Читать книгу Wehrrecht - Timo Walter - Страница 72

4.Katastrophennotstand: Vom „unpolitischen“ Notstand zum Instrument gegen den Terror (Art. 35 Abs. 2, 3 GG)

Оглавление

Der Katastrophennotstand nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG setzt eine Naturkatastrophe oder einen besonders schweren Unglücksfall voraus. Gemeinsam haben beide Szenarien das „katastrophische“ Schadensausmaß, doch unterscheiden sie sich in der Ursache: dort Naturgewalten, hier technische Unzulänglichkeit oder menschliches Verhalten. Naturkatastrophen sind etwa Hochwasser, extremer Schneefall, Dürre sowie großflächige Wald- und Heidebrände, aber auch Epidemien und Pandemien. Beispiele für besonders schwere Unglücksfälle sind Eisenbahnunfälle, Flugzeugabstürze, die Kollision von Öltankern in Küstennähe oder die Havarie eines Kernreaktors.308 Nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt als Ursache eines besonders schweren Unglücksfalls aber nicht nur Fahrlässigkeit, sondern auch Vorsatz (und damit Terror und Sabotage) in Betracht.309 Zudem muss ein Schaden nicht bereits eingetreten sein. Es genügt, dass der Schadenseintritt ohne das Ergreifen von Gegenmaßnahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze zu erwarten ist.310

Unterschiede zwischen den beiden Absätzen von Art. 35 GG zeigen sich zum einen in geographischer bzw. quantitativer Hinsicht: Bei Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG ist ein einzelnes Bundesland betroffen, bei Art. 35 Abs. 3 GG reicht die Gefahrenlage darüber hinaus, weshalb oft von „regionalem“ und „überregionalem Katastrophennotstand“ die Rede ist. Zum anderen – und dies ist das entscheidende Kriterium – verlangt Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG, dass ein Einschreiten des Bundes erforderlich ist. Dies ist der Fall, wenn ein Land die Lage aus objektiven oder subjektiven Gründen nicht im Griff hat, die Gefahr also nicht bekämpfen kann oder nicht bekämpfen will.311

Der Katastrophennotstand in der Variante der bundesgenössischen Hilfe ist, abgesehen von der singulären Feststellung des Bündnisfalls nach „Nine-Eleven“, bis heute der einzige Tatbestand der Notstandsverfassung, der aktiviert worden ist. Auch die Streitkräfte wurden im Katastrophennotstand eingesetzt. Dabei ging es jedoch nicht um die Anwendung von Waffengewalt.

a) Bundesgenössische Hilfe (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG). In Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG wird das betroffene Land ermächtigt, Polizeikräfte anderer Länder sowie der Bundespolizei und der Streitkräfte anzufordern. Wer auf Länderseite anforderungsberechtigt ist, richtet sich nach dem Recht des jeweiligen Landes. Welche Stelle auf der angeforderten Seite über die Entsendung von Einheiten der Bundeswehr entscheidet, hat das BMVg geregelt in der Zentralen Dienstvorschrift A-2110/10 Hilfeleistungen der Bundeswehr im Rahmen des Artikels 35 des Grundgesetzes (Amts- und Katastrophenhilfe) vom 4. Juli 2018.312 Sollen hoheitliche Zwangs- und Eingriffsbefugnisse in Anspruch genommen werden, ist schon wegen Art. 65a GG stets eine ministerielle Entscheidung erforderlich.

Sämtliche angeforderten Kräfte werden zur Unterstützung der Kräfte des Landes eingesetzt. Maßgeblich sind daher Recht und Weisung des jeweiligen Landes. Dennoch bleiben die eingesetzten Soldaten in truppendienstlicher und allgemeindienstlicher Hinsicht ihren Vorgesetzten unterstellt. Weisungen des Landes können sich nur an denjenigen Offizier richten, der als Befehlshaber den Einsatz leitet.313

Im Katastrophennotstand gibt es keine Pflicht, eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten. Der Einsatz der Streitkräfte ist nicht erst am oberen Ende der Eskalation zulässig.314 Ist von vornherein klar, dass allein die Bundeswehr imstande ist, eine bestimmte Situation in den Griff zu bekommen, dann müssen nicht zunächst Länder- und Bundespolizei auf den Plan gerufen werden. Dies gilt sowohl für die bundesgenössische Hilfe als auch für die im Folgenden dargestellte Bundesintervention.

