Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 6

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Heftig atmend, saß ich aufrecht im Bett und starrte vor mich in die Dunkelheit. Eine Menge Gedanken schossen mir durch den Kopf. Alles an was ich mich erinnern konnte, war ein Paar Augen, das mich leer aus tiefen Augenhöhlen anstarrte. Ich konzentrierte mich, um das Gesicht dazu wieder entstehen zu lassen, aber es ging nicht. So sehr ich mich auch bemühte, es tauchte nicht mehr auf. Ich war mir ganz sicher, dass da noch mehr gewesen war, aber es war weg. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte schemenhaft mein Zimmer erkennen. Die Leuchtziffern meines Radioweckers, zeigten halb sechs. Ich ließ mich in das Kopfkissen zurückfallen. Noch gut eineinhalb Stunden konnte ich schlafen, aber ich musste mich von wahnwitzigen Träumen wecken lassen. Noch eine Weile lag ich so da, starrte im Dunkeln an die Decke und versuchte mich zu erinnern. Schließlich gab ich auf. Meine Gedanken schweiften zurück in die Wirklichkeit. Mir war warm. Die Nacht hatte die Hitze des Tages kaum vertrieben. Ich roch an meinen Achseln. Ganz o.k., aber vielleicht würde ich doch besser etwas lüften. Letzter Schultag. Völlig überflüssig wie ich fand. Unterricht würde ohnehin nicht stattfinden. Andererseits, wäre dann gestern der letzte Schultag gewesen und dann genauso überflüssig. Wenn man diesen Gedanken letztlich fortführte, würde schließlich das ganze Schuljahr überflüssig sein. Ich lachte. Glücklicherweise kam es nicht oft vor, dass ich morgens so früh wach war. Nicht auszudenken auf was für Ideen ich kommen würde. Besser ich stand auf. Vermutlich war ich nicht dazu geboren über Dinge nachzudenken. Die nächsten zwei Monate würde ich jeden Tag ausschlafen können und musste mich heute deshalb nicht zwingen liegen zu bleiben. Was hatte mich nur aus dem Schlaf gerissen? Ein bisschen unheimlich war mir das Ganze schon. Ich hatte nie Albträume. Um den Gedanken endgültig wegzuwischen, öffnete ich meine Fensterläden. Die aufgehende Sonne tauchte mein Zimmer sogleich in ein zartes Licht. Der Himmel verwandelte seinen schwarzen Mantel zu einem neuen Tag. Unten wartete die Straße friedlich und verlassen, von den noch schlafenden Menschen belebt zu werden. Sogar bei der älteren Dame von gegenüber waren die Läden noch geschlossen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass es das schon einmal gegeben hatte. Manchmal winkte ich ihr vom Fenster aus zu. Angesprochen hatte ich sie aber noch nie. Keine Ahnung warum. Ab und zu hatte ich mir schon vorgestellt, ob sie vielleicht einen Enkel hatte wie mich. Ein trauriger Gedanke. Meine eigene Oma hatte ich nie kennengelernt. Als hätte sie meine Gedanken gespürt, öffneten sich die grünen Läden. Sie kam dahinter zum Vorschein. Als sie mich sah, winkte sie freudig herüber. Ich winkte zurück. Das nächste Mal auf der Straße würde ich sie ansprechen. Oder ich ging einfach einmal hinüber zu ihr. Schließlich wohnten wir schon eine Ewigkeit vis-a-vis. Jetzt machte mich das frühe Aufstehen auch noch sentimental. Ich wandte mich vom Fenster ab und ging gelangweilt in meinem Zimmer umher. Mein Vater hatte schon recht, wenn er mich ständig mit der Unordnung hier drin nervte. Überall lagen Klamotten. Es lohnte sich aber nicht sie aufzuräumen. Meistens landeten sie sowieso ungefragt, durch unsere Haushaltshilfe, in der Wäsche. Wobei ich sie insgeheim in Verdacht hatte, vieles einfach ungewaschen wieder in den Schrank zurückzulegen. Beweisen konnte ich ihr das nicht. Es war mir auch egal. Genau wie meine Klamotten, legte ich auch nichts anderes dahin zurück wo ich es herauszogen hatte. Ich benutzte es wieder und ließ es woanders liegen. Da ich immer alles wieder fand und mich die Unordnung nicht im geringsten störte, sah ich auch keine Veranlassung das zu verändern. Reine Zeitund vor allem Energieverschwendung. Mein Vater sah das natürlich anders. Er hatte jedoch irgendwann aufgegeben sich mit mir darüber zu streiten. Kurz überlegte ich, ob ich ihn mit einem aufgeräumten Zimmer überraschen sollte, kickte letztendlich nur meinen Rucksack unters Bett und verwarf den Gedanken schnell wieder. Stattdessen griff ich nach meinem Handy. Mal sehen, ob Marcel schon wach war. Er war seit der Grundschule mein bester Freund. „hey“, schrieb ich wie immer wenn ich wissen wollte, ob er am Handy war. Leider kam nichts zurück und so surfte ich durch ein paar soziale Netzwerke und Homepages. Auf dem Bettrahmen entdeckte ich den Kaugummi, den ich am Abend zuvor dort deponiert hatte. Irgendwie sah er schon eklig aus, aber bis zum Frühstück lohnte sich kein neuer. Ich steckte ihn mir in den Mund. Er war völlig geschmacklos und hart. Mit etwas Speichel sowie kräftigen Kaubewegungen wurde er wieder ein wenig geschmeidiger, aber natürlich nicht mehr geschmackvoller. Egal! Mit der Zeit hatte ich festgestellt, dass es mir dabei mehr ums kauen als um den Geschmack ging. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und mein Vater steckte den Kopf ins Zimmer.

