Читать книгу Ein Bruder für Luca - Tom J Schreiber - Страница 12
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Der Zug bahnte sich seinen Weg aus dem Bahnhof hinaus, in die Vororte Marseilles. Langsam glitt er dahin und so konnte man fast am Leben der Leute teilhaben, die ihrem Tagwerk nachgingen. Mein beklommenes Gefühl machte keine Anstalten zu verschwinden. Es hatte sich fest in meiner Magengrube manifestiert. Beunruhigt ließ ich die Landschaft an mir vorbeiziehen. Meter um Meter spürte ich mein sicheres Zuhause verschwinden.
Marcel riss sich die Kopfhörer aus den Ohren und rief plötzlich. »Ich hab’s!«, schelmisch lachend fügte er hinzu, »hast du Kummer, wähle einfach diese Nummer.«
Dabei deutete er mit dem Zeigefinger auf sich selbst. Inzwischen war der Zugbegleiter an uns vorbei, in den hinteren Teil des Zuges gegangen, um vermutlich von dort aus mit der Fahrkartenkontrolle zu beginnen. Wir waren seit etwa einer viertel Stunde unterwegs. In der ganzen Zeit hatte ich kein Wort mit Marcel gewechselt, sondern nur über einem Plan gegrübelt. Marcel hatte wohl das gleiche getan. Einige hatten sich zu uns umgedreht. Marcel war etwas lauter herausgeplatzt, als es seine Absicht gewesen war. Er kam mit seinem Oberkörper jetzt näher zu mir herüber. Flüsternd erklärte er mir, was er sich ausgedacht hatte.
»Pass auf. Der Schaffner wird von hinten nach vorn durchgehen. So voll wie der Zug ist, wird er höchsten ein oder zwei Mal bei uns vorbeikommen. Wir beobachten den Gang, wenn er irgendwann auftaucht, stehen wir auf und gehen an ihm vorbei. Wenn er uns aufhält erklären wir ihm, dass unsere Eltern mit den Fahrkarten weiter vorn im Zug sitzen. Danach kommt die Schwachstelle. Wir müssen hoffen, dass er uns glaubt und nicht mit uns vorläuft oder uns zurückschickt. Aber ich glaube das ist kein Problem. Bei den vielen Familien hier kann ich mir nicht vorstellen, dass er misstrauisch wird.«
»Könnte klappen«, stimmte ich zu.
Ich fand den Plan, entsprechend der Umstände, nicht schlecht und hoffte inständig, dass es funktionieren würde. Abwechselnd beobachteten wir also den Gang, bis der Schaffner auftauchte. Wir nutzten beide die Gelegenheit, die Toilette aufzusuchen, was im Zweifelsfall auch keine schlechte Tarnung war. Wir änderten unseren Plan und warteten bis der Schaffner im Wagon auftauchte um die Fahrkarten zu kontrollieren. Als er kurz davor war, an uns vorbei in den nächsten Wagen zu wechseln, verschwand ich in der Toilette und verschloss die Tür. Es sah nun so aus, als würde Marcel lediglich warten, bis die Toilette wieder frei war. Ich stand in dieser engen Behausung, um auf Marcels Zeichen zu warten. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass es klappen würde. Es dauerte nicht lange bis Marcel klopfte. Ich öffnete die Tür. Grinsend stand er davor.
»Ist einfach an mir vorbei. Starker Plan!«
Ich grinste und schlug in Marcels erhobene Hand ein.
»Na komm lass uns wieder hinhocken die Reise genießen. Es war jetzt bereits halb fünf. Wir hatten noch satte zweieinhalb Stunden Zugfahrt vor uns, bis zum ersten Umsteigen. Draußen zog die Landschaft vorbei, zu schnell um einen Punkt zu fixieren, perfekt zum träumen. Jetzt machte sich bemerkbar, dass wir die ganz Nacht kaum geschlafen hatten.
»Die Fahrkarten bitte!« Ich schreckte auf. Vor uns stand der Fahrkartenkontrolleur, den wir bereits einmal gut ausgetrickst hatten Marcel sah ebenfalls etwas verschlafen und vor allem verdattert aus. »Die haben unsere Eltern weiter vorne im Zug«, sagte er dennoch ganz ruhig.
