Читать книгу Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty - Страница 11

5

Оглавление

Ganz so wie Adam im Paradies ging es Wilhelm Dinesen auch, als er auf Katholm heranwuchs. Während sich der Vater distanziert und streng zeigte, war seine Mutter Alvilde hingegen voller Zärtlichkeit. Allerdings war sie meist mit den Mädchen und mit der Aufsicht über das viele Personal im Hause beschäftigt. Daher war Wilhelm weitgehend sich selbst überlassen – und er war oft und gern allein.

Trotz der vielen Bediensteten konnte er ungestört durch die langen Gänge mit den dunklen vergoldeten Ledertapeten flitzen, hinein in große helle Räume mit Rokokokommoden, Schreibsekretären und Spiegeln, vorbei an schweren, mit Schnitzereien versehenen Eichenholztüren mit gigantischen sichtbaren Eisenschlössern. Dann ging es weiter, die Treppen hoch und in den großen Rittersaal, der im Winter kalt und menschenleer war und nicht genutzt wurde. Oder er konnte hinaus auf das zu Katholm gehörige Land. Draußen im Freien war er genau das, was er am allerliebsten sein wollte – frei.

Wilhelms spätere Nichte, Karen Ræder, hat vor dem Hintergrund ihrer intimen Kenntnisse der Familiengeschichte und der Geschichte von Katholm ein lebendiges und treffendes Bild seiner Welt draußen im Freien gezeichnet.

» ... man musste einfach dort hinauf, um ergriffen das schäumende Meer zu betrachten, das in gewaltiger Brandung über die Sandbänke spülte – ein stolzer Anblick, wie mein Onkel Laurentzius mit Bestimmtheit sagte, wenn wir zusammen über die Wellen hinüber nach Marsk Stigs Insel Hjelm schauten, die sich bei klarem Wetter hoch gegen den Himmel abhob. Ja, das Meer! Wir sagten niemals Kattegat, nur das Meer – so wie die Nordseefischer von ›die See‹ sprechen – das war eine der vielen Herrlichkeiten von Katholm ... Wenn wir nach Katholm kamen, mussten wir sofort hinaus ans Meer, das die östliche Grenze des gesamten Grundstücks bildete. Hier hatte das Meer zwei Reihen von Dünen geschaffen, die einzigen an der gesamten Ostküste Jütlands. Zu Fuß ist es wohl eine Viertelstunde vom Gut zum Meer, das nur vom obersten Stockwerk und den Turmfenstern aus zu sehen ist. Damals ging man übrigens nicht, man lief, wenn es ums Baden ging; durch die Alleen und Tirløvholm und vorbei an dem Knüppeldamm. Dann wurde der Weg sandig, das Brausen des Meeres war deutlicher zu hören, man erreichte die erste Dünenreihe, kletterte an dieser hoch und dann ging es im Lauf über den flachen Abschnitt, auf dem vereinzelt Büsche wilder Rosen, duftende Gagelsträucher, Haferpflaumen, gelbe Strohblumen und einzelne Wacholderbüsche wuchsen ... Diese lange, unfruchtbare Sandfläche mit ihrem spärlichen Graswuchs wurde zur Zeit meines Großvaters für die Schafhaltung genutzt. Es war ein sehr imponierender Anblick, wenn abends der Schäfer die etwa 300 Schafe heim zum Hof trieb.«

Die schöne landschaftliche Umgebung bildete die Grundlage für Wilhelm Dinesens lebenslange Passion für die Jagd und seine Naturbegeisterung. Schon als Halbwüchsiger war er ein eifriger Schütze, der auf Jagd nach Enten, Rebhühnern, Fasanen oder Schnepfen ging und in den Seen Hechte, Schleien und Aale fischte. Während er, wie er es später selbst formulierte, allein umherstreifte, lernte er aus der Natur zu lesen und sie zu schätzen. Er lernte ihre Rhythmen kennen, ihre Laute, ihre Gerüche, ihre Vielfalt. Von Kindesbeinen an kannte er alle Pflanzen- und Tierarten in diesem Universum, vom Birkhuhn bis zum Dachs, vom Milan bis zum Baumfalken, der die Schwalbe im Flug schlägt. Er genoss den Klang des rieselnden Baches; er sah Tropfen von Schneewehen perlen, er pflückte Brunnenkresse auf den Böschungen, er sog die Luft und die sengenden Strahlen der Sonne in sich auf. Ja, er kannte schnell seinen Wald, seine Quellen, seine Buchenhecken, seine Tannendickichte, und er kannte besonders die Dünen, die sich die Küste entlangzogen, ihre Kämme und ihre mit Strandhafer bewachsenen Hänge.

