Читать книгу MAY BEE - Tomas Maidan - Страница 5
1. Jemand haut ab
Оглавление»So ein Wahnsinn«, schrie May, »ein Kater darf doch nicht vorne auf die Straße raus!«
Busse donnerten wie motorisierte Büffel vor ihrer Haustür. Rushhour in Kujai-City. Die Hölle mit einer Million Kilowatt.
May hatte immer befürchtet, dass so ein Unglück eines Tages passieren könnte: Dass Lou aus Neugierde oder aus Blödheit den unglücklichsten Moment erwischte, und er auf seinen niedlichen aber treulosen Katerpfoten einfach abhauen würde. Genau das tat er jetzt! Und raus war er.
Die Innenstadt von Kujai-City stellte alles andere als ein Kleintierparadies dar. Seit Ende des Rückeroberungskrieges wuchs die Metropole zum Zentrum eines labyrinthischen Imperiums an. Hier donnerten Schwertransporter über achtspurige Fahrbahnen, hier schütteten Drogeriebesitzer bläuliche Kanister in den Hofeinfahrten aus. Und unter den anfeuernden Lichtern der Spielhallen zielten Jugendliche mit ihren Gummizwillen auf alles Mögliche. Bierdosen, Obdachlose und Ratten trafen sie im Schlaf. Dies war kein Ort für Kater.
May war gemeinsam mit Lou aus dem Keller heraufgekommen, doch der kleine Schnuffel bog im entscheidenden Moment einfach zur falschen Seite ab. Er lief nicht nach hinten in den Garten, wo er sein Reich mit Bäumen und einem alten Schuppen in Ruhe hätte durchkreuzen können, sondern er zwängte sich durch den Türspalt zur Straße hinaus. May fluchte und rannte. Dabei musste sie ihre typischen, strudelförmigen Gedanken denken, in denen fortwährend zwei Thesen miteinander Katz und Maus spielten: ›Im Leben hatte man immer zwei Möglichkeiten: rechts oder links. Hin oder her. Raus oder rein.‹
Und Lou zischte raus.
May stolperte die Stufen hinab und knallte gegen die Scheibe. Aua! Sie drückte die Klinke - doch nichts öffnete sich. Jemand hatte die Kindersicherung aktiviert! Weder für Kinder noch für Idioten und schon gar nicht für Katerfreundinnen gab es ein Hinauskommen. May rüttelte. Welcher verdammte Nachbar hatte die Idiotensicherung einrasten lassen? Sie sprang beim Zurücklaufen über ihr Rennrad im Flur - und in der Wohnung angekommen, durchwühlte sie das gesamte Schlüssel-Board. So eine Scheiße, dachte sie, seit wann brauchte man einen Schlüssel, um aus der Wohnung zu kommen? Überhaupt: Kinder! Wer hatte überhaupt noch Zeit für Kinder? May besaß nicht einmal Zeit, ein Kind zu machen. Ein Dreiviertelstündchen sollte man dafür schon übrig haben - und von Zeit für die Aufzucht konnte sowieso nicht die Rede sein.
Mit krallenartigen Fingern durchpflügte sie alle Fächer, während sie sich in katerblutroten Farben ausmalte, was genau Lou da draußen alles ›Schönes‹ erleben mochte. Ob er gleich von einem Bus zerquetscht würde, oder ob er vorher noch Knallfrösche um die Ohren bekam? Sie rannte hinaus.
Lärm, Autohupen, Menschen in hirnlosen Formen und Farben empfingen sie. Ein Strudel voller Hindernisse zwang sie in einen bunten Parcours. Von hinten röhrte ein Motorradfahrer mit Vollgas an ihr vorbei. Er raste auf dem Hinterrad zweihundert Meter über den Fußweg, drehte einen irrsinnigen Kreis und schaffte es sogar, über einen Müllbeutel hinweg zu springen. Super, dachte May, im Zirkus musste man dafür Eintritt zahlen, aber in Kujai-City gab es eben alles gratis. Benzingestank stach ihr in die Nase. Graue Fassaden schwitzten übellaunig in der Abendsonne. Aber kein Lou, kein Katerschwanz, nicht einmal ein einzelnes Barthaar konnte sie in dem dynamischen Inferno ausmachen. Verdammt, er konnte doch nur in die eine Richtung gerannt sein, Richtung Zentralplatz. May lief.
Oder in die andere Richtung? So war das immer im Leben: Man hatte immer genau zwei Möglichkeiten. So, oder so. Rechts oder links, Kater oder Katze, Mops oder Maus, Sein oder Nichtsein. Gurke oder Zitrone. Immer, wenn May Stress bekam, konnte sie nicht aufhören, solchen Quatsch zu denken.
