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Nahe dem Hohlweg, der nach Katholm Gods führt, steht ein Junge mit kastanienbraunem Haar, großen blauen Augen und wildem Blick im Gestrüpp. Man kann ihn vom Weg aus sehen, und Nachbarn, die den Hohlweg entlangfahren, um Katholm Gods zu besuchen, erkennen ihn sofort. Es ist der zweitälteste Sohn des Gutsbesitzers Wilhelm Dinesen. Der Wagen hält an. »Spring auf den Wagen, dann nehmen wir dich mit«, ruft einer der Passagiere ihm zu. Der Junge schüttelt den Kopf und antwortet: »Ich trockne!«

»Was tust du?«, fragt der Passagier.

»Ich trockne, ich trockne«, wiederholt der Junge und dreht sich um.

Erst jetzt sehen die Passagiere das flatternde Hemd und die Hose, die dem Jungen in den Kniekehlen hängt. Er hat sie heruntergezogen, weil er sich eingenässt hat – und jetzt steht er da, um Hose und Hemd im Wind trocknen zu lassen.

Die Geschichte über Wilhelm Dinesen, bei dem oft etwas in die Hose ging, wenn er durch die Wälder rings um das Gut streifte, der aber fremde Hilfe ablehnte und darauf bestand, selbständig zu sein, ist in der Familie Dinesen immer wieder erzählt worden. Diese Geschichte, oder vielleicht besser gesagt, Anekdote, gehört zu den relativ seltenen Berichten aus der Kindheit Wilhelm Dinesens. Er selbst hat seine Kindheit höchstens andeutungsweise erwähnt, jedenfalls nicht in seinen hinterlassenen Papieren oder Büchern und Artikeln. Allerdings wird er hin und wieder in den Lebenserinnerungen seiner Schwestern und anderer Familienmitglieder als sonderbar charakterisiert, als andersartig, sich selbst genügend und beharrlich bis zur Unbeugsamkeit. Der Bericht über den kleinen, zerzausten Wilhelm, der seine Hose draußen im Wald trocknen lässt und sich weigert, zum Gut mitzufahren, fügt sich ein in die Palette von flüchtigen Eindrücken, die wir aus seinen Kinderjahren haben.

»Wilhelm war als kleiner Junge eigentümlich und sonderbar«, schrieb seine jüngere Schwester Thyra über ihren größeren Bruder. Dabei ist ihr Ton aber liebevoll, und sie beschreibt ihn im gleichen Atemzug als liebenswürdig und charmant.

Seine Schwester Anna schrieb, dass er »schon von klein auf ein wunderlicher Charakter gewesen ist. Etwas, an das er gewöhnt war und das er mochte, davon wollte er nicht lassen. Für meine Mutter war es die reine Tortur, ihn dazu zu bewegen, Winter- und Sommerkleidung zu wechseln und umgekehrt. Von seinen Kindermädchen wurde er stets sehr geliebt und gewiss auch ein wenig verwöhnt, er hatte ein ausgeprägt gutes Herz, aber seinen eigenen, unbeugsamen Willen.«

Thomas Dinesen, Wilhelm Dinesens ältester Sohn, erzählte viele Jahre später in einem biografischen Porträt über seinen Vater: »Nach allem, was ich von der Familie und Freunden über ihn gehört habe, und nach Kenntnis seiner eigenen Briefe und Schriften ist er schon als kleiner Junge seine eigenen Wege gegangen, hat sich seine eigenen Ziele gesetzt, ohne Rücksicht auf gängige Meinungen und Vorurteile.«

Dieser Drang, eigenen Ideen zu folgen, führte zu etlichen komischen Auftritten, wie die Nichte Karen Ræder auf der Grundlage von Berichten ihrer Mutter erzählt: »Im Winter saß die ganze Familie abends um einen langen Tisch, der von zwei Kerzen beleuchtet wurde, vermutlich Talgkerzen, die am Kopfende des Tisches vor dem Vater als Familienoberhaupt aufgestellt waren. Dann mussten die Töchter mit ihren feinen ›französischen‹ Batist-Stickereien sich mit dem wenigen Licht begnügen, das bis zu ihnen reichte. An solchen Abenden konnte es dann passieren, dass plötzlich ein lauter Bums ertönte. ›Na ja, das war wohl nur Wilhelm, der eingeschlafen ist‹ ... Er wollte nicht mit seinen Schwestern zusammensitzen, sondern versteckte sich in den Falten einer Gardine; dann konnte es passieren, dass er einschlief und auf den Fußboden purzelte.«

