Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 8

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Wie so oft, hatte Marcel den kleinen Umweg über meine Straße in Kauf genommen.

»Ich hol dich dann in drei Stunden wieder hier ab«, meinte er nur kurz, schlug in meine ausgestreckte Hand ein und fuhr weiter.

Ich freute mich darauf, mit Marcel noch mal zum Strand zurückzukehren, um die laue Sommernacht zu genießen. Davon würde mich nichts auf der Welt abhalten.

„Wie versprochen!“, rief ich ihm noch hinterher, bevor ich das Treppenhaus zu unserer Wohnung hinaufstieg.

Der Gedanke an den Fremden von heute Mittag kehrte zurück. Nach der Auseinandersetzung mit Marcel hatte ich ihn ganz vergessen. Vorsichtig schloss ich die Tür auf und ließ sie hinter mir leise ins Schloss fallen. Ich war zwar neugierig, wer der Fremde war, hatte aber keine Lust auf eine weitere Begegnung. Die Wohnzimmertür war geschlossen. Ich hörte Stimmen, konnte aber nicht wirklich etwas verstehen. Sicher war es nicht gerade die feine Art, in meiner eigenen Wohnung zu spionieren, aber ich wollte erst einmal sehen was los war. Wenn der Typ tatsächlich ein Geschäftsfreund meines Vaters war, würde ich einfach für die nächsten drei Stunden in mein Zimmer verschwinden. Auf meinen Dad hatte ich heute wirklich keinen Bock mehr. Ich schlich also ins Esszimmer. Dort gab es eine Schiebetür zum Wohnzimmer. Die Tür wurde von links und rechts geschlossen. Wo sich beide Teile trafen, war immer ein kleiner Spalt, durch den man unauffällig ins Wohnzimmer schauen konnte und auch besser verstand. Hier hatte ich in meinem Leben schon viele Male gesessen. Als ich noch kleiner war, hatte ich so, oft etwas fern gesehen. Einmal hatte ich die halbe Nacht nicht schlafen können, weil ich einen spannenden Thriller mit angesehen hatte. Der Vorteil war auch, dass außer zu den Essenszeiten, keiner je durch diese Tür ging. Deutlich sah ich Vater und den Fremden beieinander sitzen. So nah an der Tür konnte ich jedes Wort verstehen.

»Ich kann nicht länger warten«, hörte ich den Fremden gestresst sagen.

War er doch ein Geschäftspartner meines Vaters?

»Was wirst du jetzt tun«, fragte mein Vater voller Zurückhaltung.

»Ich habe dir gesagt, dass ich nichts unternehmen werde. Ich fahre wieder zurück nach München«, antwortete der Fremde resigniert, schon fast traurig.

Mit einer Sache hatte ich wenigstens schon mal richtig getippt. Er war Deutscher. Mein Vater kannte ihn wohl besser als gedacht. Es gab nicht viele Menschen, die ihn duzen durften. Der Mann wandte sich ab um zu gehen und auch ich wollte mich schon in mein Zimmer zurückziehen.

»Er ist ja ohnehin, ganz offiziell, mein leiblicher Sohn.«

Dad sprach den Satz mit einer Genugtuung, als wäre er ihm bereits die ganze Zeit auf der Zunge gelegen. Nun da er ihn aber ausgesprochen hatte merkte er, dass es ein Fehler gewesen war. Augenblicklich fuhr der Fremde noch einmal herum. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.

»Ein DNA-Test würde die Wahrheit wohl schnell ans Licht bringen«, sagte dieser scharf. »Ich finde es ein starkes Stück, dass du in meiner Gegenwart von deinem leiblichen Sohn sprichst.«

Ich war auf die Reaktion meines Ernährers gespannt. So ließ er sicher nicht mit sich reden. Niemand sprach so mit ihm.

»Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, hörte ich ihn sagen und konnte es kaum glauben wie kleinlaut er war. »Aber es ist zu spät, es wäre nicht richtig ihn aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen«, beschwichtigte er seinen Gast, gar nicht selbstbewusst.

Was ging da vor zwischen den beiden?

