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Brigitte schaut, wie an den meisten Abenden und Nächten, und auch dann noch, wenn Karl Heinz längst schläft, gebannt in den Fernseher hinein, so wie andere Menschen Baggerfahrern zuschauen, stundenlang, ohne Grund, und ohne irgend einen Bezug zu dem Geschehen herzustellen, das sie da verfolgen. Karl Heinz sitzt auf dem Sofa und liest in den Werbebroschüren über das Allgäu, die er sich hat schicken lassen: ‚Im anmutigen Voralpenland, vorbei an satten Wiesen und klaren Bächen, auf gepflegten Wegen mit Blick auf imposante Bergketten und tiefblaue Seen kommen Naturgenießer ins Schwärmen.’ steht da.

Karl Heinz und Brigitte sind jetzt mehr als 10 Jahre verheiratet. Zwar hat ein halbes Jahr nach der Hochzeit Brigitte aufgehört, gegen den Willen von Karl Heinz, mit ihm zu schlafen, weil sie ‚kein Kind will’, kümmert sich aber die ganze Zeit sehr um seine nicht recht vorangehende Karriere als Architekt und arbeitet auch in dem Architekturbüro mit, das er und ein Partner betreiben. In der Öffentlichkeit treten sie als harmonisches Paar auf, was sie in gewisser Weise auch sind, und fahren manchmal sogar gemeinsam in Urlaub, auch wenn Brigitte gar nicht verreisen will, sich dann immer wieder fragt: ‚Warum kann ich nicht einfach nur hier sitzen’?

Das Allgäu interessiert Brigitte genauso wenig wie die innere Mongolei oder auch alles andere anderswo. Es fällt ihr immer schwerer, Verständnis aufzubringen für ihre Mitmenschen und ihr Verhalten, das sie in Fetzen zwangsläufig erfährt, bei Gesprächen, in der Zeitung, aus dem Fernseher, über die Abwrackprämie, das Rauchverbot, Volksbefragung zum Minarettverbot, Schweinegrippe, Massenvernichtungswaffen, alles fällt unter die Kategorie ‚man kann ja nie wissen’*.

Dass sie ständig für etwas sein muss, aus dem einzigen Grund, weil ihre Gegner dagegen sind, dazu hat sie keine Lust. Da Brigitte nicht weiß, wer jetzt eigentlich verrückt ist, sie oder die anderen, ist es ihr lieber, sie hat keine Ahnung von nichts und will daher auch keine haben.

Schon mit achtzehn hat sie erkannt, dass das so ist. Sie hat deshalb die Schule verlassen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern und zum größtem Bedauern ihrer Lehrer. Brigitte, in der Klasse immer 1a, keine Drogen oder so, voll auf den Lernstoff fixiert, und dann, von einem Tag auf den anderen, neue Wissensaufnahme gleich null, und nach zwei Monaten ist sie ganz gegangen. Auf die naheliegende Frage, warum sie die Schule verlassen hat, antwortete sie stereotyp, weil das ‚nichts bringt’, oder ‚sie wisse nicht was das soll’ und stieß mit diesen lapidaren Worten die Fragenden, die für sich in Anspruch nahmen, es ja nur gut mit ihr zu meinen, vor den Kopf.

Zu Geburtstagen ihrer Eltern ging sie ab da auch nicht mehr, da sie ‚keine Zeit hatte’ und außerdem ihre Mutter immer weinen musste, wenn sie sie sah.

Als sie dann Karl Heinz kennen lernte, heiratete sie ihn zwei Wochen später und mietete eine Dachterrassenwohnung. Dort ist sie geborgen und nicht mehr allein und sieht keinen Grund, sich in Gefahr zu begeben, weder körperlich noch mental.

Als Karl Heinz den Raum verlässt schaut sie doch in die Hotelprospekte, aber sie ist nicht in der Lage, das Gelesene zu fassen, von Wellnesspension mit Wohlfühlfrühstücksbuffet und Müsliecke ist die Rede, für 195 Euro, und von Energieflusstreatment für 322 Euro und von Vitalpension mit Sonnenpaket, für 245 Euro, pro Person im Doppelzimmer.

Vor Jahren waren sie in Cornwall, vier Lagen alte Teppichböden übereinander, und ein Portrait vom jungen Prinz Charles über dem Sofa in der Eingangshalle, das war ganz nett.

*Es soll Leute geben, die ihr 1a funktionierendes Auto verschrotten, um mit Hilfe einer so genannten Abwrackprämie, die meist geringer ist als der Wert des alten Autos, und eines Bankkredites einen neuen Kleinwagen zu kaufen, oder die sich gegen Schweinegrippe impfen lassen, weil man ‚nie wisse, wann so ein Erreger gefährlich mutiere’, oder die in jede hingehaltene Kamera weinen, meist sind es Männer zwischen 40 und 60, wenn ein Fußballspieler wegen Depression Selbstmord begeht, das hat sie selber im Fernsehen gesehen, oder die in die Rathäuser gehen, um Petitionen zu unterschreiben, dass in Kneipen nicht mehr geraucht werden darf, in die sie niemals auch nur einen Schritt machen würden, oder die sich gegen Minarette aussprechen, auch wenn weit und breit keine geplant sind.

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