Vielleicht durfte der kleine Wilhelm, hinter einer Gardine versteckt, umfallen oder mit heruntergelassener Hose im Wald stehen. Bei seiner Kindtaufe in der Garnisonskirche, drei Wochen nach seiner Geburt, hatte jedoch alles seine Ordnung. Bei der Taufe am 7. Januar 1846 war nahezu ein ganzer Generalstab zugegen, so viele Offiziere waren anwesend, viele aus dem engeren Kreis der Familie. Einer der Paten war der Onkel Wolfgang von Haffner, der spätere General und Kriegsminister. Der andere Pate, ebenfalls ein Onkel, war der Adlige und Flottenkapitän Christian Krieger, der wenige Jahre später ein dramatisches Ende fand. Er befand sich an Bord des dänischen Linienschiffs Christian VIII., das 1849 in einem Gefecht mit einer deutschen Landbatterie bei Eckernförde in die Luft flog.

Insgesamt gesehen war Wilhelm seit frühester Kindheit von mächtigen Männern und Frauen mit vornehmen Positionen und Titeln umgeben, die über eines oder mehrere Landgüter als Sommersitz oder Stadtpalais in Kopenhagen für den Winteraufenthalt verfügten. Ein Onkel, dessen Familie Wilhelm besonders nahe stehen sollte, war der bereits erwähnte Lehnsgraf Christian Emil Krag-Juel-Vind-Frijs til Frijsenborg, der sich mit Thyra, der jüngeren Schwester von Wilhelm Dinesens Mutter, vermählt hatte. Der Familie ebenfalls nahe standen die beiden Offiziere und Onkel von Haffner und deren Familien, Hauptmann A.W. Dinesens Schwäger. Dazu kam Sophie Steinmann (geborene Dinesen und A.W. Dinesens Schwester), die Witwe von Oberst P.F. Steinmann. Außerdem verkehrte ein Sohn des Obersten aus erster Ehe im Kreise der Dinesens. Er war nach seinem Vater benannt worden und wurde in der letzten Phase des Krieges von 1864 Oberkommandierender General; und auch er wurde nach Ende des verloren gegangenen Krieges Kriegsminister. Hinzu kamen all die adligen Verwandten der Dinesens: die Kammerherren, Hofjunker und Hofjägermeister mit großen Namen wie de Neergaard, Bornemann, von Heinen und Wedel. Dann gab es noch die Verwandten, die ganz einfach nur steinreich waren. Dazu gehörte der Zweig der Familie, der Wilhelms Tante väterlicherseits, Tante Augusta, entsprang, die den Fabrikanten und Gutsbesitzer Klingbjerg heiratete. Einige Familienmitglieder hatten sich für die Wissenschaft entschieden und waren überall sehr angesehen, wie zum Beispiel der Oberarzt Carl Sophus Marius Neergaard Engelstad und dessen Familie.

Zu all diesen kam noch der hochwohlgeborene Freundeskreis in der heimatlichen Umgebung und in Kopenhagen, wo A.W. Dinesen sich natürlich auch eine mondäne Winterwohnung anschaffte, wie es sich für die Oberschicht gehörte. Die Wohnung lag in der Kronprinsessegade, gegenüber dem Park Kongens Have. Unter den Freunden in der Stadt war Finanzminister Graf Sponneck. Zu den Freunden auf dem Lande, in Djursland, gehörten Gutsherren wie Frederik de Lichtenberg, J.B.S. Estrup und Christian Mourier-Petersen. Außerdem verkehrten viele hochrangige Offiziere mit der Familie Dinesen, und etliche von ihnen wurden Generäle und Volkshelden in dem Krieg, der schon bald an die Tür klopfen sollte, der Dreijährige Krieg zwischen Dänemark und Deutschland.

Dieser Umgang mit einem Kreis vermögender und einflussreicher Männer deutet darauf hin, dass es A.W. Dinesen gelungen war, mit dem Erwerb von Katholm Gods zu Wohlstand und Ansehen zu gelangen. Mit seinem Feuereifer hatte er es geschafft, die frühere Konkursmasse wirtschaftlich zu sanieren und sogar den Status eines der tüchtigsten Gutsbesitzer des Landes zu erringen. Aber er war nicht nur tüchtig. Er hatte auch die Zeitumstände auf seiner Seite. In den 1840er Jahren erlebte die Landwirtschaft endlich einen gewaltigen Konjunkturaufschwung, und für den gesamten Stand der Großgrundbesitzer waren bessere Zeiten zu erwarten.