»Ein Fehler?«, lachte der Deutsche höhnisch. »Ein Verbrechen ist wohl die bessere Formulierung. Ich kann dir sagen was richtig wäre. Wenn er immer noch auf den Namen hören würde, den ich mit meiner Frau für ihn ausgesucht hatte, er in München wohnen würde und seine Mutter noch bei uns wäre. Der Himmel weiß, was sie sich angetan hat.«

Der Fremde nahm die Hände vors Gesicht. Ich verstand kein Wort von dem was er sagte? Es verwirrte mich und langsam bekam ich das Gefühl meinem Vater zur Seite stehen zu müssen. Es war nicht richtig, dass er in seinen eigenen vier Wänden so in die Enge getrieben wurde. Irgendetwas hielt mich zurück. Nachdem sich Dad wieder gefasst hatte, erklang erneut seine Stimme. Sie zitterte. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

»Jean hat ein gutes Zuhause hier. Du hast dich dreizehn Jahre nicht um Jean gekümmert. Etwas spät um plötzlich Ansprüche zu stellen«, sagte Vater jetzt doch noch angriffslustig.

Paff, das hatte gesessen. Wie ein Faustschlag, hallte mein Name in meinem Kopf wieder. Was war ich für ein Idiot! Natürlich ging es um mich. Der Mann war wegen mir nach Frankreich gekommen. Deshalb hatte er auch hinter mir hergesehen und gefragt wie ich heiße.

»Komm schon«, sagte der Fremde aufgebracht. »Wem willst du etwas vormachen? Du weißt genau, dass ich die ganzen Jahre nicht gewusst habe wo Alex steckt. Er ist mein Sohn und ich liebe ihn über alles. Wenn ich vor dreizehn Jahren nur das geringste geahnt hätte, wäre er nie bei dir geblieben. In keiner Weise hätte ich unseren Alex im Stich gelassen!«

»Dann geh jetzt und mach sein Leben nicht kaputt«, sagte Dad leise aber bestimmt.

Noch nie hatte ich jemanden so mit meinem Vater reden hören. Für jeden, den ich kannte war er eine Respektsperson, sogar für Marcels Dad. Ich selbst wusste überhaupt nicht, was ich denken sollte. War ich Alex? Unmöglich. War ich gestohlen worden? Niemals. Vater war unausstehlich aber doch kein Verbrecher. Aber was sollte der Fremde sonst für einen Grund haben hierher zu kommen. Noch dazu war es ein Gespräch, nur unter den beiden. Es gab niemanden, dem er etwas vormachen musste und er hatte auch nicht wirklich widersprochen. Auf jeden Fall spürte ich Wut in mir hochkochen. Aber warum? In meinem Kopf war ein einziger Ameisenhaufen. Meine Gedanken liefen auf kleinen Füßchen kreuz und quer durcheinander. Ich hatte keine Chance sie zur Ordnung zu rufen.

»So wie du, unseres kaputt gemacht hast, meinst du?«, fragte der Fremde. »Ich habe die ganzen Jahre darunter gelitten, dass Alex damals vermeintlich gestorben war und auch meine Frau nicht zurückkehrte oder was dachtest du, wie es mir ging? Ich werde dennoch gehen, weil du in einem Punkt recht hast. Ich möchte Alex’ Leben nicht durcheinander bringen. Ich gehe nur aus einem einzigen Grund. Dem Jungen zuliebe. Aber Alex ist schlau. Er wird herausfinden was damals passiert ist. Ich hoffe du wirst den Preis bezahlen, für das was du getan hast!«

