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2. Zur grünen Nixe

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May flüchtete in Tuhs Bude, dem einzigen Ort in dieser Irrsinnsstadt, wo man Urlaub vom Wahnsinn machen konnte. Tuhs Kiosk hieß Zur Grünen Nixe und heute roch es drinnen noch stärker als gewöhnlich nach Badesalz und Honigkuchen. May fand, dass die Bude ein kleines Paradies darstellte, denn hier gab es einfach alles: Eis, Getränke, Spielsachen, Comics und einen Fernseher, in dem Rockmusik lief. Als Leuchtreklame hing über der Metalltür eine schielende Meerjungfrau, die abends den Vorplatz in ein wechselndes, radioaktiv anmutendes Grün tauchte. Nach dem Zwischenfall vor dem Bus war May mehr als froh über Tuhs Gesellschaft. Außerdem bot die Bude Schutz vor den Blicken der Passanten. Dies war kein Ort für Spießer, dies war ein Ort für normale Menschen.

Tuh hieß eigentlich Thusnelda, und oft hatte May sich gefragt, wie lange es dauern würde, bis die beiden dienstlich miteinander zu tun bekämen. Ihr Kiosk stellte nämlich auch für Käufer von Hehlerware, Drogen und anderem Klamauk ein Paradies dar. Alles illegal. Doch May kam nicht zum Schnüffeln, sie hatte Hunger. Großen Hunger.

Während May im Brei ihrer Champignon-Creme rührte, erzählte sie Tuh den Schlamassel mit Lou. Vor allem aber die Geschichte mit dem merkwürdigen Fremden wollte sie unbedingt loswerden.

»Und du hast dem Kerl nicht geholfen?« schnaufte Tuh und warf ihren Scheitel aus der Stirn. Fast einen halben Meter lang schwang die rote Haarsträhne über ihr Gesicht und fügte sich in das grellbunte Gewimmel aus Zigaretten- und Kaugummipackungen ein, zwischen denen sie mehr lag als saß. Ihre gelben Springerstiefel hatte sie fröhlich wackelnd auf den Tresen gelegt. Wie immer, wenn sie den Lauf der Welt kommentierte, verzog sie ihr schmales Gesicht zu einem Ausdruck, als würde sie an einer Zitrone lutschen.

»Ach, nein ...«, schmatzte May und winkte ärgerlich mit dem Löffel. Sie blickte skeptisch zu ihr hinüber. Tuh hatte ihren Scheitel hinter das mit Nieten verzierte Ohr bugsiert. Ihr Kopf, der auf einer Seite kahl geschoren war, und dort von Tätowierungen bemustert wurde, glänzte wie eine Kugel am Weihnachtsbaum. Aus dem Spalt ihrer Brüste fischte Tuh jetzt ein Feuerzeug und ratschte wie besessen an dem Zündstein. Manchmal schnappte vor ihrer spitzen Nase eine viel zu hohe Flamme empor und Tuh starrte lange hinein. Sie führte die Flamme bis an die Spitze ihrer Haare, die manchmal zu knistern begannen. Ihre Haare rochen immer komisch, und May fürchtete, dass Tuh sich irgendwann den ganzen Kopf in Brand setzen würde. Heute roch es nach Banane. Oder besser: nach verbrannter Banane.

Eigentlich besaß Tuhs Anblick bereits einen gewissen Unterhaltungswert, fand May. Genau das Richtige gegen Stress. Bis über beide Schultern kroch über Tuhs Haut ein tätowiertes Geflecht aus Totenköpfen, dornigen Rosen und wirbelndem Stacheldraht. Andere Leute lasen Zeitung, May guckte sich Tuh an. Immer was Neues.

»Und du hast den Kerl einfach liegen gelassen?« bohrte Tuh mit höher dosierter Zitrone in der Stimme nach.

»Ja nun«, schmatzte May, »was hätte ich machen sollen? Ich hatte es eilig und für Ausländerbekämpfung bin ich nicht zuständig.« Sie sah, dass Tuh heute Plastikelefanten als Ohrringe trug. May wusste nicht, ob sie über den modischen Einfall lachen sollte - oder über die Frage nachdenken, warum die Suppe nach Schuhcreme schmeckte.

»Ja, aber«, näselte Tuh, »du kannst doch nicht erst einen Typen auf der Straße niederschlagen, und ihn dann einfach liegen lassen?«

»Warum nicht?« May blickte wie ein Klempner, der eine Schraubmuffe über den Anschlag drehte.