Sie lief nach links.
Ihre Wut steigerte sich mit jedem Schritt, den sie - da war sie jetzt völlig sicher - in die falsche Richtung lief. Komischerweise verstärkte sich dieses Gefühl sogar dann, wenn sie die Richtung änderte. Je mehr Menschen an ihr wie Slalomstangen bei einer Skifahrt vorbeischossen, desto dicker schwoll in ihr der Klumpen aus Wut und Verzweiflung an.
Immer schneller lief sie. Und obwohl sie sich einzig für ein Wesen interessierte, das sechzig Zentimeter lang und rotbraun gestreift war, blieb ihr Blick plötzlich an diesem Mann hängen. Er bewegte sich so sonderbar. Wie in Zeitlupe ... Er glitt wie ein Taucher unter Wasser durch den Kosmos der Innenstadt. Dann drehte er sich und ließ sich rückwärts treiben - gegen den Strom der Menschen und gegen jede Vernunft. Gegen die Welt, gegen das Leben ... Er schien nicht mit dem Strom zu schwimmen, vielmehr sah es aus, als ob er aus einem fremden Universum hinüber geweht wurde, willenlos ... Sein Anblick fesselte Mays Aufmerksamkeit sofort. Er blickte viel zu häufig in die Höhe, wie sie fand, leicht hätte er auf ein kleines Tier am Boden treten können. Dann betrachtete er gedankenverloren die Häuserfassaden, so, wie man die Gemälde in einem Museum ansah. Er kniff dabei die Augen zu schwärmerischen Schlitzen zusammen und beobachtete auch viel zu lange einen Hubschrauber, der über dem Tempel kreiste. May wollte weiter nach Lou suchen, doch da wankte der Zeitlupen-Mann ohne klaren Blick auf sie zu. Und plötzlich geschah alles gleichzeitig: Ein Bus bog fauchend um die Ecke, die Welt des Tempos brach rücksichtslos in den Stillstand ein. May wollte weiter laufen, und den Hans-Guck-in-die-Luft nicht weiter beachten, da -
... packte sie ihn.
Sie dachte nicht nach, es war ein Reflex, etwas das man tut, ohne sein Hirn einzuschalten. Mays Spezialdisziplin. Der Bus dröhnte neben ihr, kampfbereit glänzten seine Scheiben und die rasende Trutzburg rauschte an ihr vorbei. Ein Ungeheuer aus rollendem Metall. Staub und Lärm flogen May ins Gesicht. Sie aber riss den Kerl mit aller Kraft an seiner Kapuze und schmiss ihn regelrecht zu Boden. Uhhh ...
Der Bus, der ihn mit Gewissheit überrollt hätte, schoss boshaft hupend geradeaus. Der Kerl wäre glatt davor gelatscht! Hätte May ihn nicht gepackt, wäre er überfahren worden, todsicher.
May besah sich das Werk ihres Zupackens. Er war so hart auf den Boden geschlagen, dass er benommen dalag. Hatte er sich ernsthaft verletzt? Sie wollte weiterlaufen und nach Lou suchen, aber etwas hielt sie auf. Der Kerl, er mochte in ihrem Alter sein, krümmte sich am Boden. May wischte sich die Haare aus der Stirn. Die Situation entwickelte sich gar nicht gut, schließlich sah es für Passanten jetzt womöglich so aus, als hätte sie ihn angegriffen. Schlägereien kamen in dieser Gegend pausenlos vor, meistens tauchten schnell Polizisten auf, und die diskutierten nicht lange. Die interessierten sich nicht für die Frage, wer Täter und wer Opfer war, das wusste May aus eigener Erfahrung, schließlich war sie selbst angehende Kommissarin. In Kujai regierten kühle Hektik, grauer Wahnsinn und urbane Idiotie.
Gehetzt blickte sie zu den Passanten, die wie Raben an der Haltestelle schliefen. Einige sahen sie fragend an, andere gingen blass und schmierig weiter. Keine Chance, Lou noch zu finden. Aber es war doch besser gewesen, fand May, den Kerl auf diese Weise zu retten, als wenn er vom Bus überfahren worden wäre!