Es war jetzt still. Es war wohl alles gesagt und ich hatte auch genug gehört. Schnell schlich ich mich in mein Zimmer. Kurz darauf hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ohne dass ich es richtig steuern konnte trat ich ans Fenster. Es dauerte nicht lange und der Fremde kam unten aus der Haustür. Während er sein Handy ans Ohr hielt blieb er stehen. Er sah an der Fassade herauf zu den Fenstern, hinter denen er unsere Wohnung vermutete. Reflexartig zog ich den Vorhang vor mein Gesicht. Mit den Gedanken weit weg, sah ich ihn die Straße auf und ab gehen. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass er verstohlen zu mir herauf blickte. Manchmal blieb er stehen und rieb sich etwas die Augen. Ich dachte, dass er wohl lange unterwegs gewesen sein musste. Heute weiß ich, dass es Tränen waren die er wegwischte. Wäre mir das schon damals klar gewesen, hätte sich die Geschichte vielleicht anders entwickelt. Vielleicht wäre ich sofort nach unten gelaufen um ihn zurückzuholen. Wenn ich es recht überlege, hätte ich dadurch sogar ein Menschenleben retten können. Na ja, nur wenn man nicht an Schicksal glaubt. Bis zum jetzigen Tag bin ich mir nie ganz klar darüber geworden, warum ich ihn damals habe wegfahren lassen. Marcel würde sagen, weil mein Kopf manchmal mehr mit denken beschäftigt ist, als mit handeln. Tatsächlich schaute ich wie erstarrt zu ihm hinunter. Es dauerte eine ganze Zeit bis sein Taxi eintraf. Als er einstieg, verirrte sich sein Blick noch ein letztes Mal zu mir herauf. Er verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln und hob die Hand, als wolle er sich von mir verabschieden. Dann stieg er endgültig in den Wagen. Ich sah ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Erst jetzt merkte ich, dass ich ebenfalls die Hand gehoben hatte. Traurig ließ ich sie wieder sinken. Keine Ahnung wie lange ich so am Fenster stand und auf die Stelle blickte, an der er eben noch gestanden hatte.

»Du bist ja schon zu Hause«, hörte ich plötzlich die Stimme meines Vaters.

Ich antwortete nicht, sondern sah ihm einfach forschend in die Augen.

»Ich habe alles gehört, Dad. Wer war der Mann?«, platzte es direkt aus mir heraus. Warum sollte ich meine Gedanken quälen, wenn ich alles auch von ihm direkt erfahren konnte.

Nachdenklich kam er herein und setzte sich aufs Bett. »Dein Onkel«, sagte er ernst.

Ich konnte keine Anzeichen entdecken die mir verrieten, ob er es mit einer Notlüge versuchte oder mir die Wahrheit erzählte.

»Er ist der Bruder deiner verstorbenen Mutter«, sagte er ernst. »Als du geboren wurdest war seine Frau, mit ihrem ebenfalls gerade geborenen Sohn, bei uns zu Besuch«, sprach er weiter während ich ihn scharf musterte. »Es gab einen tragischen Unfall. Ihr Sohn verstarb im Krankenhaus, noch während ihres Aufenthaltes bei uns.«

»Aber er hat gesagt ich wäre sein Sohn«, wandte ich ein.

Vater nickte. »Das behauptet er auf einmal. Ich weiß nicht was in ihn gefahren ist nach so langer Zeit.«

Ich sah ihn durchdringend an. »Du hast ihm nicht wirklich widersprochen, als er das behauptet hat.«

Er lächelte. »Er hat aus gutem Grund versprochen nichts zu unternehmen. Es war nicht nötig sich mit ihm zu streiten!«

Ich sah ihn noch immer etwas misstrauisch an.

Er stand auf, streifte mir sanft lächelnd über die Stirn, »mach dir keine Sorgen, er wird uns nicht weiter belästigen.«

»Dad«, sagte ich noch bevor er die Tür erreicht hatte. »Du würdest mich nicht anlügen, oder?«, fragte ich ihn in einem Ton, aus dem er hören sollte, dass es mir ernst war.

Er schüttelte lächelnd den Kopf und ging hinaus. Ich war verzweifelt. War das die Erklärung warum sich mein Vater so wenig für mich interessierte? War der Besuch die Erklärung, warum mein Kampf von meinem Vater akzeptiert und geliebt zu werden, von vornherein verloren gewesen war? Oder war es tatsächlich der verrückte Onkel aus Deutschland gewesen. Es hatte alles so echt und ehrlich geklungen was er gesagt hatte. Warum sollte er einfach so wieder gehen, wenn er tatsächlich verrückt genug gewesen war, extra nach Frankreich zu kommen um mich zu sehen. Warum war Dad im Gespräch darauf eingegangen, dass der Fremde mein Vater war. Wollte er ihn wirklich nur nicht zusätzlich reizen, oder hatte er mich dreist belogen. Durfte ich überhaupt daran zweifeln was er mir sagte. Er war mein Dad. Auch wenn ich oft wütend auf ihn war, ich vertraute ihm – eigentlich. Ich musste mit jemandem darüber reden und ich war froh, dass ich mein Handy hatte. „besuch ist grade gegangen“, schrieb ich, um zu sehen ob Marcel antwortete. „und?“, kam sofort zurück. „gar nicht so einfach“, begann ich. „könnte kurz etwas dauern.“ Ich schrieb ihm von Anfang an, was ich mit angehört hatte und drückte auf senden. Marcel würde erstmal beschäftigt sein mit lesen. Ich ging in die Küche. um mir aus dem Kühlschrank was zu trinken und den Rest Ragout vom Mittag zu holen.