In einem Schreiben, das eher so etwas wie eine Auflistung war, legte A.W. Dinesen in seinen späteren Jahren Rechenschaft über seine Arbeit mit Katholm Gods ab. Er forstete, so berichtete er, auf großen Flächen Wald auf, davon zu einem großen Teil Nadelbäume, an deren späterem Holzschlag er viel Geld verdiente. Auf anderen Flächen pflanzte er Roterlen an. Bestimmte Stellen befestigte er, um Sandtreiben zu vermeiden. Auch einen schönen See legte er an. Er machte ein großes Areal Heidelandschaft urbar, das er als Weidefläche für vierhundert Schafe nutzte. Er baute Schafställe, Schmieden, eine Wassermühle, legte eine Obstplantage an und errichtete zwei große Treibhäuser: In einem baute er Wein an, in dem anderen züchtete er Pfirsiche und Aprikosen. Und so ging es immer weiter. Eine neue Veranda, ein neues Dach für den Westflügel, ein neuer Schornstein, die Decke des Wintergartens wurde instand gesetzt, eine neue eiserne Hängebrücke wurde über den Wallgraben bis zum Garten geführt, eine »neue, gute Turmuhr mit beweglichem Zeiger und ein neues Glockengeläut wurden im Treppenhausturm eingesetzt«.

Hinzu kam, dass A.W. Dinesen einen Kalkbruch kaufte, der sich als so gutes Geschäft erwies, dass er es sich leisten konnte, ein weiteres Landgut zu erwerben, Stensmark. Dank seines Reichtums schaffte er sich »einige Luxusgegenstände« an, wie er es formulierte. Darunter einen Weinkeller mit Platz für achthundert Flaschen Wein.

Zu der exklusiven Welt, in der Wilhelm Dinesen aufwuchs, gehörte ein ganzer Schwarm dienstbarer Geister. Innerhalb des Hauptgebäudes arbeiteten Diener, Zimmermädchen, Küchenpersonal und Waschfrauen, Kammerzofen und Haushälterinnen. Auf dem Gutshof gab es darüber hinaus Gärtner, Kutscher, Stallburschen, Hühnermägde, Frauen, die die Milch verarbeiteten, und Pferdeknechte – stets emsig beschäftigt und unter ständiger Aufsicht des Gutsverwalters.

Aber das Leben auf Katholm war zu A.W. Dinesens Zeit nicht nur für die Herrschaft angenehm. Mit Dinesen waren auch für die Bauern in der Gegend bessere Zeiten angebrochen. Nicht umsonst bewunderte er Abd el-Kader. Inspiriert vom Beispiel des arabischen Freiheitskämpfers hatte sich A.W. Dinesen für die Abschaffung des Frondienstes der Bauern in der Region eingesetzt. Die Bauern sollten frei und in der Lage sein, ihre eigenen Höfe zu einem angemessenen Preis zu erwerben. Als eine der ersten Maßnahmen als Gutsbesitzer schaffte er das gefürchtete »Hölzerne Pferd« ab. Es handelte sich dabei um ein Folterinstrument mit messerscharfem Rücken, auf das ein Bauer gesetzt wurde, der bestraft werden sollte; an die Füße des Bauern wurden schwere Gewichte gehängt. Dieses verhasste Pferd wurde jetzt feierlich verbrannt. A.W. Dinesen erließ den Bauern auch Steuerschulden an das Gut und den Staat, unter der Bedingung, dass sie versprachen, Steuertermine künftig einzuhalten.

All dies hatte positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung des Guts und auch für den einzelnen Bauern. Zwar wurde der Frondienst nicht von einem Tag auf den anderen abgeschafft, aber er wurde im Laufe der Jahre erleichtert. In Wilhelm Dinesens Kindheit war der Zinsbauer nur noch ein Mythos auf Katholm, und der Ort erlebte eine wirtschaftliche Blüte. Der frühere Finanzminister und Gutsbesitzer Regnar Westenholz til Mattrup – die nächste Generation seiner Familie wird in dieser Geschichte noch eine ganz entscheidende Rolle spielen – fragte A.W. Dinesen einmal, wie sein großes Vermögen zustande gekommen sei.