»Hab ich doch richtig gehört«, fing er an zu meckern. »Leidest du jetzt schon an Schlaflosigkeit wegen diesem Mistding? Leg es weg. Sofort!«

»Dir auch einen guten Morgen«, sagte ich provozierend. »Weiß nicht was dich daran stören sollte«, murmelte ich vor mich hin und wandte mich dabei wieder dem Display meines Smartphones zu.

»Sag mal hörst du schlecht?«, schrie er mich an.

»Von deinem Rumgebrülle muss man ja schwerhörig werden«, schrie ich genervt zurück.

Diese Art der Unterhaltung war für uns beide leider ganz normal geworden. Ich hatte das Gefühl, dass er immer an allem etwas auszusetzen hatte und begegnete ihm entsprechend. Er fühlte sich provoziert und wurde laut. Schließlich endete es darin, dass wir die nächste Stunde oder länger nicht miteinander sprachen - bis es zur nächsten Auseinandersetzung kam. Harmonische Stunden mit meinem Vater waren selten geworden. Eigentlich konnte ich mich schon gar nicht mehr erinnern wann ich das letzte Mal so richtig Spaß mit ihm gehabt hatte. Wütend kam er auf mich zu. Ich befürchtete schon, dass ich es heute zu weit getrieben hatte und er vielleicht die Kontrolle verlor. Stattdessen griff er ohne ein weiteres Wort nach meinem Handy und schaltete es aus.

»Na super!«, war ich es, der jetzt brüllte. »Da können Daten verloren gehen«, schrie ich wohlwissend, dass das nicht stimmte.

Er zuckte nur mit den Schultern. »Schwerhörig. Ich sag es ja.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, nicht ohne die Tür hinter sich zuzuknallen. Keine Ahnung wo sein Problem lag. Er las seine Zeitung zum Frühstück und ich surfte im Internet. Ob ich ihm einfach mal seine Morgenzeitung wegnehmen sollte, um ihm die Augen zu öffnen. Sehr gesellschaftlich war Zeitung lesen am Frühstückstisch schließlich auch nicht. Esel dachte ich bei mir und spuckte meinen Kaugummi in den Mülleimer. Die Halbwertszeit für die zweite Benutzung war doch recht kurz. Immerhin eine Erkenntnis für heute Morgen, die zu etwas taugte. Ich schaltete mein Handy wieder an und stellte mit Freude fest, dass Marcel inzwischen geantwortet hatte. „guten morgen Bro, auch schon früh wach. kannst den letzten schultag wohl gar nicht erwarten lol“ Er sagte immer „Bro“ zu mir. Das einzige was Marcel nutzte um cool zu wirken. Eine Marotte, die ich ihm nicht abgewöhnen konnte. „haha, nein. hatte dafür schon nen heißen tanz mit meinem alten. hat mein handy ausgeschaltet. wie so ein kind.« »ich versteh den mann echt nicht“, schrieb er. „hat der kein eigenes leben, dass er immerzu dich quälen muss?“ „quälen ist vielleicht auch etwas hart“, schwächte ich ab. „ich weiß schon er ist dein dad, aber weiß ER das auch?“ Ich konnte ihn genau vor mir sehen, wie er die Augen verdrehte. "ich geh vorm frühstück noch ne runde laufen. wir treffen uns nachher unten“, brach ich das Gespräch ab. Es ärgerte mich immer einwenig wenn Marcel so über meinen Vater redete, auch wenn er wahrscheinlich recht hatte. Wortlos verließ ich die Wohnung, zog meine Sneaker an, die vor der Tür lagen und ging nach unten. In der Regel lief ich mindestens zwei Mal am Tag, eine Runde an der Uferpromenade. Das Wetter war mir dabei ziemlich egal. Es entspannte mich mehr als alles andere, was ich je ausprobiert hatte. Eine halbe Stunde später war ich zurück, duschte und setzte mich zu meinem Vater an den Frühstückstisch. Das Frühstück verlief wortkarg. Ich überlegte, ob ich meinen Racheplan mit der Zeitung direkt durchführen sollte, verwarf die Aktion allerdings für heute. Ich war nicht in der Stimmung für eine weitere Auseinandersetzung.