Über dieses Meer, das Kattegat, spähte der kleine Wilhelm oft stundenlang. »Ich sitze auf dem Kamm der Düne. Ich habe Zeit ...«, schrieb er später. Sowohl als Kind wie auch später als Erwachsener war er ein wahrer Tagträumer.

Es gibt nur wenige eigenhändige Briefe von A.W. Dinesen, in denen er seinen zweitältesten Sohn Wilhelm erwähnt, darunter einen Brief an Laurentzius aus dem Jahr 1852, als Wilhelm sieben Jahre alt war. Darin schreibt der Vater über Wilhelm, dass er »alle Anzeichen und Anlagen zu einem starken und edlen Charakter zu besitzen scheint«.

Der Patriarch hatte ihn bisher nicht sonderlich beachtet, aber als der zweitälteste Sohn weiter heranwuchs, begann der Vater zu spüren, dass dieser Sohn einen etwas »zu starken« Charakter hatte. Viele Jahre später schrieb Thomas Dinesen, Wilhelms ältester Sohn, dass »er [Wilhelm] sich als einziger von den Geschwistern nicht dem Gebot seines Vaters gefügt hätte«.

Und dies, obwohl es im Verlauf der Jahre immer mehr gab, dem man sich fügen musste. Gutsbesitzer Dinesen schien sein Vorbild, den humanen Gutsbesitzer, nach und nach zu vergessen und entwickelte sich mit zunehmendem Alter zu einem gnadenlosen Alleinherrscher. »Er war stets gut und liebevoll gegenüber den folgsamen Kindern und ein ausgezeichneter Helfer, wenn Menschen in Schwierigkeiten waren«, schrieb Thomas Dinesen über seinen Großvater, »aber er hielt es für selbstverständlich, dass man ihn bei jeglicher Zusammenkunft als die Nummer Eins anerkannte, er riss ein Fenster auf, um einen Stalljungen wütend anzubrüllen, der ohne jeglichen Fehl seine Arbeit versah, und er konnte gnadenlos jeden hinauswerfen, mit dem er nicht zufrieden war. Abends ... saß er an seinem Schreibtisch, mit einer Kerze an jedem Tischende, während ein Sohn oder zwei, fünf bis sechs Töchter, der Lehrling, das Kindermädchen etc. im Saal von Katholm um den großen Tisch herum saßen mit nur einer Kerze mitten auf dem Tisch.«

Von anderen Gutsherren und Offizieren wurde A.W. Dinesen für seine Selbstsicherheit, sein fortschrittliches Denken und für seine Visionen bewundert. Von seinen Kindern und allen anderen, die unter ihm standen, wurde er dagegen gefürchtet. Selbstironie war nicht gerade eine Gabe des Gutsbesitzers. Wilhelms Schwester Anna berichtete später über den Vater, dass »sein Fehler eine gewaltsame aufbrausende Art war; und besonders wenn er auf den Arm genommen wurde – oder dies nur glaubte –, konnte er wild werden. Das Merkwürdige war, dass er selbst es gar nicht bemerkte, wenn er so aufbrausend war. Ich habe ihn sagen hören, er sei, als er ganz jung war, sehr aufbrausend gewesen, jedoch bei einer Gelegenheit vollständig davon kuriert worden. ›Ich war mit einigen Bekannten beim Kegeln. Einer von ihnen beschummelte mich, und ich wurde so wütend, dass ich ihm die Kugel an den Kopf werfen wollte, aber in dem Moment wurde ich von einem älteren Freund am Arm gepackt, der hinter mir stand und meine Absicht erkannt hatte. Da wurde mir klar, dass ich mich selbst unglücklich gemacht hätte, wenn ich meinen Vorsatz ausgeführt hätte; ich senkte meinen Arm und ließ die Kugel los, und seither bin ich nie mehr aufbrausend gewesene.‹«

So sah es der Patriarch selbst. Seine Kinder sahen es anders. »Wir ... litten sehr unter Vaters gewaltsamen Ausbrüchen, die mit den Jahren zunahmen, und meinten im Stillen, dass die Heftigkeit wohl kaum gezähmt war, aber wir wagten es ja nicht, dies laut zu sagen«, berichtete Anna.

