Читать книгу Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty - Страница 7
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ОглавлениеKnapp zehn Kilometer südlich des Provinzstädtchens Grenaa in Norddjursland erhebt sich in der Nähe des tosenden Kattegats ein altes, rostrotes, dreiflügeliges Renaissancegebäude mit Kellergewölben, Türmen, geschwungenen Giebeln und hohen Dachfirsten. Es liegt zwischen üppigen Buchenwäldern auf einer Insel mitten im See. Man gelangt zu dem Ort über einen schmalen Hohlweg. Gekrümmte Buchen säumen den Weg, schmiegen sich aneinander in verzweigten Umarmungen und bilden so einen dunklen Tunnel, der zu einem der schönsten Herrensitze Dänemarks führt, Katholm Gods.
Erbaut wurde das Herrenhaus und die dazugehörenden Wirtschaftsund Arbeitsgebäude Ende des 16. Jahrhunderts von einem Gutsherrn namens Thomas Fasti, einer gewaltigen Erscheinung, der im Kampf ein Auge verloren hatte. Mit großer Tapferkeit hatte Thomas Fasti an etlichen Kriegen teilgenommen, unter anderen an dem Siebenjährigen Nordischen Krieg von 1563 bis 1570. Aber nach zahlreichen Feldzügen und treuem Dienst unter dem kriegslüsternen Frederik II. hatte er das Gefühl, dass es Zeit wäre, ein Leben als Zivilist zu führen. Thomas Fasti war für seinen Einsatz im Krieg vom König reich belohnt worden, er besaß mehrere große Höfe und Güter in Djursland. Zu ihnen gehörte Katholm, das nahe am Kattegat im äußersten Osten der jütländischen Halbinsel lag.
Das heißt, Katholm Gods war zu dieser Zeit lediglich ein großer, schlichter Hof, den er von seinem Vater, Christian Fasti, geerbt hatte. Nun zu Reichtum und Ehre gelangt, war Thomas Fasti von der Idee besessen, dass dieser Ort die Krönung seines Lebenswerks werden sollte. In einer geradezu unverfrorenen Präsentation dessen, was er vermochte, ließ er auf der Insel im See zwei imposante, sehr moderne, zweistöckige Hauptflügel errichten. Im Jahr 1600 war der Bau vollendet.
Abgesehen davon, dass später noch ein weiterer Flügel gebaut wurde und fortlaufend Verbesserungen durchgeführt wurden, ruhte über Katholm Gods, wie dies für Herrensitze typisch ist, bald eine eigentümliche Aura der Unveränderlichkeit. Generationen kamen und gingen, während der Herrensitz einfach stehen blieb, wie ein alter, stolzer Mann, der seinen Blick in die Ferne richtet. Thomas Fasti selbst konnte nur neun Jahre auf Katholm Gods wohnen, bevor er starb. Aber es folgten neue Generationen. Im Laufe der Jahrhunderte war das Landgut als Wohnsitz in wechselndem Besitz von Gutsherren mit klangvollen aristokratischen Nachnamen wie Skeel, Sehested, Ramme, Trolle und Rosenørn. Einige dieser Gutsherren erwiesen sich als human, andere zeigten sich hart gegenüber ihren Zinsbauern. Manche verstanden sich auf die Verwaltung des Gutes, andere wiederum nicht.
Und es gab einiges zu verwalten. Zu Katholm Gods gehörten fast tausend Morgen Ackerland, Wiesen, Heideflächen, Dünen und Strand und ein ebenso großes Waldgebiet. Hierzu kam die Bodenfläche der Zinsbauern, rund gerechnet 3000 Morgen Land, die sich auf 14 Höfe und 10 Häuser im Dorf Høibjerg, 17 Höfe und 19 Häuser im Nachbardorf Aalsrode und sechs Höfe und vier Häuser in der benachbarten Gemeinde Hoed Sogn verteilten. Zum Umland des Landguts gehörte auch die hübsche Kirche der Gemeinde Aalsø. Wenn die Kirche frisch gekalkt war, schimmerte sie weiß durch die sanften Hügel, die sie umgaben.
Das hoch aufragende, rote Gebäude des Herrensitzes und die kleine Welt aus Agrarflächen, Wäldern, Dörfern und der Kirche, die sich um den Haupthof als Zentrum gruppierten, waren durchaus einer königlichen Familie würdig. So dachte zweifellos auch Wilhelm Dinesens Vater, der einunddreißigjährige Junggeselle und Artillerieoffizier im dänischen Heer, A.W. Dinesen, als er den Ort zum ersten Mal sah und 1839 den Herrensitz mit allem, was an Boden und Dörfern dazugehörte, kaufte.