Dinesen gab kurz und bündig einen Abriss seiner Initiativen, worauf Westenholz antwortete: »Sie sind sehr kühn gewesen, im Krieg wie auch im Frieden.«

Kühn war er auch im Ehebett. Wilhelm Dinesen bekam eine ganze Schar von Geschwistern. Insgesamt gebar Alvilde acht Kinder, zwei Söhne und sechs Töchter.

Wilhelm hatte zwei ältere Geschwister. Alvilde, nach ihrer Mutter benannt und 1841 geboren, war die Älteste. Sie galt als schönes, schlankes Mädchen, das gern tanzte und »das ihre kleinen Schwestern verzückt anstarrten, als diese sie im Ballkleid und mit einem Kranz aus Kornblumen auf ihrem hellblonden Haar sahen«, heißt es in einer schriftlich festgehaltenen Erinnerung.

Das zweitälteste Kind war Wilhelms großer Bruder Laurentzius, der trotz einer etwas abweichenden Schreibweise des Namens nach Hauptmann A.W. Dinesens altem Freund und Reisegefährten, dem Kammerjunker Laurentius Neergaard benannt war. Als Junge war Laurentzius blond und mager. Und er war blauäugig, im doppelten Sinn des Wortes. Man kannte ihn als einen soliden jungen Mann, der über keinen großen Witz verfügte. Ein bisschen langsam und ein wenig naiv, doch als junger Gardeoffizier erschien er mit seiner hochgewachsenen, schlanken und inzwischen breitschultrigen Gestalt, seinen scharfgeschnittenen Gesichtszügen und den klaren Augen wie ein Glanzbild aus einem Bilderbuch. Nicht zuletzt aufgrund seines präsentablen Äußeren bestimmte man ihn 1866 zum persönlichen Attaché des Kronprinzen auf einer Reise nach Sankt Petersburg. Kronprinz Frederik war zusammen mit Prinzessin Dagmar auf dem Weg nach Sankt Petersburg, um an Dagmars Hochzeit mit dem großfürstlichen Thronfolger Alexander teilzunehmen.

Die Reise nach Sankt Petersburg und die rauschenden Festtage dort wurden für Laurentzius zu einem Ereignis, von dem er zeit seines Lebens schwärmte. Besonders gern erzählte er von seinem diskreten Flirt mit der hübschen Prinzessin Dagmar. Auf der Fahrt mit dem Schiff zur russischen Hauptstadt war er von ihr verzaubert. Als er an einem hellen Sommerabend an Deck neben der Prinzessin stand, sah sie verträumt auf das vom Mond beschienene Meer hinaus und fragte: »Was ist das Größte auf der Welt, Dinesen?«

»Die Liebe, Eure Königliche Hoheit!«, antwortete er ohne zu zögern.

Aber wie sehr er auch für romantische Liebesabenteuer empfänglich war, so sollte sich sein Lebensweg doch in festen Bahnen bewegen. Als ältester Sohn der Kinderschar würde er einst das Gut und das Land erben. Sein Vater glaubte, eine Offiziersausbildung wäre gut für ihn, aber es stand nie in Frage, dass er einmal das Gut übernehmen würde.

Wie es bei Vätern in der damaligen Zeit so oft der Fall war, gab ihm der Patriarch A.W. Dinesen Ermahnungen, gute Ratschläge und goldene Lebensregeln mit auf den Weg, die stets so ernsthaft vermittelt wurden, als ob es sich dabei um die Zehn Gebote handeln würde.

So schickte er während eines Aufenthalts in Kopenhagen dem nicht einmal zehn Jahre alten Laurentzius einen Klumpen Gold mit einem Begleitbrief, in dem es hieß:

»Mein lieber, kleiner Laurentzius!