Zwar wagte auch Wilhelm nicht, laut zu sagen, was er meinte. Dies wäre zu dieser Zeit selbst für die aufsässigsten Kinder undenkbar gewesen. Aber das, was er tat, sprach seine eigene Sprache. Er verschwand in die Ecken, hinter den Gardinen, in den Wald oder an den Strand. Er weigerte sich, die Kleidung anzuziehen, die er sollte. Er kam nicht, wenn er gerufen wurde, sondern lief noch tiefer in den Wald oder auf die umliegenden Felder des Guts. Er blieb stundenlang verschwunden. »Er kam mit seinem Vater überhaupt nicht gut aus«, schrieb Thomas Dinesen in seiner kleinen Biografie über seinen Vater Wilhelm. Umgekehrt war es nicht anders. Der Patriarch wusste nicht, wie er mit einem Sohn umgehen sollte, den er nicht biegen und formen konnte. Einem solchen Menschen war er noch nie begegnet.

Die besondere Ironie bestand darin, dass dieser Sohn doch nach ihm benannt worden war, nach dem kleinen König von Katholm, Adolph Wilhelm Dinesen. Aber das wirklich Ironische daran war, dass der König seinen Sohn weit mehr formte, als beide begriffen. Den unbeugsamen Geist hatte Wilhelm nicht von Fremden, aber vor allem in einem Punkt bekam der Vater einen alles entscheidenden Einfluss auf den Jungen: Krieg. Wenn der Vater vom Krieg erzählte und von seinen Kriegserlebnissen schwärmte, stahl sich Wilhelm aus seinem Versteck hervor und sperrte Augen und Ohren auf. Die einzige detaillierte Kindheitserinnerung, die er in seinen Büchern hinterlassen hat, handelt von ebendiesem Vater, der vom Krieg in einer Weise spricht, die auf den Jungen unendlich verlockend wirkte.

»Es war an diesen langen, dunklen Winterabenden«, erzählte Wilhelm Dinesen viele Jahre später, »wenn wir Kinder mit unserer Mutter auf dem alten Herrensitz in Jütland im Wohnzimmer saßen, der Wind um den Giebel heulte und im Kachelofen bullerte, die Fensterhaken mit ihrem schwermütigen Ton gegen die Pfosten der Fenster schlugen und die Wetterfahne auf dem Turm pfiff und klagte; dann geschah es, dass mein Vater, an seiner Seite einer der Gutsherren aus der Gegend, im Zimmer auf und ab ging und eifrig von Helgesen und Krogh und Krabbe, von Bov und Ullerup und dem Danewerk erzählte, beschrieb und erklärte – und wir lauschten.«

Jetzt saßen alle Kinder um den Vater herum – und Wilhelm unter ihnen. »Wenn mein Vater seine Erzählung beendet hatte, aufsprang und ging, konnte es vorkommen, dass er mich in die Seite knuffte und in lustigem Ton sagte: ›Du kommst zum Danewerk!‹ Aber dann nahm meine Mutter mich in die Arme und drückte mich an sich, und ihre Tränen fielen auf mein Haar. Und ich wusste gut, was diese Tränen bedeuteten«, schrieb Wilhelm Dinesen in seinen Erinnerungen.

Gleichwohl blieben die Tränen der Mutter wirkungslos. Wenn Gutsbesitzer A.W. Dinesen, inzwischen zum Major befördert, vom Krieg erzählte, war Wilhelm hoch konzentriert und begeistert, auf einen kleinen Jungen wie ihn wirkte der Vater in solchen Stunden absolut unwiderstehlich. In Momenten wie diesen stellte der zweitälteste Sohn des Patriarchen sich vor, dass er jedenfalls in einem Punkt gerne wie sein Vater sein wollte. Er wollte das werden, was der Vater in dem gerade überstandenen Dreijährigen Krieg 1848 bis 1850 geworden war.

Ein Kriegsheld.

Feuer und Blut

Подняться наверх