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Vorwort
ОглавлениеDie Dinesens sind ein literarisches dänisches Geschlecht, das in seiner Mischung aus Primitivität und Raffinesse, Blutdurst, Unerschrockenheit und Hochkultur schon immer aufregend gewesen ist.
Tom Kristensen
Auf Wilhelm Dinesen stieß ich bei den Düppeler Schanzen, als ich vor einigen Jahren das Buch Schlachtbank Düppel schrieb. Im Verlauf meiner Recherchen fand ich ein schmales Bändchen mit dem Titel Fra Ottende Brigade (»Über die Achte Brigade«), eine autobiografische Erzählung über den geradezu selbstmörderischen Versuch dieser Brigade, den massiven preußischen Vorstoß während der Schlacht von Düppel am 18. April 1864 zurückzuschlagen. Bei dem Autor des Buches handelte es sich um Wilhelm Dinesen, der 1864 als achtzehnjähriger Leutnant der jüngste Offizier des dänischen Heeres gewesen war. Die Ereignisse auf den Düppeler Schanzen sollte er sein Leben lang nicht vergessen. Obwohl er Fra Ottende Brigade erst 1889 veröffentlichte, fünfundzwanzig Jahre nach der Schlacht, schrieb er über seine Erlebnisse mit einer Frische, einer Intensität und Präzision, als hätte der Pulverdampf sich gerade erst verzogen.
Fra Ottende Brigade unterscheidet sich von den Tausenden von Büchern, die über den Dänisch-Deutschen Krieg 1864 erschienen sind. Es wurde mit literarischem Schwung und erzählerischer Kraft geschrieben. Als Leser fühlt man sich aufs Schlachtfeld versetzt und steht in den erschütternden Kämpfen gleichsam neben dem jungen Wilhelm Dinesen.
Meine Neugier war geweckt. Dinesens Familiengeschichte erhöhte diese Neugier nur. Wilhelm Dinesens Vater, A. W. Dinesen, wurde in die französische Ehrenlegion aufgenommen, nachdem er im französischen Heer als Artilleriehauptmann in den frühen Kolonialkriegen 1837 in Algerien gekämpft hatte. Wilhelm Dinesen wurde für seinen Einsatz als freiwilliger Hauptmann im Deutsch-Französischen Krieg 1870–71 die gleiche Ehre zuteil. Ein halbes Jahrhundert später sollte Wilhelms Sohn, Thomas Dinesen, die höchste Auszeichnung von allen erhalten, das Victoria-Kreuz, nachdem er 1918 als Soldat der kanadischen Armee einen wilden Ritt durch das Niemandsland an der Westfront unternommen hatte.
Und Wilhelm Dinesens Tochter? Ja, sie ist keine Geringere als die Schriftstellerin Karen (Tania) Blixen, die ihre ersten Bücher bekanntlich unter dem Pseudonym Isaak Dinesen veröffentlichte.
Und so überrascht es nicht, dass seine berühmte Tochter ihre Originalität, ihre joie de vivre, ihren Abenteuerdrang, ihre Erzählfreude und ihre Lust zu schreiben von ihm geerbt hatte. Ebenso wenig, dass auch sie ihre dunkleren Seiten hatte. Doch während Karen Blixen sich damit begnügte, am Rand des Abgrunds zu balancieren, ging ihr Vater deutlich darüber hinaus. Am 29. März 1895 wurde er in einer Kopenhagener Pension erhängt aufgefunden. Sein Ende ist bis heute ein großes Mysterium geblieben, doch es hat tiefe Spuren bei seinen Kindern hinterlassen – nicht zuletzt bei Karen und seinem ältesten Sohn Thomas, der ebenfalls Schriftsteller wurde und für den der Vater das hellste Licht und die tiefste Dunkelheit war.
Und doch hat Wilhelm Dinesen sein Leben in vollen Zügen gelebt. Seine Lebensgeschichte hat so viele Facetten und war so großartig, dass es beinahe wie eine lange Reihe von fantastischen Erzählungen erscheint. Als ich begann, seine Spuren ernsthaft zu verfolgen, gab es für mich keinen Weg zurück. Im Laufe der vergangenen Jahre bin ich in Archiven und privaten Verstecken auf der Jagd nach Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen gewesen. Die Reise hat mich von der Welt der dänischen Herrenhöfe, in der er aufwuchs, zu den Schlachtfeldern in Frankreich, von Paris bis zum Bosporus und in die Prärien und Wälder Nordamerikas geführt.
