Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 10
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Als ich wach wurde war es dunkel um mich. Erschrocken stellte ich fest, dass ich eingeschlafen war. Schnell nahm ich meinen Radiowecker um nach der Uhrzeit zu sehen. Es war bereits weit nach drei Uhr. Immer noch genügend Zeit um zu türmen! Wollte ich überhaupt noch? Der Schlaf hatte die Erlebnisse vom Vortag etwas entzerrt, stattdessen brachte die Nacht Zweifel und Furcht. Außerdem erinnerte ich mich, dass Marcel nicht mehr mit von der Partie war. So lag ich mit offenen Augen auf meinem Bett und starrte in die Luft. War das, was ich da vor hatte, wirklich richtig? War es überhaupt möglich? Im selben Moment fiel ein Lichtkegel an die Decke. Abwesend beobachtete ich, wie er umhertanzte. Es dauerte etwas bis mich ein Geistesblitz durchfuhr – Marcel! Ich sprang vom Bett und lief ans Fenster. Tatsächlich! Unten vorm Haus stand Marcel mit einer Taschenlampe. Wild gestikulierend winkte er mich zu sich hinunter. Ich öffnete das Fenster, legte meinen Zeigefinger auf die Lippen um ihm zu bedeuten, dass ich verstanden hatte. Mein Herz machte einen gewaltigen Luftsprung. Mein bester Freund, hatte mich doch nicht im Stich gelassen. Natürlich hatte er das nicht. Das ich so etwas überhaupt hatte denken können. Jetzt wo er wieder da war, wunderte ich mich über mich selbst. Die Zweifel die mich eben noch beherrscht hatten, waren wie weggeblasen. Wir würden zusammen türmen und zwar genau jetzt. Ich ließ das Fenster geöffnet. Wo hatte ich nur meinen Rucksack gelassen. Hektisch begann ich zu suchen. Schließlich zog ich ihn unter dem Bett hervor, wo ich ihn tagsüber gedankenlos hingekickt hatte. Mit einem Handgriff drehte ich ihn um und entleerte alle Schulsachen auf den Fußboden. Ich verstaute ein paar Dinge, von denen ich dachte sie unterwegs brauchen zu können. Auf Zahnbürste und Seife verzichtete ich, um nicht noch ins Badezimmer schleichen zu müssen. Wenn mein Vater jetzt aufwachte, war alles gelaufen. Es hatte nur wenige Minuten gedauert bis ich startklar war. Ich ging zurück ans Fenster und zeigte Marcel den Rucksack. Er hob grinsend den Daumen. Ich tat das gleiche zurück. Mein Blick fiel dabei auf das Haus gegenüber. Wieso waren die Fensterläden nicht geschlossen? Seltsam dachte ich mir, hatte aber keine Zeit darüber nachzudenken. Glücklicherweise fiel mir rechtzeitig mein Kaugummivorrat im Kleiderschrank ein, den ich noch schnell in den Rucksack stopfte. Vorsichtig öffnete ich die Tür. In der Wohnung war es stockdunkel. Ich blickte zurück. Still verabschiedete ich mich von meinem Zimmer, ohne zu wissen ob ich es je wiedersehen würde. Dieser Abschied war für mich schmerzhafter, als meinen Vater zu verlassen. Ich hatte dreizehn Jahre darin verbracht und verband damit mein ganzes Leben. Es half nichts. Ich riss mich aus meinen Gedanken und schloss die Tür. Vielleicht würde mich mein Vater, nach unserem Streit am Morgen, ja erst mal nicht sehen wollen bevor er zur Arbeit ging. Mit etwas Glück würden wir so einen Vorsprung bis zum nächsten Abend bekommen. Wer weiß wie wichtig ein bisschen mehr oder weniger Zeit sein würde. Langsam und lautlos schlich ich über den Flur. Mein Herz schlug so sehr, dass ich befürchtete mein Vater könnte allein davon aufwachen. Bei jedem Schritt fürchtete ich irgendeine Falle, die er aufgestellt hatte um das zu verhindern, was ich gerade tat. Ich bewegte mich deshalb sachte vorwärts um auf Hindernisse gefasst zu sein. Hoffentlich hatte er nicht den Ehrgeiz einfach wach zu bleiben und mir vor der Wohnungstür aufzulauern. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen drückte ich die Klinke. Es war abgeschlossen. Wortlos fluchend suchte ich in meiner Hosentasche den Schlüssel. Hätte ich ihn bloß in meinem Zimmer vom Bund herunter genommen. Ich hatte wieder an alles gedacht, nur nicht an das einfachste und offensichtlichste. Ich ärgerte mich über mich selbst. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich ihn vorsichtig vom Ring lösen konnte. Dabei keine Geräusche zu verursachen war ziemlich unmöglich. Ich hielt den Atem an, während ich endlich unter leisem Klicken das Schloss öffnete. Ich lauschte noch einmal kurz in die Wohnung und stellte zufrieden fest, dass alles ruhig war. Vielleicht war es gar nicht schlecht gewesen, dass ich eingeschlafen war. So hatte mein Vater keinen Verdacht geschöpft. Vielleicht traute er mir auch einfach nicht zu wegzulaufen. „Egal“, dachte ich bei mir.