»Willst du nicht warten? Es gibt doch ohnehin bald Abendessen«, tönte es hinter mir. Ich war allerdings schon wieder auf dem Rückweg, was vermutlich auch besser so war.

»Kein Bedarf«, rief ich zurück und verschwand in meinem Zimmer.

„hältst du es für möglich?“, hatte Marcel nur zurück geschrieben. Ich überlegte. „keine ahnung. kann grade nicht klar denken. schätze ich muss es erst mal sacken lassen.“ „das glaub ich. können ja nachher drüber reden. steht doch noch mit neun, oder?“, erschien gleich die Antwort. „na klar“, schrieb ich zurück. „muss mich halt raus schleichen. ist mir aber egal wenn ich ärger krieg.“ „k muss aufhören, gibt essen. bis nachher“, meinte Marcel. „ja bis nachher“, tippte ich. Am liebsten wäre ich gleich los, aber es war erst sieben. So setzte ich mich auf mein Bett, starrte vor mich hin und stocherte gedankenverloren in meinem Ragout. Irgendwann legte ich mich hin und schloss die Augen. Trotz aller ernsthafter Gedanken, die mir im Kopf schwirrten lächelte ich etwas. So konnte ich gut nachdenken.

Als ich das nächste Mal auf meine Uhr sah, schrak ich sofort hoch. Die Zeiger zeigten fünf Minuten nach neun. Ich war tatsächlich eingenickt. Schnell packte ich ein paar Sachen in meinen Rucksack und schlich mich leise aus meinem Zimmer. Mein Herz schlug heftig, bis ich unten aus dem Haus trat.

»Bro, wo bleibst du denn so ewig«, rief mir Marcel gleich entgegen.

»Entschuldige, Mann«, sagte ich mit aufgeregter Stimme. »Ich bin etwas eingenickt. War totales Glück, dass ich gerade noch aufgewacht bin.«

Marcel verdrehte die Augen und schüttelte grinsend den Kopf. »Da darf er schonmal raus abends und dann verpennt er.«

»Na ja ich weiß nicht ob Dad weiß, dass ich noch mal raus darf«, zwinkerte ich ihm zu.

Der Strand war immer noch ziemlich belebt um diese Uhrzeit, allerdings keine Touristen und auch überwiegend Jugendliche. Es gab hier nur wenige Autoparkplätze. So war das Ufer für Fremde oder Leute, die weiter entfernt wohnten nicht sehr interessant. Am Strand angekommen, gingen wir über den Sand hinüber zu unserem Stammplatz. Seit wir allein hierher durften, kamen wir immer an die gleiche Stelle zum Baden und noch nie war der Platz belegt gewesen. Auch jetzt nicht.

»Macht mich echt fertig, dass ich dich heute Nachmittag angeblafft habe, weil dir die Sache mit dem Fremden nicht aus dem Kopf ging. Glaub mir, wenn ich gewusst hätte, dass es so was Ernstes ist, ich hätte niemals so geredet«, entschuldigte sich Marcel, kaum dass wir uns niedergelassen hatten.

»Vergiss es«, unterbrach ich ihn. »Ich hab dir gesagt, dass es vergessen ist. Also brauchst du dir keine Gedanken darüber zu machen.«

Marcel lächelte. »Hast ja Recht«, sagte er. »Trotzdem! - Aber was meinst du jetzt? War es dein Vater oder wirklich nur dein Onkel?«

Ich antwortete erstmal nicht darauf. Ich hatte die Frage natürlich gut gehört. Aber ich wusste es nicht und überlegte, wie ich es beschreiben konnte. Ich blickte in den grauen Himmel und lauschte dem Meer.

