Читать книгу Digitales Lernen? - Tom Freudenthal - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеIch saß in meinem Hotelzimmer in Berlin und starrte auf einen ungefähr zehn Zentimeter hohen Papierstapel. Knapp 200 DIN-A4-Seiten, eng beschrieben mit Hunderten von Informationen zu meinem nächsten Interviewgast, den ich für das Vormittagsmagazin im Deutschlandradio interviewen sollte.
Morgen. In wenigen Stunden.
Wie sollte ich all diese Informationen in dieser kurzen Zeit so in den Kopf bekommen, dass ich ein strukturiertes, intelligentes Gespräch führen könnte? Ich fing an zu lesen, machte mir jede Menge Notizen. Gegen Mitternacht fielen mir die Augen zu – und ich hatte noch nicht einmal die Hälfte des Materials durchgelesen, geschweige denn so intus, dass ich am kommenden Tag darauf hätte zurückgreifen können.
Schon wieder ein Interview vergeigt, dachte ich am nächsten Morgen. Mir passierte das zu oft. Die Qualität meiner Beiträge entsprach nur selten meinen eigenen Standards oder denen der verantwortlichen Redakteure – und so hatte ich dann eines Tages folgerichtig die Kündigung als Vormittagsmoderator auf dem Tisch liegen.
Ich war ein nicht sonderlich gut verdienender Radiojournalist mit eigenem Rundfunkstudio in Gummersbach bei Köln – und nicht erst seit dem Deutschlandradio-Desaster zunehmend unzufrieden mit meiner Arbeit.
Aber es gab auch Lichtblicke. Gegen Ende meiner Journalistenkarriere zum Beispiel lernte ich während einer Recherche eines der ganz wenigen wirklichen Genies in Deutschland kennen: einen jungen Mann, der vor einigen Jahren seine Doktorarbeit in Biochemie geschrieben hatte – mit gerade einmal zwölf Jahren! Und dieser junge Mann bot zu jener Zeit Seminare zum Thema „Lernen lernen“ an – er zeigte Menschen wie dir und mir, wie wir schneller Wissen aufbauen und behalten können. Nach meiner frustrierenden Nachtschicht im Berliner Hotelzimmer fand ich das Thema natürlich hoch spannend. Außerdem hatten mich Genies schon immer fasziniert.
Was ich damals nicht ahnte, war, wie sehr die Begegnung mit diesem jungen Mann, mein Leben verändern sollte – heute bin ich einer der Top-Lern-Experten Deutschlands mit über 20-jähriger Erfahrung und einem Gedächtnis, wie ich es mir damals in Berlin vor besagtem Interview nicht hätte erträumen können. Heute weiß ich: Es ist alles eine Frage des Systems.
Aus der Begegnung entstand eine Freundschaft. Ich besuchte regelmäßig seine Workshops, war richtig angefixt vom Thema Lernen und Lerntechniken. Drei Jahre nach unserer Begegnung bot mir das junge Genie an, seine Seminare an seiner statt weiterzuführen. Sein Vorschlag kam wie gerufen, ich hatte Lust, mich beruflich neu zu orientieren. Ich suchte nach einer Aufgabe, durch die ich für andere etwas Positives bewirken konnte und die mich einfach erfüllte, hinter der ich voll und ganz stand.
Damit hatte ich übrigens in meiner Tätigkeit als Journalist das größte Problem: Ich hatte mich häufig aus finanziellen Gründen gezwungen gesehen, Themen anzunehmen, hinter denen ich nicht wirklich stand. So suchte ich bereits seit Jahren nach meiner Berufung – etwas, das ethisch-moralisch einwandfrei wäre und möglichst viele meiner Talente und Fähigkeiten forderte.
Ich legte los und leitete dreitägige Workshops, von Freitagabend bis Sonntagnachmittag. Anfangs war mir die Rolle des Workshopleiters total fremd –, aber ich wuchs hinein. Ich recherchierte sehr viel zu neuesten Forschungsergebnissen, weiteren Lernmethoden – vor allem aber beobachtete ich meine Teilnehmer:innen: Welche Methoden überzeugten sie sofort? Welchen standen sie kritisch gegenüber und warum? In welcher Reihenfolge waren die Techniken besonders wirkungsvoll – und weshalb? Methoden, die nicht optimal funktionierten, warf ich aus dem Workshop. Methoden, die sich bewährten, wurden fester Bestandteil.
Meine drei Kriterien waren immer dieselben: Methoden, die der größten Anzahl an Teilnehmer:innen mit dem geringsten Aufwand den größten Erfolg brachten.