Der Schaffner musterte uns. »Habt ihr euch vorher nicht schon an den Toiletten herumgedrückt?«, fragte er misstrauisch.
Marcel zuckte mit den Schultern.
»Ich würde sagen, dann gehen wir eure Eltern mal suchen.« Er trat zur Seite und wies uns an aufzustehen.
Seiner Aufforderung folgend, gingen wir zögernd die Reihen entlang durch die Wagons. Das blöde war, dass wir uns nicht mehr absprechen konnten. Wir taten einfach, als würden wir nach unseren Eltern Ausschau halten. Viel schneller als gedacht war das letzte Abteil erreicht.
»Sind nicht da«, sagte Marcel gespielt überrascht. »Dann müssen sie in der anderen Richtung sitzen.«
»Wenn ihr mich auf den Arm nehmt, könnt ihr was erleben«, drohte er uns lächelnd mit dem Zeigefinger.
»Bestimmt nicht. Allein können wir ja nicht im Zug sein«, sagte Marcel ganz überzeugend.
»Setzt euch hier hin«, sagte der Schaffner. »Ich sehe allein nach euren Eltern. Bewegt euch nicht von der Stelle!«
Wir nickten und nahmen schnell auf den Sitzen platz, die er uns anwies.
»Verflucht«, sagte Marcel als er weg war. »Wir müssen verschwinden, bis er zurück kommt. Der nimmt uns sonst mit.«
»Auf die Toilette?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht. Meinst du, er fällt da nochmal drauf rein?«
Ich sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis Lyon. »Ich denke er geht bis ganz nach hinten. Wenn wir ihm ein ganzes Stück folgen und uns in einer Toilette einsperren, findet er uns vielleicht nicht so schnell. Er hat ja kaum Zeit vor jeder Toilette zu warten bis jemand rauskommt.«
»Dann los«, sagte Marcel.
Wir beeilten uns durch die Abteile, immer darauf bedacht nach dem Schaffner Ausschau zu halten. Als wir ihn nach fünf oder sechs Wagons wieder entdeckten, nahmen wir die nächste freie Toilette und sperrten uns ein.
»Keine so tolle Fahrgelegenheit«, rümpfte ich die Nase.
»Besser als die nächste Polizeiwache«, zwinkerte mir Marcel zu. »Und falls du mal musst ist es der perfekte Ort.«
Ich musste lachen. Alle paar Minuten sah ich auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. »Meinst du es fällt nicht auf, wenn dauerbesetzt ist?«
Marcel nickte. Er legte den Finger auf seine Lippen, schloss die Tür auf und öffnete vorsichtig. Davor stand ein Reisender und sah uns erstaunt an. Der Schaffner war nicht zu sehen.
»Sorry, mein Bruder hat Bauchweh«, sagte Marcel einfach. Der Mann nickte wortlos und ging hinein.
»Und jetzt?«
»Wir hoffen, dass er schon wieder vorbei ist und gehen noch ein Stück weiter.«
Gesagt, getan, gingen wir noch einige Wagons weiter und schlossen uns in einer anderen Toilette ein.
»Hauptsache der Zug kommt pünktlich an«, stöhnte Marcel. »Lange halte ich das nicht mehr durch.«
Zwanzig Minuten später wurden wir langsamer. Lyon war erreicht und wir schlichen uns aus der Toilette. Auf dem Gang liefen wir dem Kontrolleur fast in die Arme, der direkt auf uns zu kam.
»Wieder ins Klo«, sagte Marcel und schob mich zurück. Im gleichen Moment hörte ich, wie sich der Riegel der Toilettentür schloss. Der Rückzug war versperrt. Auf dem Gang standen schon einige Reisende, die auf die Ankunft warteten. Wir pressten uns an ihnen vorbei, weg von dem Kontrolleur mit dem ich einen kurzen Blickkontakt hatte.
»Ich glaube er hat uns gesehen. Beweg dich«, sagte ich und schob Marcel an seinem Rucksack vorwärts.