Gold ist das edelste Metall auf Erden; auch unter vielfältigen Umständen verändert es sich nicht, und so sollte es auch mit dem Herzen und dem Gemüt des Menschen sein: ›Sei treu wie Gold!‹, das heißt, erfülle Deine Pflichten mit unerschütterlicher Standhaftigkeit, ganz gleich ob sie Dir selbst zum Vorteil oder zum Schaden gereichen; bewahre Dir treu ein reines und liebevolles Herz, sei ein dankbarer und liebender Sohn und vergiss nie die Fürsorge, Liebe und liebevolle Zuwendung, die Deine Mutter Dir seit der Stunde, als Du das Licht der Welt erblicktest, entgegengebracht hat. Sei ein treuer, in Liebe zugeneigter Bruder, und halte Dir stets Deine glückliche Kindheit und Jugend vor Augen, und bewahre Dir die Reinheit und Unschuld der Seele und der Gedanken, welche die Kindheit so froh machen ... Mit diesen Gedanken, mein lieber Laurentzius, sehe ich Deiner Zukunft entgegen; vergiss nie die Worte Deines Vaters, die sich auf Erfahrung stützen. Bewahre diese Zeilen so wie auch dieses Stück Gold, gib sie nicht aus der Hand, sondern lies oft, was ich schreibe; und glaube mir wahrlich – ohne strenge Erfüllung all seiner Pflichten gibt es kein irdisches Glück und keinen klaren, leuchtenden Blick in das himmlische, also keinen Seelenfrieden, der das höchste Gut im Leben und in der Stunde des Todes eine Seligkeit ist ... Könnte ich nur recht lange an Deiner Seite sein, und Dir diese große Wahrheit recht oft noch wiederholen, eine Wahrheit, welche die zärtliche Liebe Deiner teuren Mutter bereits tief in Dein Gemüt und Dein Herz gesenkt hat.

›Sei treu wie Gold!‹

Dein Dich liebender Vater, Dinesen.«

Wilhelm, das dritte der Kinder, hatte blaue, glasklare Augen wie sein Bruder, allerdings war sein Haar kastanienbraun und nicht blond. Auch der Blick war ein ganz anderer, wenn man die Fotos der beiden aus ihrer Kindheit und Jugend sieht. Laurentzius’ Blick war weich und mild wie der eines treuen Hundes. Wenn man dagegen Wilhelms Augen sieht, scheint es, als schaue man in die Augen eines wachsamen Wolfs. Sein Blick war scharf und wach, mit einem Anflug von Misstrauen, als würde er im nächsten Moment zur Flucht ansetzen. Aber ebenso fand sich ein ständiger Schimmer von Verwundbarkeit in seinem Blick, auch als seine Augenlider im Erwachsenenalter schwerer wurden und der Blick mehr in die Ferne schweifte, träumerischer wurde.

Vielleicht rührte der Fluchtinstinkt von der Welt her, in der er aufwuchs. Er entwickelte nie eine enge Beziehung zu Laurentzius. Obwohl ihr Vater, A.W. Dinesen, auch in Bezug auf Wilhelm große Ambitionen hegte, widmete er doch seine größte Aufmerksamkeit dem ältesten Sohn Laurentzius. Und der große Bruder fühlte sich schnell zu der Welt des Vaters hingezogen. Das bedeutete, dass Wilhelm praktisch der einzige Junge in einem von Frauen und Mädchen dominierten Umfeld war.

Neben seiner älteren Schwester Alvilde hatte er fünf weitere jüngere Schwestern: Thyra, Anna, Emilie Augusta – genannt Emy –, Christentze Bryske – genannt Tenne – und die kleine Dagmar. »Wie hübsch sie doch alle waren«, bemerkte eine der Lehrerinnen der Mädchen, Fräulein Hagerup, einmal begeistert. »Besonders Thyra. Emy war wie eine kleine Rosenknospe! Und dann die besonders hinreißende Christentze. Dagmar, die Jüngste mit den dichten, blonden Haaren, die so lang waren, dass sie darauf sitzen konnte, war ebenfalls süß.« Zweifellos war dieser Rückblick aus der Erinnerung heraus idealisierend, aber er reflektiert auch, dass die Mädchen in einem beschützten Umfeld lebten, wo sich nahezu alles um Geborgenheit, Harmonie, Schönheit und Komfort drehte. Die Mädchen sollten sich zu anmutigen, hinreißenden jungen Damen entwickeln, die eine gute Partie machen könnten, wenn die Zeit gekommen war und der rechte Prinz, oder wohl eher Kammerjunker, um ihre Hand anhielt.

Jedes der Mädchen hatte seine persönliche Kammerzofe für die Morgentoilette, die eine kleine Wissenschaft war. Es brauchte einige Zeit und erforderte viel Geschick, die kunstvollen Frisuren mit hochgesteckten Zöpfen und lose geschlängelten Locken zu kreieren. Von der Mühe, den Mädchen in die Kleider zu helfen, ganz zu schweigen. Schon bei halboffiziellen Anlässen mussten selbst die kleinen Mädchen sich in ein Korsett zwängen lassen, dann kamen Schicht um Schicht Unterhemden oder ein Reifrock und darüber ein schweres Kleid mit Schleppe. Es war keine einfach zu tragende Mode, und die Mädchen glichen kleinen Teekannenwärmern mit Rumpf und Kopf.