Ich musste meine Aufregung zügeln um im Treppenhaus keinen Lärm zu verursachen. Eine kleine Ewigkeit später, hatte ich endlich das Erdgeschoss erreicht. Ich öffnete leise die Haustür und entdeckte Marcel, der direkt davor auf der Treppe saß.
»Na endlich, Bro. Musstest du dich erst noch schminken oder was?«, begrüßte er mich ungeduldig.
»Leise Mann«, flüsterte ich. »Lass uns erst mal abhauen.«
Ängstlich blickte ich zu unserer Wohnung hinauf. Alles war dunkel. Ich schaute auch nochmal zum geöffneten Fenster der alten Dame gegenüber. Hatte sich dort oben etwas bewegt? War meine Nachbarin ebenfalls wach und beobachtete, wie ich von zu Hause ausriss? Reflexartig legte ich meinen Zeigefinger auf die Lippen und blickte noch einmal zu ihr hinauf ohne zu wissen, ob sie wirklich da war. Wieder kam es mir so vor, als würde sich etwas bewegen. Wahrscheinlich wehten die Vorhänge nur im Wind. Noch ein kurzer Blick zu meinem Fenster.
»Verdammt«, fluchte ich leise.
»Was ist?«,flüsterte Marcel erschrocken.
»Mein Fenster ist noch offen.«
»Ist doch egal. Komm jetzt endlich«, sagte Marcel langsam genervt.
Ich nickte und wir liefen gemeinsam die Straße entlang.
»Mann ich dachte schon du würdest den Schwanz einziehen, als du vorher einfach gegangen bist«, sagte ich zu Marcel.
»Das liegt daran, weil du einfach manchmal echt gar nichts checkst. Wenn ich nicht dazwischen gegangen wär, hätte dich dein Vater noch im Keller eingesperrt, so wie ihr euch gegenseitig angestachelt habt!«
»Er ist nur, vielleicht mein Vater, aber mit dem Rest hast du wohl recht«, grinste ich.
»Nichtsdestotrotz wars ’ne coole Vorstellung«, lachte Marcel und zwinkerte mir zu.
»Danke«, lachte ich ebenfalls.
»Aber jetzt erzähl mal, was du da für Briefe gefunden hast«, wollte Marcel wissen.
»Na ja, also der eine war eher nicht so interessant. War von Dad an seine Frau, einen Monat bevor ich zur Welt kam. Er hatte nur geschrieben, dass er sich auf mich freut. Oder auf sein Kind eben. Nichts was zu verwenden wäre. Der andere war ein Hauptgewinn. Von meinem vielleicht Dad an seine Schwester, sprich meine Mom oder vielleicht Mom. Auf jeden Fall komplett mit Adresse.«
»Wow«, sagte Marcel. »Das ist wahrlich ein Volltreffer. Da müssen wir ja nur noch mit dem Typ Kontakt aufnehmen, sehen warum er so sicher ist dein Vater zu sein und wenn er es ist, dann holst du alles nach was du in dreizehn Jahren versäumt hast!«
»Das machen wir«, sagte ich etwas zurückhaltend.
Marcel sah mich skeptisch an. »Sag mir nicht, du hast dir die Adresse nicht eingeprägt, Bro«, sagte er ungläubig.