»Also«, erwiderte Tuh und kratzte sich am Elefanten, »als ich so was das letzte Mal gemacht hab', kamen die Bullen und haben mir erzählt, das wäre irgendwie verboten.«

May sagte nichts und schaufelte schneller, um den rostigen Geschmack durch Anstrengung zu relativieren.

»Aber du hast den Typen doch gar nicht umgehauen, wenn ich das richtig verstanden habe«, nörgelte Tuh.

»Erzähl das mal den Bullen.«

»Bullen ... Ich dachte, du bist selber einer. Oder eine Bullin.«

»Eben. Ich bin vom Fach. Ich kenne Bullen. Außerdem bin ich kein Bulle, sondern eine moderne Oberkuh. Und mein Büro ist meine Weide.«

»Mannomann, bin ich froh, einen ordentlichen Beruf zu haben.«

»Richtig«, gratulierte May, »selbstständiger Kaufmann - das ist solide.« May sah, wie Tuh ihr Kaugummi zu einem Faden verarbeitet hatte und ihn jetzt als fröhliches Flechtwerk um den ausgestreckten Mittelfinger wickelte. May wollte sich von dem Anblick nicht den Appetit verderben lassen und baggerte konzentriert weiter. Als sie den Boden des Tellers freigelegt hatte, spürte sie sogar eine Art von Erleichterung, die man beinahe mit dem Gefühl von Sättigung hätte verwechseln können.

»Hat's gemundet?« fragte Tuh.

»Top!« May würgte und streckte einen Daumen in die Höhe, als hätte sie gerade einen Kampfjet auf einem Flugzeugträger bei Orkan gelandet. Dann griff sie nach hinten und packte in traumwandlerischer Routine einen Schoko-Riegel.

»Und der Typ ist dann einfach liegen geblieben?« fragte Tuh, ohne ihr klebriges Kunstwerk aus dem Schielblick zu lassen.

»Nee, halt dich fest, es kommt noch besser.« May knüllte die Folie des Schoko-Riegels zu einem Ball, ging zum Ausgang und spitzelte durch den Türspalt. Als eine Gruppe Jugendlicher am Fenster vorbei schlenderte, warf sie das Papier hinaus. Es traf den Größten der Gruppe am Ohr. May schlug schnell die Tür zu und schob den Riegel davor. Mittagspausen, fand sie, wurden erst durch kleinere Gesetzesübertretungen richtig schön.

»Von der anderen Straßenseite aus«, sagte sie, »habe ich gesehen, wie der Kerl sich wieder aufgerappelt hat.«

»Na, dann ist ja gut. Hat er sich wenigstens schnell verpisst, bevor er noch anhänglich wird? Manchmal sind solche Typen ja ziemlich streichelbedürftig.«

»Ja, das ist es ja«, kaute May die Worte hervor, »der Kerl muss total verpeilt gewesen sein. Wie er es in die Stadt hinein geschafft hat, ist mir schleierhaft. Man durchbricht doch nicht alle Barrieren, robbt womöglich durch die Rohre der Abgasanlagen, um sich anschließend einfach ein wenig die Beine zu vertreten.«

»Meinst du, der wollte was anstellen? Mensch May, hör mal, vielleicht wollte der etwas in die Luft jagen! Und du rettest den auch noch! Hättest ihn ruhig vom Bus überrollen lassen - und du hättest bestimmt noch die Ehrennadel bekommen. Kujai gratuliert Maria Birgit Calla, Sicherheitshauptobermeisterin des Sektors für Beamtenrecht und Ausländerbekämpfung.« Tuh hatte sich derart in Fahrt geredet, dass die Elefanten klapperten.

May beobachtete die Ohrringe. Wäre Lou jetzt hier, würde er bestimmt auf Elefantenjagd gehen. Sie griff noch einen Eisbecher. Honig-Creme. Mmmm! »Ach was«, schmatzte sie, »der Kerl hatte offenbar gar keinen Plan, wo es lang geht. Wer nicht einmal weiß, was ein Bus ist, der kann auch keine Bombe bauen.«

Tuh rollte die Augen. »Ja, so sind sie, die Typen von heute. Niedlich, aber doof. Träumer und Laschies. Schlimm.«

May gab sich keine Mühe, die letzten Reste von Pilzcreme vom Löffel zu lecken, sondern bohrte mit der Hartnäckigkeit eines Bergarbeiters in dem Eisklumpen. »Quatsch«, sagte sie, »der war harmlos. Aber interessant.« Sie meißelte ein großes Stück heraus und schnappte danach. Süßes Gold!