»Was bist du für ein Idiot«, schrie May aus heiseren Lungen zu dem Mann hinunter. Der Wind riss ihr jedes Wort humorlos von den Lippen. Sie sah den Fremden an, wie er über die Platten kullerte. Er wirkte benommen, vielleicht stand er unter Schock. Auf jeden Fall schien er gar nicht mitbekommen zu haben, dass er jetzt eigentlich tot sein müsste. Stell dir vor, du bist tot, und merkst es nicht mal! So eine Scheiße, dachte May, jetzt geht der mir hier auch noch hops ... Und ich bin schuld daran! Sie sah zu den Leuten, die mit blassen Kuhgesichtern vorbei trotteten. Ein Kerl, der auf dem Müllcontainer vor einer Bar saß, griff bereits grinsend in seine Jackentasche und brachte eine Zwille zum Vorschein. May hasste diese Straße. Und am Ende würde womöglich May, die doch nur helfen wollte, sogar eine Anzeige bekommen.
Hätte sie den Heini doch einfach laufen lassen, dann könnte sie sich jetzt wenigstens um ihren eigenen Idioten kümmern; jenen, mit den weichen Pfoten. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und betrachtete den Kerl. Dunkle Haare, Anfang dreißig, glatt rasiert, unmodische Scheitelfrisur. Vor vierzig Jahren liefen die Männer in Kujai vielleicht so rum. Sie fragte sich, ob er als Schauspieler womöglich gerade einen historischen Film drehte? Sein Gesicht wirkte etwas rundlich, das Kinn wattig. Er ähnelte einem Bär, fand May - allerdings ein kleiner Bär. Oder ein Fuchs? Wie hieß diese kleine Bärenart noch mal, die wie ein dicker Fuchs aussah? Ein Baumbär. Jetzt öffnete er die Augen und starrte zu May hinauf. Gott, er schien völlig verwirrt zu sein ... aber immerhin halbwegs okay. May wollte weiterlaufen. Bestimmt hätte Lou jetzt ihre Hilfe viel dringender nötig gehabt als dieser Trottel hier. Sie konnte sich schließlich nicht um alle Streuner der Stadt kümmern. Doch als sie jetzt aus der Nähe sein Gesicht betrachtete, erkannte sie zwei Dinge. Erstens: Der Kerl sah irgendwie interessant aus. Und zweitens: Er stammte nicht von hier. Vielleicht kannte er keine sechsspurigen Straßen - und offensichtlich kannte er keine Busse.
May verstand das eigentliche Problem: Er war ein Ausländer. Er trug keinen Code an der Schulter und seine Kleidung sah aus, als würden sie aus der Altkleidersammlung stammen. Sein Gesicht besaß die typischen Kennzeichen eines Einwanderers aus dem Norden: lange Augenbrauen, schmale Nase. Nach Kriegsende waren Tausende Söldner in die Metropole geströmt, und die Regierung hatte ganze Bezirke für sie absperren lassen, damit das Land nicht von Millionen entwurzelter Männer überschwemmt wurde. Niemals hätte einer von ihnen in der Stadtmitte herumlaufen dürfen - auch dann nicht, wenn er sich nur vor den Bus werfen wollte.
May atmete durch. Sie prüfte, ob eine Streife in Sicht kam. Damit war nicht zu spaßen. Manche Kollegen eröffneten sofort das Feuer, wenn sie Eindringlinge entdeckten. Links sah sie nichts. Gut. May beobachtete den Liegenden. Glasiger Blick. Der Baumbär befand sich irgendwo im Schlummerland. Sie überlegte, was er alles erlebt haben musste. Schließlich stellte die Innenstadt einen Hochsicherheitstrakt dar, in den nicht einmal eine Maus lebend hinein gekommen wäre. Aber dieser Kerl -
... musste etwas Besonderes sein.
Und wenn er einen Anschlag plante? May tastete schnell seine Jacke ab. Sie spürte, dass sich darunter nichts verbarg. Kein Messer, kein Stock - alles Fehlanzeige. Der Kerl schien ein friedliches Baby zu sein. Ein Idiot, genau wie Lou.
May räusperte sich. Nein, sie wünschte keinen Familienzuwachs. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass man sie gerade jetzt, kurz vor ihrer Prüfung zur Hauptkommissarin mit einem illegalen Eindringling gesehen hätte. Sie blickte sich um. Ein älterer Mann blieb in einiger Entfernung stehen und glotzte dümmlich. Nicht heute, bitte nicht jetzt, dachte May und drehte den Kopf zur Seite. Sie hatte Feierabend - und jede Menge am Schreibtisch zu tun. Aber dort hinten ... Verdammt! May erkannte die Mützen zweier Polizistinnen, sie patrouillierten über zweihundert Meter entfernt, näherten sich aber zügig.
May richtete sich auf. Sie wischte sich den Schweiß ab, nickte einem alten Mann grüßend zu und eilte mit gesenktem Kopf fort. Was für ein Scheißtag.