»Nur den Nachnamen, und dass er in München wohnt«, sagte ich kleinlaut. »Ich dachte ja ich kann die Briefe mitnehmen. Wenn ich nur nicht so unvorsichtig gewesen wäre, hätten wir jetzt alles was wir brauchen.«
Marcel schüttelte fassungslos den Kopf, ließ sich aber nicht entmutigen. »O Mann«, schlug er sich gegen die Stirn. »Aber jetzt hör auf schon wieder so schwarz zu sehen. Wir finden ihn. Ganz sicher.«
Ich antwortete nicht, sondern nickte nur und versuchte ein so zuversichtliches Gesicht wie möglich zu machen.
»Hat dein Dad noch großen Ärger gemacht«, fragte mich Marcel. Wohl weniger aus Interesse als um das Thema zu wechseln.
Ich zuckte mit den Schultern. »Hat eigentlich nur noch mein Handy mitgenommen und gesagt, dass ich morgen nicht raus darf.«
»Was hat er?« Marcel schien entsetzt zu sein.
»Mein Handy mitgenommen und gesa…«, Marcel unterbrach mich.
»Ich hab dir ein paar Nachrichten aufs Handy geschickt. Dachte du schläfst, als du nicht geantwortet hast.«
Ich sah ihn forschend an. »Was denn für Nachrichten?«
»Ziemlich blöde Nachrichten, wenn dein Dad die liest. Dass ich dich nicht im Stich lasse und dich später abhole um zu türmen und so.«
»Ach du meine Güte«, sagte ich. »Dann müssen wir sehen, dass wir Land gewinnen.«
»Warte mal«, hellte sich Marcels Gesicht.
Er nahm sein Handy und tippte etwas darauf herum. Er zeigte mir das Display. „mein dad hat mich erwischt. wir können nicht weg. war vielleicht ohnehin keine gute idee. gehen wir morgen früh an strand?“ Ich grinste und nickte. Marcel drückte auf senden.
»Na dann, auf nach München«, sagte er fröhlich und rannte los. Ich bewegte mich nicht von der Stelle.
»Was ist los? Komm schon!«, Marcel hatte gemerkt, dass ich nicht folgte und kam langsam wieder zurück.
»Ich denke nicht, dass das Ganze bis zu deinem Ferienlager in drei Wochen abgeschlossen ist.«
»Jetzt mach mal halblang, Bro. Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich mich im Zeltlager vergnügen kann wenn ich weiß, dass du zur gleichen Zeit meine Hilfe brauchst. Außerdem will ich auf jeden Fall dabei sein, wenn du deinen Vater kennenlernst.«
»Herausfinde, ob es mein Vater ist«, warf ich mahnend ein.
»Wie du willst, jedenfalls packst du das doch gar nicht allein«, fügte er scherzend hinzu.
Ich überlegte, ob ich versuchen sollte ihm auszureden mir zu helfen. Es war nicht fair, ihm seine ganzen Ferien kaputt zu machen für etwas, das vermutlich im totalen Desaster enden würde. Wie ich ihn kannte machte es ihm aber womöglich noch Spaß. Ohne ihn würde ich sowieso bei den ersten Schwierigkeiten scheitern und alles wieder aufgeben. Wenn ich das durchziehen wollte, würde es ohne Marcel nicht gehen. So sparte ich mir weiteren Widerspruch. Wie zur Bestätigung fing er an zu grinsen.
»Wir werden das beste Ferienlager unseres Lebens haben! Was ist jetzt? Kommst du?«
»Auf jeden Fall!«, juchzte ich und rannte Marcel hinterher.
Entlang der bekannten Hofeinfahrten und Gehwege entfernten wir uns schnell von meinem Zuhause. Ich lief immer schneller, so dass es Marcel schwer fiel mir zu folgen. Erst als ich unsicher wurde wo ich hin musste, wurde ich langsamer. Marcel kam näher und überholte mich. Schließlich schlug er die Straße ein, hinunter Richtung Hafen. Ohne mir darüber Gedanken zu machen wo er überhaupt hinwollte, hastete ich einfach hinter ihm her. Es ging bergab und das Laufen fiel leichter.