Der neue Gutsbesitzer erinnerte in vieler Hinsicht erstaunlich an den Erbauer von Katholm, Thomas Fasti. Als Wilhelm Dinesens Vater nach Katholm kam, war er durch und durch Soldat. Hochdekoriert hatte er als Freiwilliger im französischen Heer 1837 im Kolonialkrieg in Algerien gekämpft. Er war zum Artilleriehauptmann befördert und mit der renommierten Tapferkeitsmedaille der Ehrenlegion ausgezeichnet worden. Wenige Jahre zuvor hatte das dänische Königshaus ihm als großzügige Anerkennung seiner Fähigkeiten als Offizier den Orden »Ritter des Dannebrog« verliehen.
Der junge Dannebrog-Ritter war das, was er seinem Äußeren nach zu sein schien: ein furchtloser Offizier. Groß und schlank, mit feurigem Blick aus tiefliegenden Augen, einem scharf geschnittenen Gesicht und einem überschäumenden, ruhelosen Temperament, das sein ganzes Wesen zu verkörpern schien. Aber wie Thomas Fasti knapp dreihundert Jahre früher kam auch er nach Katholm, um das wechselhafte Soldatenleben hinter sich zu lassen.
Wilhelm Dinesens Vater war ein Sohn des Gutsbesitzers Jens Kraft Dinesen und wurde am 27. Dezember 1807 auf einem der größten und wirtschaftlich solidesten Herrensitze des Landes geboren, dem Landgut Kragerup Gods in der Gemeinde Ørslev Sogn im Westen von Seeland. Der Junge wurde auf den Namen Adolph Wilhelm Dinesen getauft, aber in seinem späteren Leben als Erwachsener wurde er in der Regel A.W. Dinesen genannt. Er war das siebte Kind einer achtköpfigen Kinderschar und der drittälteste Sohn.
A.W. Dinesen gehörte einem Bauerngeschlecht an, das seinen Stammbaum bis ins Mittelalter zurückführen konnte, allerdings ließ sich mit den frühesten Ahnen nicht sonderlich prahlen. Sie waren einfache Zinsbauern gewesen. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Zinsjoch aufgehoben, als ein Ahne namens Jørgen Dinissøn sowohl Fronvogt als auch Pächter in der Gegend von Sorø werden konnte.
Jørgen Dinissøns ältester Sohn war Anders Dinesen. Mit ihm wurde »Dinesen« zum festen Familiennamen. Er wird als der eigentliche Stammvater des Dinesen-Geschlechts angesehen, und sämtliche Nachkommen, einschließlich A.W. Dinesen und Wilhelm Dinesen, nannten ihn als Ersten, wenn die Rede auf Leben und Taten des ganzen Geschlechts kam.
Anders Dinesen war ein ungewöhnlich heller Kopf, und lokale Wohltäter bezahlten ihm deshalb ein Universitätsstudium. Als Dreiundzwanzigjähriger war Anders Dinesen fertig ausgebildeter Jurist, im Jahr darauf wurde er Richter. Drei Jahre später wurde er Kanzleiassessor (d.h. juristischer Assistent in der öffentlichen Verwaltung).
Mit Geld, das vermögende Freunde ihm liehen, kaufte er in der Gemeinde Kirkerup nördlich von Roskilde das Gut Store Østrupgaard mit dazugehöriger Schule, sechs Bauernhöfen und elf Häusern. Der Einsatz lohnte sich. Er besaß, wie einer seiner Nachkommen es später nüchtern formulierte, »ungewöhnlich gute wirtschaftliche Fähigkeiten«. Anders war versessen auf seinen Erfolg, und die Expansion seiner Unternehmungen war damit noch längst nicht beendet. 1774 konnte er ein gewaltiges Stück Land erwerben, das der Krone gehörte – knapp 6000 Morgen Land, das der König, der in Geldnöten war, ihm zu einem günstigen Preis verkaufte. Zu dem Land gehörten 133 Bauern und 121 Häusler, eine Ziegelei, eine Meierei, Mühlen, mehrere Kirchen, Wälder, 200 Kühe, ein Dutzend Bullen, Pferde, Ochsen, Schafe und Obstplantagen.
Der Boden war fruchtbar, und am Rand der besten Äcker, der sogenannten »Goldäcker«, baute Anders Dinesen einen neuen Haupthof in klassizistischem Stil, der auf den Namen Gyldenholm getauft wurde. Damit war Anders Dinesen in ganz kurzer Zeit einer der reichsten Gutsbesitzer Dänemarks geworden und hatte einen schier unglaublichen sozialen Aufstieg geschafft. Aber trotz seines extremen Aufwärtsstrebens gelang ihm nicht die Erfüllung seines alten Traumes, in den Adelsstand erhoben zu werden. Dies war eigentlich die Absicht des Königs gewesen. Anders Dinesen starb, nur sechsundvierzig Jahre alt, und wurde ohne den ersehnten Titel eines Barons begraben. Nichts davon änderte jedoch etwas daran, dass er dem Dinesen-Geschlecht eine goldene Zukunft gesichert hatte.