»Um ehrlich zu sein hab ich keine Ahnung«, sagte ich nach einer Weile und drehte meinen Kopf in seine Richtung. Er sah mir direkt in die Augen. »Kannst du dir vorstellen, dass man jemanden spüren kann, obwohl man ihn nicht sieht oder gar nicht weiß, ob es ihn überhaupt gibt?«

»Hast du?«, fragte er einfach nach.

Ich zuckte mit den Schultern. Jetzt war es Marcel, der sich auf den Rücken legte und in den Himmel starrte. So lagen wir eine Weile, als er irgendwann das Gespräch weiterführte.

»Schwierig für mich da was zu sagen. Du weißt, dass ich mit deinem Dad nie richtig warm geworden bin. Ich an deiner Stelle, würde es auf jeden Fall heraus finden wollen, glaube ich.«

»Der Zug ist ja wohl abgefahren«, antwortete ich ihm.

»Wer weiß«, grinste Marcel. »Zunächst ist mal nur das Taxi abgefahren.«

»Sorry, aber ich bin irgendwie nicht zu Scherzen aufgelegt.«

»Nein im Ernst! Vielleicht hängt dein Vater noch irgendwo in Marseille ’rum.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Wie sollen wir ihn finden. Entweder er schläft in einem Hotel, die du nicht alle abgrasen kannst oder ist am Bahnhof oder am Flughafen oder was weiß ich wo. Wie willst du denn da überall nach ihm suchen?«

»Hast wohl recht«, sagte Marcel resigniert.

Wir schwiegen wieder beide. Vielleicht hatte ich tatsächlich die Chance, so einen Vater wie Marcels zu bekommen. Aber vielleicht war auch genau das, das Problem an der Sache.

»Weißt du ich habe einfach Angst, dass ich mich da in was verrenne, nur weil ich mir immer gewünscht habe einen Dad wie du zu haben. Einen Vater der mich liebt und der mit mir Zeit verbringt. Es macht alles nur schlimmer wenn sich heraus stellt, dass er mir die Wahrheit gesagt hat. Ich könnte ihm nie wieder in die Augen sehen.«

»Bro, verstehe das bitte nicht falsch, aber allein weil du darüber nachdenkst zeigt doch, dass du nur gewinnen kannst«, gab mir Marcel zu bedenken.

»Nein so ist es wirklich nicht, Marcel, außerdem wird mein Vater nie erlauben, dass ich ihn kennen lerne«, sagte ich ernst. »Schätze, ich lass es einfach mal auf mich zu kommen. Wahrscheinlich werden wir übermorgen in’ Urlaub fahren und in drei Wochen werde ich gar nicht mehr daran denken.«

Marcel sah mich kopfschüttelnd an. »Das glaubst du doch selbst nicht, oder?«, sagte er ehrlich entsetzt. »In acht Wochen werden die Ferien vorbei sein und du wirst ein ganzes Schuljahr lang an nichts anderes denken, als daran ob dein Vater dein richtiger Dad ist. Wenn du ’ne Chance hast es herauszufinden, dann während der Ferien. Sei nicht gleich wieder sauer, aber wenn du es nicht versuchst bist du echt bescheuert.«

»Super Chance«, entgegnete ich doch etwas beleidigt. Marcel konnte leicht reden. Er hatte ja seinen Vater. So oder so war ich doch machtlos. »Ich weiß nicht mal seinen Namen oder irgendwas. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht nach ihm suchen.«

»Sag deinem Dad doch einfach was du denkst. Ich meine du bist dreizehn Jahre alt. Er sollte verstehen können, dass du Zweifel hast«, forderte Marcel eindringlich.

»Das meinst du nicht ernst«, sagte ich verächtlich. »Drei Wochen Stress werde ich mit meinem Dad haben und da hab ich im Urlaub echt keinen Bock drauf.«

»Wenn du mich fragst, sind drei Wochen Stress nichts gegen die Wahrheit.«

Er trieb mich in die Enge und das mochte ich gar nicht. Marcel hatte mal wieder genau die Wunde gefunden, in die er stechen musste.

»Was bringt mir denn die scheiß Wahrheit, außer dass ich wieder enttäuscht werde«, schrie ich ihn an und sprang auf.