A.W. Dinesen sorgte dafür, dass jede seiner Töchter ihr eigenes Reitpferd bekam und dass jede seiner kleinen Prinzessinnen auch ein Pony hatte, das für ihre eigene Pferdekutsche verwendet werden konnte. Außerdem wurden die Mädchen täglich von dänischen und ausländischen Privatlehrerinnen unterrichtet, die ihnen alles beibrachten, vom Binden von Blumenkränzen bis hin zu französischen Verben. Neben dem täglichen Unterricht gab es für die jungen Damen eigentlich keine Pflichten, sieht man von einer recht einfach durchführbaren Pflicht ab. »Ihre Pflicht bestand darin, dass sie abwechselnd ihre ›Woche hatten‹, was allerdings lediglich bedeutete, dass sie jeweils die Gerichte für die Mahlzeiten bestimmten und das Essen abschmeckten, bevor es angerichtet wurde. Das Kochen selbst lernten sie nie«, so ein Nachfahre der Dinesens.

Aber wie auch ihre Brüder lernten sie die vielen Formen der Etikette des gesellschaftlichen Lebens. Zu den wichtigsten und größten Ereignissen auf dem Gut gehörten die großen Abendgesellschaften anlässlich der Familienfeste oder der großen Herbstjagden. Ein Dinesen-Nachfahre berichtet: »An den Treibjagden selbst nahmen nur etwa zwölf Jäger teil, aber zum Abendessen erschienen auch die Damen aus der Umgebung. Die Jagd dauerte zwei bis drei Tage ununterbrochen ... Zu solchen Anlässen bestanden die Abendessen, wie es zu der Zeit üblich war, aus acht bis zehn Gängen; zwei Bratengerichte wurden für absolut notwendig erachtet. Bei einem Sommerfest konnte das Menü etwa so aussehen: Melone – Suppen – Hummer au naturel – junge Enten – Räucherlachs – Hirschbraten – Käseplatten – Vanilleeis mit Erdbeeren.«

Bei großen Festlichkeiten wie diesen waren sämtliche der vielen Gästezimmer tagelang belegt. »Für das Personal bedeutete es eine große Belastung, besonders physisch. Die Haushälterin, die Diener und die Kammermädchen bekamen bei mehrtägigen Jagden nicht gerade viel Schlaf ... Ich erinnere mich an eine Haushälterin, die in Ohnmacht fiel, als die Gäste endlich wohlbehalten aus dem Haus waren, und an eine andere, die weinend zu Bett ging!«, so der Dinesen-Nachkomme in seinen Erinnerungen an Katholm.

Während der Festlichkeiten und bei jedwedem gesellschaftlichen Treffen wurde großer Wert auf Manieren und Etikette gelegt, auf die Kunst, eine geistreiche und lebendige Konversation über Kunst, Literatur, Poesie und aktuelle Innen- und Außenpolitik zu führen, und darauf, qualifizierte Bewertungen des servierten Weins zu äußern. Gespräche über Literatur und Kunst fanden allerdings meist unter den Frauen statt. Bei den Männern ging es vorwiegend um Jagd, Fischerei, Pferdezucht, Kriegswesen und Politik, und gleichzeitig diskutierte man besorgt darüber, wie sich Rinderpest und Kartoffelkäfer am besten bekämpfen ließen.

Der Literatur und Geschichtsschreibung späterer Zeiten zufolge zeichnet sich die Konversation der Aristokratie durch leere und oberflächliche Phrasen aus, der Umgangston und die Formen werden als dekadenter Manierismus bezeichnet. Häufig wurde dieses Bild als direktes oder indirektes Geschütz im Kampf des Bürgertums für die Demokratie und die Abschaffung der Standesprivilegien – und später im Klassenkampf der Linken – benutzt.