Nun also liegt Hauptmann Dinesen: Feuer und Blut vor, der erste Band einer dokumentarischen Erzählung über den Abenteurer, Krieger, Jäger, Politiker, Gesellschaftskritiker, Aristokraten, Lebemann, Verführer und Autor Wilhelm Dinesen. Er war zu seiner Zeit als »Hauptmann Dinesen« bekannt. Die Geschichte von Wilhelm Dinesen ist auch eine Geschichte von Vätern und Söhnen und von den Sünden der Väter. Dieses Buch ist ebenso sehr eine Familienchronik über Männer, die den Krieg im Blut hatten, wie eine Biografie über Wilhelm Dinesen, der mit seiner Persönlichkeit und seinen Taten Vergangenheit und Zukunft personifiziert.
Hauptmann Dinesen besaß eine besondere Gabe, sich immer dort aufzuhalten, wo die großen Stürme der Geschichte tobten; sein Leben wurde zu einer tour de force durch bedeutende Phasen der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Auf diese Reise begibt man sich, wenn man seinen Wegen folgt. Es ist eine Reise, die über mehrere Kontinente und durch viele Länder führt. Eine Reise, die sich – obwohl Dinesen nur neunundvierzig Jahre alt wurde – über einige der großen Bruchstellen der Geschichte erstreckt. Er wurde in die harmoniesuchende Welt der Romantik hineingeboren, wuchs aber im lärmenden, hektischen Zeitalter der Industrialisierung auf, in dem auch Kunst und Literatur markante Veränderungen erlebten – mit dem Wechsel zu Naturalismus, Impressionismus und dem Durchbruch der Moderne als zentralem Ereignis.
Als Dinesen geboren wurde, gab es weder Eisenbahn noch Telegrafen im Königreich Dänemark. Segelschiffe dominierten die Häfen, Nachrichten wurden mit Pferdepostkutschen überbracht, Bilder wurden gemalt oder gezeichnet. Als er starb, waren das Auto, das Telefon und das Dynamit erfunden. Zeitungen waren zu Massenmedien geworden, die kurz davor standen, Fotografien zu drucken, die deutsche Marine verfügte über ihr erstes U-Boot.
Die Grenzen schienen sich mit der gleichen Geschwindigkeit zu verschieben wie die künstliche Landgewinnung aus dem Meer – was selten friedlich vonstattenging. Dänemark, Dinesens Vaterland, das im Laufe der Napoleonischen Kriege 1814 Norwegen abtreten musste, schrumpfte weiter durch den Verlust der Herzogtümer Schleswig und Holstein als Konsequenz aus der Niederlage von 1864. Deutschland wurde nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71 vereint und wurde zu Europas stärkster kontinentaler Macht. Italien wurde ebenfalls zu einem Reich zusammengeführt, während das Osmanische Reich und das der Habsburger schwächer wurden. Das Großbritannien des Viktorianischen Zeitalters schuf sich zu Lebzeiten Dinesens ein mächtiges Weltimperium, in dem die Sonne niemals unterging. Gleichzeitig wurde aus den demokratischen und hyperkapitalistischen USA mit einer Bevölkerungsexplosion durch Massenauswanderungen aus Europa die führende Industriemacht der Welt.
Währenddessen kämpften die alten autokratischen Regierungsformen in Europa einen Kampf der Titanen, um die liberalistischen und demokratischen Kräfte einzudämmen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Boden gewannen. Parallel dazu machte eine weitere gesellschaftsumwälzende Theorie von sich reden: der Sozialismus. Und mitten in all dem, mitten in diesem Mahlstrom an Veränderungen, lebte Hauptmann Dinesen sein ruheloses Leben.
Er hat an vier Kriegen teilgenommen: dem Dänisch-Deutschen Krieg 1864, dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71, in dem er zum Hauptmann befördert wurde, dem französischen Bürgerkrieg 1871, den wir unter dem Stichwort Pariser Kommune kennen, und dem Russisch-Türkischen Krieg 1877–78. Nach den französischen Kriegen versuchte er, seinen gehetzten Geist zu heilen, indem er sich in der äußersten Wildnis der USA niederließ und in einer kleinen Hütte in den nördlichsten Wäldern von Wisconsin lebte. Seinen Unterhalt bestritt er als Pelzjäger und führte ein Leben, das an James Fenimore Coopers Lederstrumpf und Der letzte Mohikaner denken lässt. Im Laufe seiner Jahre in der Wildnis hatte er engen Kontakt zu einem Indianerstamm, der sich Chippewas nannte. Er war ein außerordentlich tüchtiger Jäger und gewann den Respekt der Indianer. Sie gaben ihm den Spitznamen Boganis, Haselnuss. Boganis wurde zu seinem Pseudonym, als Dinesen später versuchte, in Dänemark als Schriftsteller zu reüssieren.