Die Bordsteine verschwinden vor meinem Auge. Der Rhythmus ist gefunden. Gleichmäßig spüre ich abwechselnd meinen linken und meinen rechten Fuß, wie er auf den Asphalt aufsetzt um sich direkt wieder abzustoßen. Es stimuliert mich darauf zu achten. Eine Art Trance überkommt mich. Dennoch werde ich nicht langsamer - im Gegenteil. Das Laufen fällt mir so leicht, dass ich keine Anstrengung spüre. Eine Querstraße – noch eine. Lässig springe ich den Bordstein hinunter und gleich darauf wieder hinauf. Ich folge einfach dem Gehweg bis es nicht mehr weiter geht. Ich will weiterlaufen. Rechts diesmal, etwas den Berg hinauf. Ich möchte meine Muskulatur spüren. Ich brauche Anstrengung. Jetzt merke ich, dass sich mein Oberschenkel anspannt. Ich sehe einen Raum. Endlich fühle ich mich wieder besser. Trotzdem weine ich. Wie lange bin ich schon hier. Ich warte, dass mich meine Mutter wieder in den Arm nimmt. Sie kommt nicht. Ich darf nicht weggehen von hier. Ich muss hier auf meine Mutter warten. Sie kommt gleich. Wenn ich weg bin, wird sie mich nicht finden. Er trägt mich weg. Weg von meiner Mutter. Wohin? Ich weine. Er soll mich hier lassen.
Ich laufe auf einen Platz zu. In der Mitte ein großer Obelisk. Marcel blieb schwer atmend stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Er grinste mich mit rotem Kopf an, während wir uns gegenseitig auf der Schulter abstützten.
»Oh Mann, keine Kondition mehr«, schüttelte Marcel den Kopf, als er wieder etwas zu Atem gekommen war.
»Sag mal und deine Eltern haben einfach so zugestimmt, dass wir allein auf Tour gehen?«, fragte ich ihn, während wir uns auf eine Mauer setzten.
Er sah mich verdutzt an. »Quatsch. Mein Dad mag ja cool sein, aber du glaubst nicht im Ernst, dass er sowas erlauben würde. Sicher hält er es für eine absolut hirnrissige Idee was wir tun. Ich hab mich wie du davon geschlichen. Für morgen früh hab ich ’nen Zettel hingelegt, dass wir schon am Strand sind. Weiß nicht, ob sie es mir abnehmen, aber ich denke mal. Wenn sie den Zettel nicht zu früh entdecken wird es klappen, dass sie sich bis zum Abend keine Sorgen machen.«
»Und wenn nicht? Die werden doch sicher versuchen dich auf dem Handy zu erreichen!«
»Ich werd halt nicht hingehen. Wäre ja nicht das erste Mal. Sie werden denken ich bin im Wasser, oder was weiß ich«, winkte Marcel ab. »Mein Dad wird nicht gleich zur Polizei rennen. Wir können uns dann von unterwegs bei ihm melden, wenn wir weit genug weg sind. Viel wichtiger ist Kohle. Wie viel hast du mitgenommen?«
Natürlich hatte ich vergessen Geld mitzunehmen. Das war wieder typisch für mich, aber nicht zu ändern.
Ich schüttelte den Kopf. »Sorry vergessen. Hast du was?«
»300 Euro. Das muss dann eben für das Nötigste reichen.«
»Die kriegst du zurück … versprochen!«, versicherte ich ihm.
Schon wieder hatte ich einen Grund mich zu ärgern. Eine Zeit lang saßen wir schweigend nebeneinander.
»Was wenn wir ihn in München nicht finden«, sagte ich zu Marcel. »München ist doch mindestens so groß wie Marseille.«
Marcel musterte mich. »Bro, willst du dir jetzt die ganze Fahrt überlegen, was alles schief gehen könnte? Das wird ganz schön anstrengend sag ich dir, weil es tausend Sachen sein werden. Keine Ahnung. Wenn er noch in München wohnt finden wir ihn und wenn nicht sieht es natürlich düster aus? Lass uns keine Gedanken darüber machen. Wir sehen wie es kommt.«
»Hast ja recht«, sagte ich schlicht.
»Na also. Wenn du dich dann mehr auf den Plan konzentrierst, als auf deine Zweifel würde ich das echt begrüßen.« Er zwinkerte mir zu.