A.W. Dinesens Vater, Jens Kraft Dinesen, war erst fünfundzwanzig Jahre alt, als er nach seinem verstorbenen Vater die Bewirtschaftung des Herrensitzes übernahm. Zu diesem Zeitpunkt war die Welt aus den Fugen geraten. Überall in Europa erregte die Französische Revolution die Gemüter. Besonders die brutale Klimax mit Maximilien Robespierres Terrorregime in Paris 1793–94, das nahezu 16 000 Bürger unter der sausenden Klinge der Guillotine das Leben kostete, löste Schockwellen aus. Unter den Hingerichteten befanden sich auch König Ludwig XVI. und Königin Marie Antoinette.
Die Fürsten der übrigen Großmächte in Europa verfolgten die Geschehnisse voller Entsetzen. Es herrschte die Furcht, der französische Volksaufstand würde sich ausbreiten und der Absolutismus könnte vor dem Fall stehen. Österreich, Russland, Preußen, Spanien, Portugal, Holland – selbst das Osmanische Reich – standen bereit, in Frankreich zu intervenieren.
Die neue französische Republik ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Im Gegenteil, sie ging in die Offensive und stürmte über die Schlachtfelder Europas, angeführt von einem jungen militärischen Genie namens Napoleon Bonaparte. Während eine Reihe von Kriegen große Teile Europas in Brand setzte, konzentrierte sich Jens Kraft Dinesen auf sein Leben als Gutsherr in einer bis auf weiteres friedlichen dänischen Monarchie. Als Landwirt und Geschäftsmann erwies er sich als genau so tüchtig wie sein Vater und schuf sich seine ganz eigene herrschaftliche Welt, als er Gyldenholm verkaufte und stattdessen 1801 nördlich von Slagelse das Gut Kragerup erwarb, ein stolzes Anwesen, das eine Atmosphäre dänischer Adelsmacht ausstrahlte. Hier, auf einem Herrensitz, dessen älteste Mauern aus dem 14. Jahrhundert stammten, hatten einst mächtige Männer wie Christian Friis, Kanzler König Christians IV., und Ove Juul, Vizekanzler und Vizestatthalter in Norwegen residiert.
Auch wenn es Jens Kraft Dinesen trotz geringer Erfolgsaussichten in einer von vernichtenden Kriegen geprägten Zeit gelang, sich die Welt eines grundsoliden Herrensitzes zu schaffen, trat er nicht »in die Fußstapfen seines kühnen Vaters, sondern führte das ruhige, behagliche Leben eines Gutsbesitzers«, wie einer seiner Nachfahren schreibt.
Jens Kraft Dinesens größte und gewagteste Eroberung scheint die Offizierstochter Ulrica Birgitte Christine Göring gewesen zu sein, die er 1795 heiratete. Sie kam aus einer bekannten deutschen Offiziersfamilie (war allerdings nicht verwandt mit dem berüchtigten Hermann Göring), die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts dem dänischen König gedient hatte. Ihr Großvater war in königlichen Diensten gefallen. Ulrica brachte militärische Traditionen und ohne Zweifel auch Geschichten über kriegerische Taten mit in die Familie Dinesen, die bis dahin nur aus friedlichen Landwirten bestanden hatte. Diese Erzählungen und Geschichten über die mächtigen Männer des dänischen Hochadels, die einst auf Kragerup residiert hatten, wurden den Kindern zweifellos wieder und wieder erzählt. Erzählungen, die der drittälteste Sohn geradezu aufsaugte und von denen er geprägt wurde.
Im Gegensatz zu seinem Vater, Jens Kraft Dinesen, hatte dieser drittälteste Sohn, A.W. Dinesen, alles andere als ein ruhiges Gemüt. Er war, wie sein Großvater Anders Dinesen, nicht zu zähmen, um es mit einem Wort zu sagen.
Das Erbfolgegesetz schrieb vor, dass der älteste Sohn Gut und Boden erbte, und weil A.W. Dinesen nicht der Erbe von Kragerup war, schlug er, wie viele andere jüngere Brüder in aristokratischen Familien, eine militärische Laufbahn ein. Es war ein Weg, der sich anbot, auch weil durch seine Mutter Offiziersblut in die Familie gekommen war. Im Alter von nur zehn Jahren wurde A.W. Dinesen nach Kopenhagen auf einen militärischen Vorbereitungslehrgang geschickt. Er sollte der erste Offizier in der Dinesen-Familie werden.