägung, sondern in Gestalt des Proportionalitätsprinzips – gilt und unterhalb der Schwelle zum Verteidigungsfall, also im Spannungsfall, das UZwGBw gleichwohl Anwendung finden kann (hierzu unten IV. 2. b).283

Wird dagegen in die Rechte von Personen eingegriffen, die weder Kombattanten noch Störer sind, etwa durch Anforderung von Grundstücken und Gebäuden, ist Rechtsgrundlage weder humanitäres Völkerrecht noch UZwGBw, sondern das Bundesleistungsgesetz (BLG).284

b) Zivile Verkehrsregelung zu Verteidigungszwecken. Die Sicherung geschlossener Verbände der Streitkräfte folgt bereits aus dem Verteidigungsauftrag gem. Art. 87a Abs. 1 GG und bedarf keiner Spezialermächtigung. Für die vom Verteidigungsauftrag nicht gedeckte Befugnis der Streitkräfte zur zivilen Verkehrsregelung gem. Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG gilt wiederum, dass Verteidigungsrelevanz bestehen muss. Das ist der Fall, wenn die jeweiligen Verkehrswege von den Streitkräften gerade nicht genutzt werden, aber militärische Notwendigkeit im Sinne der Bewegungsfreiheit der Truppe besteht.285 Sichern die Streitkräfte auf diese Weise ihre Mobilität mit eigenen Mitteln, ist dies regelmäßig Sache der Feldjäger. Die Bundeswehr kann sich dabei auch auf ihre Sonderrechte aus § 35 Abs. 1–4 StVO berufen (z. B. Fahren im Verband, übermäßige Straßennutzung).286 Die Befugnis zur Verkehrsregelung ist nicht auf den Straßenverkehr beschränkt, sondern umfasst auch Eisenbahnen, Wasserstraßen und den Luftverkehr.287

c) Sonstiger Objektschutz. Die Befugnisse, die den Streitkräften nach Art. 87a Abs. 3 Satz 2 GG zukommen, folgen anderen Regeln als die Befugnisse nach Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG. Im Wesentlichen bestehen vier Unterschiede: 1) Die Befugnisse kommen den Streitkräften nicht mit Feststellung des Spannungs- und Verteidigungsfalls von selbst (ipso iure) zu, sondern müssen ihnen übertragen werden. 2) Die Streitkräfte werden „zur Unterstützung“ der Polizeikräfte tätig und arbeiten mit den zuständigen Behörden zusammen. 3) Der Objektschutz ist nicht auf verteidigungswichtige zivile Objekte beschränkt, sondern schließt, da eine Erforderlichkeitsklausel wie in Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG fehlt, auch verteidigungsirrelevante Objekte ein. 4) Befugnisse zur Verkehrsregelung werden nicht übertragen.

Die Bundespolizei, die im Verteidigungsfall im gesamten Bundesgebiet eingesetzt werden darf (Art. 115f Abs. 1 Nr. 1 GG), soll zur Unterstützung der Länderpolizei beim Schutz ziviler Objekte ohne Verteidigungsrelevanz vorrangig vor der Bundeswehr eingesetzt werden.288 Im Grundgesetz nicht geregelt ist, wer, wenn der Einsatz der Streitkräfte dennoch erforderlich wird, für den Übertragungsakt zuständig ist. Drei Lösungen werden vorgeschlagen: Regelung durch Gesetz, Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern oder – die einfachste Lösung, zumal in zeitkritischen Lagen – einseitige Übertragung im Rahmen der Befehls- und Kommandogewalt (Art. 65a GG bzw. Art. 115b GG).289 Dass die Streitkräfte mit zivilen Behörden zusammenzuwirken haben, bedeutet jedoch nicht, dass die eingesetzten Soldaten ziviler Weisung unterstellt würden.290

Die Frage nach der Rechtsgrundlage für Maßnahmen der Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 3 Satz 2 GG ist einfacher zu beantworten als bei Maßnahmen nach Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG. Da hier die Streitkräfte nicht genuin militärisch, sondern „zur Unterstützung“ der Polizeikräfte tätig werden, kann Rechtsgrundlage nur Polizeirecht und auch nur Bundesrecht sein. In Betracht kommen daher UZwG oder UZwGBw.291

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