»Es geht nicht mehr weiter. Wir sind am Ende.«
Besorgt sah ich nach draußen. Der Bahnsteig war schon zu sehen, der Zug allerdings immer noch in Bewegung. Zwischen uns und dem Schaffner war glücklicherweise fast kein Durchkommen mehr. Zu viele Menschen standen inzwischen mit ihrem Gepäck auf dem Gang und warteten darauf auszusteigen. Trotzdem kam er langsam näher. Er hatte uns ganz sicher entdeckt. Der Zug hielt an. Plötzlich ging es ganz schnell. Die Türen öffneten sich.
»Hey bleibt stehen ihr zwei!«, rief der Schaffner über die Köpfe hinweg.
Wir quetschten uns hastig nach draußen. Ich spürte die Blicke der Leute auf uns.
»Weg hier!«, rief ich und rannte los. »Marcel?«, ich drehte mich nicht um.
»Bin da. Lauf weiter«, keuchte er.
Wir sprinteten eine Treppe hinunter. Ich stieß eine Frau an, die gerade dabei war einen schweren Reisekoffer die Treppe nach oben zu schleppen. Ich verfehlte die nächste Stufe und kam heftig ins straucheln.
»Stehen bleiben«, hörte ich wieder von oben.
Das letzte was ich sah, war das Gesicht der Frau die mich entsetzt anstarrte, während ich zu fallen begann. Ein heftiger Schmerz fuhr mir ins Knie, mit dem ich auf die Treppenstufe geknallt war. Völlig ohne Orientierung fiel ich einfach weiter. Reflexartig nahm ich die Hände über den Kopf um mich zu schützen, aber da war es schon vorbei. Zum Glück war ich kurz vor einem Zwischenabsatz gestolpert, auf dem ich jetzt zum liegen gekommen war. Etwas benommen sah ich den Schaffner die Treppe herunterkommen. Gleichzeitig zerrte mich Marcel am Arm, um mir aufzuhelfen.
»Komm schon weiter«, schrie er.
Ich rappelte mich mit seiner Hilfe auf. Trotz meiner Schmerzen stürzte ich hinter ihm her, die restliche Treppe nach unten. Wir bogen um ein Ecke und liefen einen langen Tunnel entlang. Erschöpft blieb Marcel irgendwann stehen.
»Ich glaube er hat aufgegeben«, schnaufte er und grinste mich an.
Ich rieb mein schmerzendes Knie.
»Alles o.k.?«, fragte er mich besorgt.
»Ich denke schon.“
»High five«, lachte Marcel und hob die Hand. Ich schlug kopfschüttelnd ein.
»Wir brauchen auf jeden Fall einen neuen Plan«, lachte ich.
Zum Bahnsteig kehrte ein frustrierter Fahrkartenkontrolleur zurück. »Verdammte Lausbuben!«, fluchte er vor sich hin.
Eine knappe viertel Stunde später saßen wir im Zug nach Genf. Menschen stiegen ein und aus. Wir hatten uns zu einigen jungen Leuten gesetzt, die wie wir mit Rucksäcken unterwegs waren. Verträumt blickte ich aus dem Fenster. Auf dem Bahnsteig war noch immer ein reges Treiben. Es erschien eine kleine Gruppe Radreisender, die sich mit ihren Fahrrädern über die Treppe aus dem Untergeschoss auf den Bahnsteig kämpften. Eine aus der Gruppe, eine ältere Dame in einer roten Regenjacke und kurzen, eng anliegenden, königsblauen Radhosen, schob ihr Rad hektisch an meinem Fenster vorbei. Ich sah ihr nach und schüttelte den Kopf über ihr Outfit. Dachte sie im Ernst, dass ihre nicht wirklich hübschen Beine so besser dastanden? Ihr Begleiter sowie eine, für die beiden viel zu jung wirkende, Frau blieben stehen. Während sie sich anschickte der älteren Frau zu folgen, schob der Mann sein Rad in die andere Richtung des Zuges. Sekunden später tauchten die beiden Frauen wieder auf, um hektisch ihrem Begleiter zu folgen. Ich musste schmunzeln. Links und rechts sprangen Reisende aus dem Weg, um von den beiden nicht umgerannt zu werden. In vollem Lauf sprang die jüngere der beiden jetzt auf ihr Rad um den Rückstand schneller aufzuholen. Sie verhakte sich aber mit ihrem Fuß in der Satteltasche. Damit beschäftigt nicht zu stürzen und ihren Fuß frei zu bekommen war sie nicht fähig zu lenken. Bedenklich steuerte sie auf den Treppenabgang zu. Mit einem Ruck befreite sie gerade noch rechtzeitig ihr Bein und trat in die Pedale.