b) Bundesintervention (Art. 35 Abs. 3 GG). Gem. Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG kann die Bundesregierung die Landesregierungen anweisen, anderen Ländern Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen. Sie kann ebenso Einheiten von Bundespolizei und Bundeswehr einsetzen, und zwar auch gegen den Willen des betroffenen Landes. Die Länderpolizei kann zwar nicht, wie im innenpolitischen Notstand (s. oben IV. 3. b), der Weisung der Bundesregierung unmittelbar unterstellt werden. Bundespolizei und Streitkräfte werden jedoch bei der Bundesintervention nach Abs. 3 dem Land nicht „zur Verfügung gestellt“ (wie in Abs. 2), sondern als eigene Kräfte des Bundes eingesetzt. Nach überwiegender Auffassung ist das betroffene Land daher auch nicht weisungsbefugt. Jedoch richtet sich der Einsatz nach dem Recht des betroffenen Landes.315 Über einen Einsatz nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG entscheidet im Grundsatz die Bundesregierung als Kollegialorgan (Art. 62 GG), wobei sie im Anschluss die Entscheidung über konkrete Maßnahmen delegieren kann, beispielsweise an den Inspekteur der Luftwaffe.316

Die Bundesintervention ist gegenüber der bundesgenössischen Hilfe subsidiär.317 Selbst wenn das Schadensszenario, beispielsweise ein Hochwasserereignis, mehrere Bundesländer oder sogar, wie die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöste Pandemie, das gesamte Bundesgebiet betrifft, sind die Länder Herren des Verfahrens. Solange nicht ein Land „ausfällt“, ist stets Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG einschlägig.

c) Zwangsbefugnisse und Bewaffnung: die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Was die Befugnisse der Streitkräfte im Katastrophennotstand angeht, muss unterschieden werden: Schlichte technisch-logistische Unterstützung ist als einfache Amtshilfe unterhalb der Einsatzschwelle bereits von Art. 35 Abs. 1 GG gedeckt. (Zu den einzelnen Fallgruppen s. Kapitel 2 [Amtshilfe], III). Der Verfassungsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG wird nicht ausgelöst, weshalb die Bundeswehr auch ohne Ersuchen im Rahmen der „Soforthilfe“ tätig werden darf.318 Oberhalb der Einsatzschwelle werden Androhung und Anwendung hoheitlicher Zwangs- und Eingriffsbefugnisse einschließlich des Gebrauchs polizeilicher Waffen von der Ermächtigung in Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG umfasst.319

Die Frage nach der Zulässigkeit spezifisch militärischer Waffen im Katastrophennotstand war hingegen lange Zeit, anders als beim Einsatz der Streitkräfte im innenpolitischen Notstand (s. oben IV.3.b), umstritten. Durch Plenarbeschluss vom 3. Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht die gegenteilige Auffassung des Ersten Senats aus dem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) von 2006 überholt und den Gebrauch spezifisch militärischer Waffen, etwa der Bordwaffen eines Kampfflugzeuges, im Katastrophennotstand für zulässig erklärt. Voraussetzung ist, dass weniger schwerwiegende Mittel nicht ausreichen. Zudem muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein, dass Unbeteiligte betroffen werden.320 Unter dogmatischen Gesichtspunkten mögen gute Argumente dafür sprechen, dass militärische Bewaffnung kein Thema für den an sich „unpolitischen“ Katastrophennotstand ist.321 Hinter der Neuinterpretation steht jedoch das nachvollziehbare rechtspolitische Anliegen, eine Regelungslücke zu schließen, die sich ergibt, wenn – beispielsweise in einem „Renegade-Fall“ – die Polizei nichts ausrichten kann und die Bundeswehr nichts ausrichten darf.322 Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass wegen der genannten Einschränkungen der Einsatz militärischer Waffen letztlich doch ausgeschlossen sein dürfte. Die 2006 für verfassungswidrig und nichtig erklärte Abschussermächtigung des § 14 Abs. 3 LuftSiG lebte durch den Plenarbeschluss von 2012 auch nicht wieder auf, weshalb es hinsichtlich eines nur von Terroristen besetzten Flugzeuges derzeit an einer einfachgesetzlichen Grundlage mangelt.323

Wehrrecht

Подняться наверх