Doch dieses Bild ist stark überzeichnet und größtenteils unkorrekt. Das in Privatbesitz befindliche Gutsbesitzerarchiv von Frijsenborg, wo Wilhelm Dinesens Onkel und Tante, Lehnsgraf C.E. Frijs und Lehnsgräfin Thyra Frijs, zu einem großen Teil des Jahres wohnten, zeugt jedenfalls von einer anderen Geschichte. Thyra Frijs hat in ihren Papieren ausführliche Beschreibungen der aktuellen Themen der damaligen Zeit auf dem Gebiet der Kunst, Philosophie, Literatur, Musik und Politik hinterlassen, dazu dicke, laufend aktualisierte Fotoalben mit Bildern der größten dänischen und internationalen Künstler und Politiker – vom dänischen Komponisten J.O.E. Hornemann über den deutschen Philosophen G.W.F. Hegel bis hin zum französischen Kaiser Napoleon III. Es wurde von Standesangehörigen einfach erwartet, dass man im Rahmen seiner Bildung all diese Persönlichkeiten kannte, dass man geistvoll über sie sprechen und zu ihren Werken oder ihrem politischen Kurs Stellung nehmen konnte.

In vielerlei Hinsicht erinnerten Familien wie die Dinesens, Haffners, Ahlefeldts und Frijs bei Gesellschaften und Zusammenkünften an die fiktive jüdische Patrizierfamilie Salomon, die Henrik Pontoppidan in seinem Roman Lykke-Per (»Glückspeter«) beschrieben hat. Der bettelarme Per, Sohn eines strengen, sich selbst verleugnenden und moralisierenden Pfarrers, kommt mit einem gemischten Gefühl aus Abscheu und Verlegenheit zu der Patrizierfamilie zu Besuch. Aber schnell entdeckt Lykke-Per, dass er unter ungewöhnlich gebildeten Menschen ist. Pontoppidan beschreibt Pers Erkenntnis, wie Reichtum auch den Charakter des Menschen beeinflussen kann, folgendermaßen:

»Bisher hatte er nach Bauernart das Geld nahezu als eine Waffe betrachtet, mit der man sich – halb meuchelmörderisch – im Daseinskampf behauptete. Jetzt wurden ihm die Augen geöffnet, welche Bedeutung gesicherte Lebensbedingungen auch für das gesunde geistige Wachstum eines Menschen haben konnten, für eine ruhige und freie Entfaltung des Charakters.«

Ein Element davon – Raum für die freie Entfaltung des Charakters – fand sich jedenfalls im Heim der Familie Dinesen und in den aristokratischen Häusern, in denen diese sich bewegte. Von Wilhelm und seinen Geschwistern wurde alles aufgesaugt. Sie lernten gute Manieren und Konversationsformen und konnten – nicht zuletzt dank der vielen Privatlehrer – bei gesellschaftlichen Anlässen mit vernünftigen und einsichtigen Äußerungen zur Konversation beitragen.

Wilhelm Dinesen hat bei diesen Zusammenkünften seinen Vater in der Rolle des großen Patriarchen erlebt. A.W. Dinesen war ein Mann von überschäumender Energie. Ein Mann mit einem dröhnenden Lachen, der herzlich und liebenswürdig war, der flirtete und als der tüchtigste Jäger in der Gesellschaft galt. Er hielt die großen Reden und trank mehrere Flaschen Wein allein, ohne dass man es ihm anmerkte. In Gesprächen wechselte er problemlos zwischen Französisch, Deutsch und Dänisch, und mit der gleichen Natürlichkeit küsste er einer Frau oder einem Fräulein die Hand und machte der Betreffenden Komplimente zu ihrem Kleid, so wie er auch seinen eigenen Standpunkt bezüglich der jüngsten diplomatischen Verwicklungen im Schwarzen Meer zwischen Frankreich, Großbritannien und Russland vertrat.

Ein regelmäßiger Anlass für festliche Tage auf Katholm hatte jedoch einen anderen, einen volkstümlichen Charakter, und zwar das jährliche Erntedankfest, bei dem Herrschaft und Bedienstete bis in den frühen Morgen hinein zusammen feierten. Der Herbstball auf Katholm fand normalerweise im September statt. Die Festlichkeiten begannen am Nachmittag mit dem »Speiseballett, für das«, laut Wilhelm Dinesen, »Kühe, Schafe und Schweine geschlachtet worden waren«. An das Speiseballett schloss sich das Tanzballett an. »Das Tanzen ist lustig«, schrieb Dinesen einmal als Erwachsener über ein Erntedankfest, das ihn aber an diejenigen in seiner Kindheit erinnerte; Feste, bei denen alle Menschen aus dem Umfeld des Herrensitzes zugegen waren, von Lars dem Kutscher über die örtliche Fischerfamilie bis hin zu dem großen Patriarchen, seiner Gemahlin und den Kindern der Herrschaft.