»Ist ja besser als fernsehen«, lachte ich.
Marcel sah mich fragend an. Er hatte von alledem nichts mitbekommen. Noch zehn Minuten bis der Zug abfuhr.
Wir hatten kaum die Stadtgrenzen von Lyon verlassen als der Zug schon wieder langsamer wurde und schließlich stehen blieb. Minuten lang passierte nichts, außer dass einige unserer Mitreisenden ihre Gesichter an die Scheiben drückten, um die Ursache zu erspähen.
»Nichts zu sehen«, teilten sie resigniert mit.
Marcel zog unseren Reiseplan aus der Tasche. »Wir haben ganze fünfzehn Minuten zum umsteigen«, sagte er. »Bro, wenn das so weiter geht, können wir den direkten Anschlusszug vergessen.«
»Vielleicht ist der Stopp ja planmäßig und wir bekommen dadurch gar keine Verspätung«, versuchte ich mich zu beruhigen.
Im gleichen Augenblick erklang eine Durchsage. »Verehrte Reisende. Die Weiterfahrt wird sich wegen Weichenprobleme um etwa dreißig Minuten verzögern. Wir möchten uns für die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Vielen Dank, dass Sie sich für die Bahn entschieden haben.«
»Das war’s dann wohl«, seufzte Marcel. »Blöde Bummelbahn.«
»Wir sind ja früh dran. Heute fahren bestimmt noch ein paar Züge Richtung München.«
»Und das aus deinem Mund, Bro«, lachte er. »Verdammt«, fluchte er im gleichen Moment.
»Was ist denn«, fragte ich nervös.
Marcel sah echt erschrocken aus. Ich folgte seinem Blick den Gang entlang. Vor lauter Verspätung hatten wir vergessen auf den Zugbegleiter zu achten. Nur drei Reihen vor uns kontrollierte er bereits die Fahrscheine.
»Fuck«, fluchte ich ebenfalls. »Was jetzt?«, flüsterte ich.
»Keine Ahnung. Zum aufstehen ist es zu spät. Das fällt auf«, sagte er. »Uns wird schon was einfallen.«
»Was denn?«, sagte ich hektisch.
Er zuckte nur mit den Schultern. Der Zugschaffner kam immer näher. An unserer Reihe angekommen sah er mir direkt in die Augen. „Warum immer ich“, dachte ich, als er sich jedoch wegdrehte und auch die Sitze gegenüber des Ganges musterte. Einer der jungen Leute hielt ihm eine Fahrkarte entgegen. Er besah sie sich und ließ seinen Blick nochmal über die Sitze schweifen. Wortlos gab er die Fahrkarte zurück und ging weiter.
»Platzwahl ist die halbe Miete«, flüsterte Marcel grinsend. »Gruppenticket!«
Entspannt genossen wir den Rest der Fahrt. Der Zug war viel langsamer als der letzte und hielt bald alle viertel Stunde an einer Station. Fast war ich etwas traurig, als wir mit der angekündigten, dreißigminütigen Verspätung in Genf eintrafen. Die Fahrt war richtig entspannt gewesen, nachdem das mit dem Ticket geklärt war.
Wieder hatten wir Glück, der nächste Zug fuhr schon in einer Dreiviertelstunde.
»Na, dann haben wir ja Zeit kurz meinen Eltern Bescheid zugeben, dass es uns gut geht und vielleicht können wir auch noch ’nen Snack einwerfen.«