»Habs ja schon verstanden«, grinste ich.
»Die viel wichtigere Frage ist, wie wir nach München kommen wollen.«
Ich überlegte. »Autostop wäre günstig, aber scheidet aus finde ich. Dauert ewig für so ’ne Strecke und ist auch extrem gefährlich, oder?«
»Sehe ich auch so«, nickte Marcel. »Ich hab mal gehört es fahren da so Reisebusse«, überlegte er.
»Oh ne«, sagte ich sofort spontan. »Ich hab echt kein Bock, was weiß ich wie lang, mit ’nem Haufen Leute durch die Gegend zu eiern. Die fragen uns dann Löcher in den Bauch. Das würd mich echt nerven. Ich finde wir sollten Zug fahren. Da kann man sich ab und zu umsetzen, so reist man nicht die ganze Zeit mit den gleichen Leuten. Außerdem kann man auch mal ’rumlaufen.«
»Wird wahrscheinlich wirklich das beste sein. Fliegen scheidet eh aus. Viel zu viele Sicherheitsschleusen. Zug fahren ist für unseren Zweck wohl am unauffälligsten.«
»Na dann los«, sagte ich. »Ich fühle mich echt sicherer, wenn wir endlich hier weg sind.«
Nach einer knappen Stunde Fußweg, standen wir vor der riesigen Treppe, die zur Bahnhofshalle hinaufführt. Von weitem hatte ich das Gebäude immer als sehr majestätisch empfunden. Jetzt wo ich direkt davor stand, war es einfach nur überwältigend. Wir stiegen empor. Riesig hohe Eingangstore führten, durch die noch höhere Fassade, direkt ins Innere. Die Wände und Fassaden außer Acht gelassen, bot sich hier vieles sehr viel moderner, als es das Gebäude vermuten ließ. Fasziniert bestaunte ich, dass es sogar Bäume gab, die aus dem Boden zu wachsen schienen. Jetzt erinnerte ich mich auch vage daran, dass ich vor Jahren doch schon einmal hier gewesen war. Auf den Bahnsteigen herrschte gähnende Leere. Hier und da zog jemand seinen Koffer hinter sich her oder saß auf einer Bank um zu warten. Ich atmete den typischen Bahnhofsgeruch ein. Eine Mischung aus erhitztem Stahl, Schmieröl und Urin. Marcel deutete hinauf zu der großen Anzeigetafel. Der nächste Zug, ging in einer Stunde. Der erste des heutigen Tages. Ich verzog das Gesicht.
»Ich muss jetzt hier aber nicht noch ewig rumsitzen, oder?«, stöhnte ich frustriert. »Ich will endlich weg.«
»Na die Züge fahren halt nicht nur wegen dir«, antwortete Marcel nüchtern. »Lass uns erst mal schauen, in welche Richtung wir müssen.«
Es waren Ferien. Unter den gewöhnlichen Reisenden, Pendlern und Geschäftsleuten hatten sich Familien und Jugendliche gemischt, bepackt mit großen Koffern oder Rucksäcken. Ihre Gesichtszüge spiegelten zwar Reisestress wieder, aber dennoch auch die Freude auf den bevorstehenden Urlaub. In dem großen, steinernen Bahnhofsgebäude war es wesentlich angenehmer und kühler, als draußen auf der Straße. Marcel steuerte bereits einen Schalter der Bahngesellschaft an, um die Verbindung nach München zu erfahren. Ich hielt ihn am Arm fest.
»Du willst nicht ernsthaft beim Schalter nachfragen. Der Typ kann sich doch an uns erinnern!«
Marcel sah mich verwundert an. »Quatsch, der sieht so viele Leute am Tag! Der prägt sich doch nicht ausgerechnet unsere zwei Gesichter ein.«
Marcel war da wieder viel lockerer als ich, was mich nicht sonderlich beruhigte.
»Zwei, allein reisende Jungs, ohne Tickets, ohne Eltern?«, gab ich zu bedenken. »Der wundert sich doch schon allein deshalb über uns.«
»Ach was«, winkte Marcel ab und ging weiter.