»Ich möchte nicht, dass du in Zukunft schon am Morgen dein Handy nutzt. Ich werde es dir sonst abends weg nehmen«, sagte er beiläufig aber bestimmt. Schon bereute ich, nicht in die Offensive gegangen zu sein.

»Mach mir lieber ’ne Liste was ich darf. Ist leichter für mich durchzusteigen.« Ich stand auf, griff mir ein Croissant für den Weg und lief aus dem Zimmer. »Ich gehe in die Schule, da nörgelt nicht dauernd jemand an mir ’rum.«

Diesmal war ich es, der die Tür lautstark zuschlug. Mir war flau im Magen. Ich wusste, dass mein Vater diesen Auftritt nicht auf sich sitzen lassen würde. Warum war es mir nicht ein einziges Mal möglich einfach ruhig zu bleiben. Eigentlich hatte ich vorgehabt mit meinem Vater darüber zureden, nicht mit ihm in den Urlaub zu fahren, sondern mit meinen Freunden in ein Ferienlager. Das konnte ich jetzt mit Sicherheit vergessen. Zornig kickte ich mit dem Fuß gegen die Holzvertäfelung des Treppenhauses. Ich konnte nicht wissen, dass es bald keine Rolle mehr spielen würde. Für den Moment war ich aufgewühlt und gereizt. Wütend durchsuchte ich die Hosentaschen meiner Jeans nach einem Kaugummi und hatte Glück. Irgendwie entspannte mich Kaugummikauen fast wie Laufen und sofort war ich wieder etwas ruhiger. Als ich aus dem Haus trat, kam Marcel gerade mit seinem Fahrrad angefahren. Er legte einen Vollbremsung hin und grinste mich an. Keine Rede von meinem Vater, keine schlechte Laune, weil ich ihn einfach abgewürgt hatte. In solchen Momenten wurde mir klar, wie froh ich über seine Freundschaft war. Den Rest des Weges schob Marcel neben mir her. Zehn Minuten später bogen wir, vergnügt scherzend, in die Hofeinfahrt unseres Colleges ein und Marcel stellte sein Fahrrad ab.

»Ich hab gar keine Lust auf Schule«, stöhnte ich.

»Ach was. Heute ist doch sowieso kein Unterricht mehr. Der Vormittag ist schneller vorüber, als du denkst.«

Er hatte recht. Zwei belanglose Unterrichtsstunden später, waren wir in Mitten einer Masse an Schülern auf dem Weg, die große Haupttreppe hinunter, zur Aula. Dort würde, wie jedes Jahr zum Ferienbeginn, der Direktor des Colleges eine ganz tolle Rede halten, die uns dann tief bewegte. Zumindest dachte er sich das wohl so. Marcel und ich saßen gelangweilt im hintersten Eck der Aula, auf dem Boden. Der ganze Saal war voller Schüler, die schnatternd und lachend darauf warteten, dass es los ging oder besser gesagt, dass es endlich vorbei war.

»Hier stinkt’s ja gewaltig nach Fußkäse«, verzog Marcel das Gesicht.

Ich grinste und deutete mit dem Kopf in Richtung eines Mitschülers, der zwei Meter von ihm entfernt, ebenfalls auf dem Boden saß und seine Füße in unsere Richtung ausgestreckt hatte. Beiläufig zog ich meine eigenen Füße zurück, um mich darauf zusetzen. Einfach um sicher zu gehen.

»Hey ihr zwei, kommt ihr nach der Schule zum Meer runter?«

Lea, ein Mädchen aus unserer Jahrgangsstufe hatte sich zu uns gebeugt. Sie lächelte verführerisch. Marcel sah mich fragend an. Er wusste, dass es bei mir nicht immer selbstverständlich war, dass ich gehen konnte. Mein Dad war aber noch nicht zu Hause wenn ich von der Schule kam. Ich nickte also.

»Klar«, sagte Marcel.

Zufrieden zog sich Lea wieder auf ihren Platz zurück.

»Bro, ich glaub die mag dich«, sagte Marcel mit einem vielsagenden Augenzwinkern.

»Ich glaube, die steht mehr auf deine südländische Bräune, als auf weiße Jungs wie mich!«, stieß ich ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

An der Stirnseite des Saales war ein kleines Podest aufgebaut, das in diesem Moment von unserem Direktor betreten wurde. Schlagartig wurde es still. Eine ausgesprochene Leistung unseres Direktors. Egal wo er auftauchte, zog er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Als ich mein Interesse ebenfalls nach vorn richtete, streifte mein Blick den Jungen, den ich eben noch heimlich mit Marcel gehänselt hatte. Er hatte sich zu uns umgewandt. Wie ein Blitz durchfuhr es meinen ganzen Körper. Ich erinnerte mich, was mich heute morgen aus dem Schlaf gerissen hatte. Es waren diese Augen. Die Auge, die mich gerade aus leeren Augenhöhlen anstarrten.

Ein Bruder für Luca

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