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3.Innenpolitischer Notstand: Der Kampf gegen den Verfassungsfeind (Art. 87a Abs. 4 GG)

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Wenngleich die gesamte Notstandsgesetzgebung im politisch und gesellschaftlich schwülen Klima der 1960er Jahre auf Widerstand stieß, war die Regelung des inneren Notstands (neben dem in Art. 12a GG geregelten Arbeitszwang) doch die umstrittenste.295 Nüchtern betrachtet, handelt es sich hier jedoch um eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit: Der freiheitliche Rechtsstaat darf für sich in Anspruch nehmen, zum Schutz seiner selbst vor Gefahren aus dem Innern als Ultima Ratio auch seine Soldaten heranzuziehen. Er muss nicht, wenn der Einsatz der Polizeikräfte zu scheitern droht oder bereits gescheitert ist, seiner Erosion tatenlos zusehen296 und in „Agonie“297 fallen. In Verbindung mit Art. 91 GG richtet sich Art. 87a Abs. 4 GG daher gegen den Verfassungsfeind, der sich gegen die demokratische Legitimität erhebt. In diesem Konflikt stellt das Grundgesetz die Streitkräfte auf die Seite der Legitimität.298

a) Anspruchsvolle Voraussetzungen. Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG verweist seinerseits auf Art. 91 Abs. 2 GG, dessen Voraussetzungen vorliegen müssen. Erste Voraussetzung ist eine drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes (Art. 91 Abs. 1 GG). Das „Hausgut“ des freiheitlichen Rechtsstaats, insbesondere territoriale Integrität, Souveränität nach außen, Handlungsfähigkeit nach innen sowie das staatliche Gewaltmonopol, muss bedroht sein. Hierzu genügt keine ferne, abstrakte Gefahr; vorausgesetzt wird vielmehr die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. In der Sache geht es um Szenarien wie Meuterei, Aufruhr, Putsch und Staatsstreich. Schärfstes Szenario ist der Bürgerkrieg.299 Dennoch muss zur Aktivierung von Art. 87a Abs. 4 GG keine Bürgerkriegsarmee aufmarschieren; es genügen bereits einige Hundert militärisch bewaffnete und organisierte Guerillakämpfer.300 Bei Vorliegen (nur) dieser ersten Voraussetzung kann das betroffene Land Polizeikräfte anderer Länder sowie die Bundespolizei anfordern.

Zweite Voraussetzung ist, dass das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage ist. Ist auch dies der Fall, kann die Bundesregierung gem. Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur die Bundespolizei einsetzen, sondern auch die Polizei des betroffenen Landes und anderer Länder ihrer Weisung unterstellen.

Für den Streitkräfteeinsatz muss eine dritte Voraussetzung erfüllt sein: Reichen im Falle der Bundesintervention nach Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG Länder- und Bundespolizei nicht aus, gestattet Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG als letztes Mittel zum Schutz ziviler Objekte sowie zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer den Einsatz der Streitkräfte. Hierzu bedarf es eines förmlichen Kabinettsbeschlusses. Eine Beteiligung des Parlaments ist, anders als im Spannungs- und Verteidigungsfall, nicht vorgesehen.301 Der Einsatz ist außerdem nur zulässig, wenn die Aufständischen durch Organisation „und“ (nicht „oder“!) militärische Bewaffnung ihrerseits in der Lage sind, eine quasi-militärische Wirkung zu entfalten. Bleibt es beim Einsatz von „Spontanwaffen“ wie Pflastersteinen, Stahlkugeln oder Molotow-Cocktails, dürfen die Streitkräfte allenfalls den Objektschutz übernehmen. Auf Seiten der Polizei werden so Kräfte frei zur aktiven Bekämpfung.302

b) Schneidige Rechtsfolgen. Ist dieser höchste Eskalationsgrad erreicht, untersteht das „Sicherheitspersonal“ des Gesamtstaates, also Länderpolizei, Bundespolizei und Streitkräfte, der Weisung der Bundesregierung. Der Sinn der Regelung in Art. 87a Abs. 4 GG liegt wie bei den Einsatzbefugnissen im Spannungs- und Verteidigungsfall darin, dass die Konfrontation der Polizeikräfte mit einem überlegenen Gegner vermieden werden soll. Im Kampf mit einem „aufmunitionierten“ Gegner soll Waffengleichheit herrschen. Der ultimative Charakter der Regelung kommt dadurch zum Ausdruck, dass die Bundesregierung zuvor die Länderpolizei ihrer Weisung unterstellt sowie die Bundespolizei erfolglos eingesetzt haben muss. Das bedeutet aber nicht, dass die Streitkräfte erst eingreifen dürfen, wenn die Polizeikräfte aufgerieben sind. Dies wäre ein Verstoß gegen das Gebot effizienter Gefahrenabwehr und vor allem mit der staatlichen Fürsorgepflicht unvereinbar. Es genügt, dass ein Scheitern der Polizeikräfte objektiv vorhersehbar ist.303

Wie im Spannungs- und Verteidigungsfall stellt sich auch im innenpolitischen Notstand die Frage, welches Recht die Grundlage für konkrete Maßnahmen der Streitkräfte bildet. Auf erste Sicht spricht für die Anwendung von Kriegsvölkerrecht – und damit für die Behandlung der Aufständischen als Kombattanten – der oben genannte Zweck der Vorschrift, wonach die Polizeikräfte nicht mit einem Gegner konfrontiert werden sollen, dem sie nicht gewachsen sind. Letzteres setzt allerdings voraus, dass die Bundesregierung in einer mit dem Verteidigungsfall vergleichbaren Lage die Aufständischen als kriegführende Partei anerkennt und so den Konflikt dem Völkerrecht unterstellt.304

Indes werden die Streitkräfte gem. Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG „zur Unterstützung der Polizei“ tätig, nicht dagegen „zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages“ (Wortlaut des Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG). Es handelt sich hier also in erster Linie nicht um eine militärische, sondern um eine polizeiliche Aufgabe. Dies spricht, jedenfalls solange der Konflikt nicht dem Völkerrecht unterstellt ist, für die Behandlung der Aufständischen als Störer und somit für die Anwendung von Polizeirecht (UZwG und UZwGBw).305 Selbst wenn aber „nur“ Polizeirecht zur Anwendung kommt, ist nach einhelliger Meinung der Einsatz spezifisch militärischer Waffen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zulässig.306

Trotz des gegenüber Art. 87a Abs. 3 Satz 1 GG unterschiedlichen Wortlauts bewirkt Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG keinen Rollentausch. Die Streitkräfte werden zwar „zur Unterstützung der Polizei“ eingesetzt, nicht aber „als Polizeikräfte“. Sie verbleiben damit als Soldaten innerhalb ihrer Befehls- und Kommandostrukturen.307

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