»Ehrlich, lass uns das Risiko nicht eingehen«, ich hielt ihn am Arm zurück. »Zwei Rotzlöffel, die allein nach Deutschland reisen, hat auch der nicht alle Tage. Lass uns die Verbindung selbst herausfinden.«
Marcel gab nach. Irgendwo mussten in diesem Bahnhof doch Fahrpläne hängen. Wir entdeckten einen Computerterminal, mit dessen Hilfe Fahrtrouten zusammengestellt werden konnten. Nach einer viertel Stunde war die Reiseroute gefunden. Sie zwang uns zu mehrmaligem umsteigen. Eigentlich war ich ganz froh darüber. Vielleicht waren wir so weniger auffällig unterwegs. Wahrscheinlich machte ich mir aber wieder unnötige Sorgen. Sicher würde niemand Verdacht schöpfen. Schließlich war uns nicht auf die Nasenspitze geschrieben, dass wir ohne die Erlaubnis unserer Eltern unterwegs waren. Zusätzlich war Urlaubszeit. Zwischen den vielen Kindern und Jugendlichen würden wir sicher nicht auffallen. Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Wenn alles klappen würde, wären wir schon um halb sechs Uhr, am selben Abend, in München. Es lagen rund zwölf Stunden Reisestrecke vor uns. Deutschland war ein für mich ganz unbekanntes Land, weit weg von zu Hause. Es mischte sich ein Gefühl zwischen Furcht und Spannung vor dem Abenteuer in meine Gedanken. Ernst sah ich Marcel an.
»Wenn du nicht mit willst, bin ich dir nicht böse.«
Marcel verdrehte die Augen. »Noch ein Wort und ich polier dir die Fresse! Was wir hier machen ist das geilste, was ich mit meinen dreizehn Jahren je erlebt habe«, lachte er. »Außerdem, sind das genau die Geschichten, die man später mal seinen Enkelkindern erzählt. Wenn ich jetzt hier bleibe, werde ich nie ein toller Opa werden können«, grinste er mich an. »Was soll ich sonst erzählen? Ich wär fast mal mit meinem besten Freund nach Deutschland abgehauen, aber am Bahnhof haben wir kalte Füße bekommen?«
Ich boxte ihm freundschaftlich gegen die Schulter. Wenn ich bis jetzt nicht gewusst hatte, dass ich mich auf ihn verlassen konnte, wusste ich es jetzt.
»Na dann sollten wir uns mal überlegen, wie wir das mit den Fahrkarten machen.«
»Wie meinst du dass denn jetzt«, fragte mich Marcel verdutzt.
»Na glaubst du im Ernst, dass wir einfach im Zug unsere Fahrkarten vorzeigen und der Zugbegleiter zwei kleine Jungs ohne Eltern, Ausweis oder sonstige Papiere reisen lässt«, gab ich zu bedenken.
»Hm, da ist vielleicht sogar was dran«, überlegte Marcel. »Lass uns erst mal was essen«, sagte er und zeigte mit dem Kopf auf einen Kiosk, der gerade öffnete.
Wir kauften Croissants und Kakao. Ich folgte ihm zu einem Treppenabsatz, auf den wir uns hockten. Keine Ahnung über was Marcel nachdachte, aber meine Gedanken kreisten darum, wie wir mit den Zugbegleitern umgehen konnten. Mein Blick fiel auf die Bahnhofsuhr. Es war bereits nach fünf. In einer guten halben Stunde fuhr unser Zug. Marcel sah meinen Blick zur Uhr und sah besorgt aus.
»Pass auf, wir haben keine Idee wie wir die Zugbegleiter überzeugen, oder?«
»Richtig.« Ich nickte und war gespannt, was jetzt kommen würde.
»Das bedeutet, wir müssen denen erst einmal aus dem Weg gehen.«
Ich blickte ihn skeptisch an. »Wir haben zwölf Stunden Zugfahrt vor uns und müssen drei Mal umsteigen. Da willst du es schaffen den Kontrolleuren aus dem Weg zu gehen? Vergiss es. Selbst wenn es ein paar Mal gut geht, irgendwo werden sie uns auf jeden Fall erwischen«
»Ist ja nur bis uns was einfällt. Außerdem hat auch keiner behauptet, dass es einfach wird. Als schönen Nebeneffekt sparen wir uns schon mal das Geld für die Fahrkarten. Die brauchen wir nämlich nicht, wenn wir uns eh vorm Schaffner verstecken.« Wie immer hatte Marcel recht.