»Niels Klin spielt auf, er bearbeitet die Geige, schlägt mit dem Fuß dazu den Takt; seine langen Locken zeugen davon, dass er Künstler ist. Und der Tanz ist lustig. Beim Erntedankfest sind die Haushälterin, die Kammerzofe, die Melkerin, die Herrin der Burg und die Fräulein nicht einen Deut mehr wert als die Waschfrau oder die Hühnermagd. Der hemdsärmelige Kavalier mit der Tabakpfeife im Mundwinkel streckt einen Arm aus, leicht angewinkelt; eine Aufforderung, der Folge geleistet werden muss, und dann kann der Körper, sei er nun schlank oder drall, dorthinein krabbeln. Wenn der Musiker verschnauft, werden Smørrebrød herumgereicht, solide Brotscheiben, dick bestrichen mit Butter und daumendick belegt mit Aufschnitt. Der Fischer wirft lüsterne Blicke auf das Bierfass, muss aber passen; er kann nicht mehr, er ist randvoll ... Und dann gibt es Punsch. Man trinkt auf das Wohl der Herrschaft, der Familie, des Verwalters.

Aber der lütte Jørgen, der schon beim Speiseballett zu viel getrunken hat, und der gar nichts verträgt, meint, es wäre am besten, es den anderen gleichzutun, und prostet und grölt: ›Viel Geld und viele Kinder‹.

Und dann geht der Tanz wieder los, in Rauch und Staub und mit Getrampel und Gekicher, und die Geige quietscht, und die Trommel schlägt, und die Kerle schwitzen, und die Mädchen glühen vor Glück oder Unglück.«

Natürlich gab es auch Tage ohne wilde Bälle, teure Abendgesellschaften und geistreiche Gespräche. Die männlichen Aristokraten betrieben auch gern einen forcierten Anti-Intellektualismus, der sich gegen die bürgerlichen Professorentypen richtete – die Leute von der Universität, denen man mit Skepsis begegnete. Auch weil man nach eigenem Hierarchieverständnis als Jäger, Soldat und Verführer für sich einen höheren Status in Anspruch nahm als etwas so wenig Männliches – wie ein Bücherwurm.

A.W. Dinesen machte auch eine Tugend daraus, dass man in der Lebensweise und beim Essen bisweilen maßhielt, bei solchen Gelegenheiten hielt er bisweilen sogar Vorträge über den asketischen Abd el-Kader.

Die Gutsherren, insbesondere deren Familien, die Frau Gemahlin mit Kindern, Kindermädchen und Gouvernanten, waren, sofern sie sich nicht während der Wintersaison in ihren herrschaftlichen Wohnungen und Palais in der Stadt aufhielten, fast wie eine kleine Theater-Wandertruppe – sie reisten stets umher. Auf den Herrensitzen stattete man sich ständig Besuche ab, und dann kam man nicht mal eben auf eine Tasse Kaffee im heutigen Sinn vorbei. Man blieb tage-, vielleicht sogar wochenlang. Lange bevor »Urlaub« zu einem allgemein verbreiteten Phänomen wurde, praktizierte ihn der Gutsbesitzerstand mit ausgeprägter Leidenschaft. Zu Weihnachten, Ostern und über lange Zeiträume im Sommer kehrten die Söhne heim: von ihren Offiziersschulen oder aus den pulsierenden Weltstädten, in die sie als Militärattachés oder Botschaftssekretäre entsandt worden waren. Wenn sie daheim zu Besuch waren, herrschte unter den Angehörigen der Herrschaft auf dem Gut eine ganz besondere Ferienstimmung.

Ein junger, von den Eindrücken ganz überwältigter Student, der sich eines Sommers auf Katholm aufhielt, schrieb darüber an seine Schwester: Hier ist es wie im Paradies. »Und das ist noch gelinde ausgedrückt. Wir taten den ganzen Tag nichts anderes, als auf die Schnepfenjagd zu gehen – allerdings ohne Erfolg –, durch die Wälder zu reiten, Spazierfahrten zu machen etc. Zu Hause plauderte man im Mondschein mit den jungen Damen in der Fensternische oder streifte mit ihnen am Ufer des Meeres umher, während der Mond die plätschernden Wogen in Silber tauchte ... Leider ist es bei solchen Gelegenheiten bekanntlich ja immer so, dass der Heimweg so verflixt kurz ist und der Kutscher so schnell fährt, als gelte es, die Hebamme zu holen. Aber wie lange war Adam schon im Paradies?«

Feuer und Blut

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