Ich merkte bald, dass die Workshops am besten liefen, wenn ich nur 50 Prozent der Workshopzeit verplante: Die anderen 50 Prozent ergaben sich praktisch im freien Fluss, durch Rückfragen und Anmerkungen und Bedürfnisse der Teilnehmenden. Die Hälfte des Workshops war geplant, die andere Hälfte entstand spontan, intuitiv. Ich schien einen Nerv getroffen zu haben. Die Workshops wurden über die Jahre ein voller Erfolg – und ich dachte, genau so mache ich weiter. Doch dann kam ein Teilnehmer auf mich zu und sagte: „Tom, ich habe echt viel gelernt und bin begeistert. Aber was mich am meisten beeindruckt hat, war, dass ich auch abends um 22 Uhr noch taufrisch war. Wie hast du das gemacht? Normalerweise schlafe ich ab 15 Uhr bei Seminaren immer halb ein. Wie machst du das? Welches Lernsystem steht dahinter?“
Die Frage wurde immer öfter gestellt und auf einmal hatte ich eine neue Herausforderung: Was war so spannend, dass die Teilnehmer so lange wach blieben. Oder war da wirklich … ein System? Soweit ich wusste, liefen die Workshops so gut, weil ich die Methoden inzwischen durch Erfahrung und Praxis intuitiv richtig vermittelte, nicht weil ein System dahintersteckte – oder?
Ein Lernsystem? War mein intuitives Vorgehen doch systematischer, als mir bewusst war? Für mich lautete also der nächste logische Schritt, meine mir selbst unbewusste Lehrmethode zu untersuchen und daraus ein Lernsystem zu entwickeln, das ich weitergeben konnte. So entstand das „Centered Learning“-System, das du mit diesem Buch anzuwenden lernst. Tausende Menschen lernen mittlerweile erfolgreich nach dieser Methode, nachdem sie sie in meinen Workshops kennengelernt hatten. Oder in den Workshops der zertifizierten „Centered Learning“-Trainer:innen, die ich in den vergangenen Jahren ausbildete.
Inzwischen, 25 Jahre später, erleben wir die sogenannte Digitalisierung und natürlich hat die Auswirkung auf das Lernverhalten der Menschen – und das vor allem bei zwei Themen:
1 Sinkt die Lernbereitschaft oft, weil die Menschen glauben, es steht ja eh alles im Internet. Wenn ich was nicht weiß, dann google ich das eben.
2 Glauben mehr Menschen als früher, dass Lesen oder Videoschauen im Internet dasselbe wäre wie Lernen.
In diesem Buch werde ich dir zeigen, dass beides nicht oder nur zum Teil stimmt – in vielen Bereichen muss ich solide gelerntes Wissen im Kopf haben, wenn ich produktiv arbeiten will. Wer ständig alles nachschauen muss, kommt schlecht voran. Und ob ich etwas am Computer lese oder in einem Buch – das macht im Prinzip keinen Unterschied – das meiste davon ist eh innerhalb der nächsten 48 Stunden wieder vergessen.
Das Wichtigste, was ich in diesen 15 Jahren gelernt habe, ist Folgendes: Beim Lernen geht es in erster Linie immer um dich. In Workshops geht es nicht um den Workshopleiter, in Vorträgen nicht um den Vortragenden. In einem Buch geht es nicht nur darum, was der Autor wichtig findet. Beim Lernen stehst immer du, also die lernende Person, im Mittelpunkt. Ein Beispiel: Nicht die Struktur, in der jemand anderes sein Buch geschrieben hat, ist entscheidend, sondern dein Ziel. Wenn du beim Lesen ein Ziel hast, dann kannst du entscheiden, was wichtig für dich ist und was du weglassen kannst. Es ist also deine Entscheidung, welche Inhalte du lernen willst – vor allem in welcher Reihenfolge. Und zwar möglichst selbstmotiviert und selbstgesteuert. Das heißt übrigens, dass es fast immer sinnvoller ist, ein Buch nicht von vorne anzufangen, sondern da, wo es dich hinzieht. Dann passieren die kleinen Wunder. Allerdings ist dieses Vorgehen sehr ungewohnt.
Aber genau das möchte ich dir in diesem Buch zeigen – wie wundervoll das Lernen sein kann, wenn es selbstmotiviert und selbstbestimmt mit den richtigen Techniken erfolgt. Und dann erreichst du deine Ziele schneller und besser.