Ich nickte. »Also gut, wie sieht die Taktik aus?«
»Weiß nicht. Ich würde sagen, abwarten und spontan improvisieren.«
»Du schaffst mich«, stöhnte ich.
Ohne zu antworten stand er auf. Ich folgte ihm, mit einem flauen Gefühl im Magen, in Richtung der Gleise. Viertel vor sechs, fuhr endlich der Zug ein. Dutzende von Reisende warteten mit uns am Bahnsteig, was mich ziemlich beruhigte. Wir kletterten die Stufen empor. Ich drängte mich dicht an Marcel. Von hinten drückte eine etwas dickliche Frau in den Wagon. Ich war froh, dass ich meinen Rucksack auf dem Rücken hatte, so konnte ich etwas Abstand zu einem Körperkontakt mit ihr wahren. Ich stolperte über einen der vielen Koffer, die bereits in den Gängen standen und konnte mich gerade noch an Marcel abfangen. Wir landeten fast auf einem Typen mit Anzug, der bereits einen Sitzplatz ergattert hatte und wichtig auf seinem Laptop herum tippte. Wir bahnten uns den Weg weiter in den nächsten Wagon, als Marcel endlich zwei freie Sitze entdeckte. Unter dem kritischen Blick eines älteren Mannes, warf er bereits von weitem seinen Rucksack darauf. Viele Plätze waren reserviert und freie Sessel schon schnell belegt worden. Er wollte nicht riskieren, dass uns die Plätze vor der Nase weggeschnappt wurden. Schließlich verstauten wir die Rucksäcke in der Gepäckablage bevor wir uns erschöpft fallen ließen. Noch würde es einige Minuten dauern, bis der Zug abfuhr und so hatten wir eine Galgenfrist bis zur ersten Fahrkartenkontrolle. In Gedanken blickte ich aus dem Fenster. Die Hektik auf dem Bahnsteig hatte noch nicht abgenommen. Noch immer stiegen Reisende in den Zug und verabschiedeten sich von ihren Familien. Immer wieder kamen auch Menschen aus dem Zug heraus, die vermutlich nur Angehörige hinein begleitet hatten. Noch hatten wir die Chance wieder auszusteigen und einfach nach Hause zu gehen. Vielleicht konnte ich mich noch in die Wohnung schleichen, ohne dass mein Vater etwas bemerken würde. Dann stellte ich mir vor, wie ich in München ankam und meinen richtigen Vater traf. Würde ich überhaupt bei ihm wohnen wollen? Ich musste ihn kennenlernen wenn ich eine Antwort darauf haben wollte. Ich drehte meinen Kopf zu Marcel.
»Ganz schön verrückt was wir hier treiben was?«
»Ach i wo, jetzt mach dir nicht so viele Gedanken. Genieße lieber die Reise«, beruhigte er mich wie es seine Art war.
»Ich bin wirklich froh, dass du bei mir bist.« Nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu, »Danke, Mann.«
»Bro, jetzt hör endlich auf damit. Du würdest das gleiche für mich tun!«, sagte er peinlich berührt.
Ich nickte lächelnd, war mir aber gar nicht sicher, ob ich das gleiche für ihn getan hätte. Für die Zukunft wusste ich es zweifellos.
Es gab einen kleinen Ruck und der Zug setzte sich in Bewegung. Jetzt gab es kein zurück mehr. Ich war erleichtert, dass es los ging. Die Entscheidung war getroffen und nicht mehr rückgängig zu machen. Somit brauchte ich mir auch den Kopf nicht mehr darüber zu zerbrechen. Alles würde jetzt seinen Lauf nehmen. Das Schicksal würde entscheiden welchen.
Marcel packte sein Handy aus und setzte sich die Kopfhörer auf. Er deutete mit dem Kopf den Gang entlang.
»Kann ich besser darüber nachdenken wie wir an dem vorbei kommen.«
Einige Sitzreihen entfernt stand ein Zugbegleiter, der momentan noch damit beschäftigt war, einigen Reisenden bei der Platzsuche behilflich zu sein. Ihn galt es also zu überlisten.