Hauptmann Dinesen war in vieler Hinsicht die Personifizierung einer gewaltigen Spanne von Ereignissen, die zu seinen Lebzeiten stattfanden. Er wuchs auf in der traditionsverbundenen, stark patriarchalischen, konservativen und königstreuen Welt der Herrensitze, deren Fundamente Unveränderbarkeit und Weiterführung durch die Familie hießen. Das Geschlecht der Dinesens war nicht adlig, gehörte aber zu einer exklusiven Gruppe von bürgerlichen Gutsherren – Großgrundbesitzern –, die ihrem Wesen nach durch und durch aristokratisch waren. Vom Adelsstand, in den sie teilweise einheirateten, und vom Königshaus, dem sie loyal dienten, wurden sie – obwohl sie formal nicht den gleichen Rang hatten – als Standesgenossen anerkannt. Wilhelm Dinesen war ein Romantiker des alten Schlages, was Frauen und Liebe betraf, und mit Leidenschaft gab er sich dem Krieg und der Jagd hin – aus einem Ritterethos heraus, das wie so vieles in seinem Wesen seine Wurzeln in einer verschwundenen Zeit hatte.
Gleichzeitig war er auf anderen Gebieten einer der modernsten Männer des Landes. Wie so viele Vertreter seines Standes verhielt er sich wie ein wahrer Kosmopolit, der sich von Impulsen aus der großen weiten Welt außerhalb der Grenzen seines kleinen Heimatlandes beeinflussen ließ. Ihn interessierten die neuesten Entwicklungen in jeder Form. So schockierte er beispielsweise seine aristokratischen Standesgenossen, als er mit der Idee des Sozialismus liebäugelte. Ein Flirt, den er öffentlich in seinem ersten Buch Paris under Kommunen (»Paris unter der Kommune«) präsentierte. Dinesen schrieb seinen Augenzeugenbericht im Alter von nur sechsundzwanzig Jahren. Das Ergebnis ist eines der authentischsten Werke, die es über dieses gewaltsame Kapitel der französischen Geschichte gibt. In seinem Buch sympathisiert er offen mit den Roten oder den Kommunarden, wie die Aufständischen genannt wurden, die gegen die konservative französische Regierung kämpften. In diesem Sinn wurde Dinesen nach und nach zu einer Art enfant terrible in seinem eigenen Stand. Dies zeigte sich auch in seinem späteren Leben, als er in die Politik ging und sich trotz seiner Herkunft als Gutsbesitzer für die Partei der Bauern, Venstre, aufstellen ließ. Die Vertreter der Venstre kämpften vehement gegen das Gutsherrensystem, das die dänische Politik bis weit in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts dominierte – bis in die Regierungszeit des damaligen Premierministers J. B. Estrup.
In seinen bekanntesten Erzählungen, Jagtbreve (»Jagdbriefe«) und Nye Jagtbreve (»Neue Jagdbriefe«), die erst im Laufe der 1880er Jahre in der damals progressivsten dänischen Zeitung, der Tageszeitung Politiken, abgedruckt wurden, pflegte Dinesen einen sinnlichen, impressionistischen Stil. Er hätte kaum moderner sein können. Dem prominenten zeitgenössischen Literaturkritiker Georg Brandes zufolge, der Wilhelm Dinesens Werk schätzte und lobte und der ihn für einen Vertreter des »modernen Durchbruchs« hielt, hatte der Hauptmann »Unruhe im Blut«. Es war eine Untertreibung. Ebenso wie seine nervöse Zeit war er ruhelos und permanent in Bewegung, ohne dass sich immer vorhersagen ließ, wohin er unterwegs war.
Hauptmann Dinesen befand sich fast sein ganzes Leben auf der Jagd nach dem, was Karen Blixen und ihr Bruder Thomas Dinesen später als »Des Vaters Gott – Das Große im Leben« loben sollten. Aber es war auch eine Lebensexpedition mit Schattenseiten und tiefen Tälern. Und es wurde niemals ganz geklärt, ob Hauptmann Dinesen Gott oder nicht doch den Teufel suchte und fand.
Tom Buk-Swienty