»Renn jetzt ja nicht wieder weg«, mahnte mich Marcel. »Ich hab echt keine Lust, dir den ganzen Tag hinterher zu laufen.«

Ich war mir nicht sicher, ob er mich aufziehen wollte, oder es eine wirkliche Befürchtung von ihm war.

»Aber mal ehrlich, wenn du das ernst meinst ist die Sache doch entschieden. Du lässt alles beim alten, wirst nicht enttäuscht und wir genießen noch ein bisschen die Meeresluft.«

Er klang sarkastisch. Ich antwortete nicht darauf. Ich legte mich wieder zurück auf die Decke. So lagen wir eine Weile schweigend nebeneinander. Mir ging nochmal das Gespräch zwischen dem Fremden und meinem Dad durch den Kopf. Vaters Erklärung passte so garnicht zu dem was ich beobachtet hatte. Irgendwie hatten seine Reaktionen zu spontan und echt auf mich gewirkt, als das ich glauben konnte, dass er nur einer Auseinandersetzung mit dem Fremden aus dem Weg gehen wollte.

»Weißt du was der Fremde zu meinem Dad gesagt hat«, fragte ich Marcel, der natürlich direkt den Kopf schüttelte. »Dass ich ein kluger Junge bin und schon herausfinden werde was passiert ist.«

»Na was sag ich denn die ganze Zeit«, sagte Marcel, der sich in seiner Meinung bestärkt fühlte.

»Blöder Klugscheißer«, lachte ich.

»Und du bist ein so jämmerlicher Angsthase«, lachte Marcel.

»Ich will ihn wiedersehen«, sagte ich spontan und wurde wieder ernst dabei. »Keine Ahnung wie ich es anstelle, aber ich muss wissen was Sache ist. Vielleicht werde ich enttäuscht sein, aber du hast recht, das ist besser als immer daran zu denken was hätte sein können.«

Marcel lächelte. »Wie ich gesagt habe«, triumphierte er.

»Genau, und wie auch ich gesagt habe … Klugscheißer«, warf ich zurück. Wir grinsten beide.

Diesmal war es Marcel, der zuerst wieder ernst wurde. »Dann lass uns mal überlegen, wie wir da ’rangehen können!«

»Du bist echt das Beste was mir im Leben passiert ist«, sagte ich zu ihm und schlug ihm sanft mit der Faust an seine Schulter, die neben mir lag. »Danke Mann!«

»Jo, lass uns lieber überlegen, wie wir etwas über ihn herausfinden können«, lenkte Marcel ab.

Ihm war es immer etwas peinlich wenn ich ihm sagte, was er für ein toller Freund für mich war. Anfangs fand ich es immer verletzend wenn er so tat, als wäre es ihm egal. Irgendwann hatte ich gelernt, dass es einfach nicht seine Art war darüber zu reden.

»Hab doch schon gesagt, kein Plan«, zuckte ich mit den Schultern.

»Hat er nie erzählt, wo deine Mom in Deutschland zuletzt gewohnt hatte?«

»Hallo, Erde an Marcel. Er hat nicht mal erzählt, dass es eine deutsche Mom gibt. Der Fremde hat gesagt, dass er zurück nach München fährt, aber ich hab halt keine Ahnung wie er heißt oder wo er dort wohnt.« Ich sah Marcel resigniert an. »Keine Chance würde ich sagen, was?«

Er wippte nachdenklich mit dem Kopf. »Ich kenn halt echt niemanden, der seine Kinder nicht andauernd mit Geschichten aus alten Zeiten nervt«, grinste er. »Aber ich würde sagen, dann musst du es eben selbst in die Hand nehmen«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Wie meinst du denn das jetzt wieder«, fragte ich.

»Du musst bei dir zu Hause nach Anhaltspunkten auf die Suche gehen. Es muss irgendwas geben. Dein Dad hat das Leben deiner Mutter nicht komplett ausgelöscht! Ich wette mit dir, dass er irgendwelche Erinnerungen aufgehoben hat.«

Ich nickte.

»Aber es ist wichtig, dass du heute noch was findest. Wenn wir bis morgen keinen Plan haben, hast du verspielt. Übermorgen geht’s für dich in den Urlaub!«

»Denke wir sollten am besten gleich los«, stimmte ich zu.

Ein Bruder für Luca

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