»Die richtig bösen Buben sind sowieso Mangelware«, schimpfte Tuh. May kannte dieses Lamento bereits zur Genüge. Die geringe Auswahl an für sie geeigneten Partnern stellte neben Kinderfilmen und Auto-Quartetten Tuhs drittes Lieblingsthema dar. Ärgerlich setzte Tuh nach: »Und du rettest sogar noch einen von den Softies. Nachher vermehren die sich sogar - und du hilfst dabei auch noch.«

»Warte mal ab«, sagte May, »die Geschichte wird noch besser. Was glaubst du, was der Kerl dann gemacht hat?«

»Weiss nicht. Hat er dir einen Hunderter geboten?«

»Ach, nun hör aber auf«, schmatzte May. »Der war schon okay.«

»Hört, hört. War der wirklich so niedlich?«

»Na ja ... Also Platz auf dem Sofa hätte ich jetzt ja schon, wo Lou weg ist.«

»Lou? War das der Sack aus der Rechtsabteilung?«

»Nee, mein Kater.«

»Ach so, sagtest du ja. Der war ja genauso fett, wie ein richtiger Typ. Ja nun, dann würde das ja gut passen: Kater weg, Vollidiot da. Sofadelle gefüllt. War der verträumte Fremde denn genauso niedlich, wie dein mausiges Schnuffeltier?«

»Hm, ich weiß nicht. Irgendwie hatte er etwas Interessantes.«

»Hey, hey, hey! Glückwunsch. Ein geistig behinderter Terrorist, gut angebraten durch die Abgase der Müllverbrennungsanlage - welche Frau kommt da nicht ins Träumen?«

May war froh, mit ihrem Eis genug zu tun zu haben, sodass sie nichts erwidern musste. Spontanität sollte reiflich überlegt sein. May setzte ihre Handwerkermiene auf und meißelte.

»Na komm schon«, bohrte Tuh nach, »Frau Polizeiobermeisterin, erzählen sie mir mehr über die Schmetterlinge in ihrem Bauch.«

»Meisterin. Noch bin ich Meisterin.«

»Aha. Na ja, das ist ja wohl nur noch eine Frage von Tagen, bis die Beförderung kommt, bei solchen Leistungen: Unschuldigen Passanten zu Boden geschlagen. Weitergelatscht. Keinen Bericht geschrieben, stattdessen Eis-Essen gegangen. Besser geht's gar nicht.«

May hatte einen katerkopfgroßen Eisklumpen aus dem Becher geholt und hievte die Kugel in Richtung ihrer magnetischen Lippen. Sie glaubte nämlich fest daran, dass sie eine Anziehungskraft zwischen ihrem Mund und jeder Art von Süßigkeit aufbauen konnte - wenn sie sich nur stark genug konzentrierte.

»Ja ja, faul und verfressen«, setzte Tuh ihre Live-Berichterstattung fort, »so lieben wir unsere Oberschicht von Kujai! Maul aufreißen, wenn es ums Futtern geht. Bis zum Feierabend kann man so den Arbeitstag mit jener ungeilen Action füllen, die andere Leute Arbeit nennen würden.«

»Also, der Kerl war schon in Ordnung«, schmatzte May. Auf Beamtenbeleidigung sollte man immer sachlich reagieren, hatte sie gelernt. Oder abwiegeln. »Also, der Kerl hatte irgendwie, na ja, etwas Besonderes.«

»Ui! Der Trottel vom Bus hatte also etwas Besonderes. Wie aufregend. Habt ihr schon ein Date? Wollt ihr euch mal gemütlich zu zweit vor den Bus werfen?«

»Ach hör doch auf. Ich meine, stell dir das doch einmal vor: Der ist ganz alleine aufgebrochen und hat sein Leben riskiert. Einfach nur so, um spazieren zu gehen. Was mich aber wirklich umgehauen hat«, fuhr May unbeirrt fort, »war, wie er dann weitergegangen ist.«

»Ach? Gehen konnte dein romantischer Tollpatsch dann doch?«

»Ja, und, halt dich fest: Er ist direkt in den Tempel marschiert.«

»Uhhh«, brummte Tuh in besorgter Oktave. »Na, da hat er sich ja die Königskrone im Reich der Vollidioten reserviert.«

»Mmm, könnte man so sagen.« May kratzte die Eispackung aus. Sie wandte dafür eine spezielle Technik an, bei der man den Löffel so schräg wie möglich hielt und die Reste vom Eis erst von der Seitenwand nach unten trieb, wo man dann am Ende alles mit einer tückischen Harke in die Enge kehrte und in einem Rutsch zusammenfegte. Sie nannte das: Kesseltreiben in der Honighölle.

May war, was selten vorkam, endlich satt und beschloss, diesen vermurksten Tag fürs Erste zu vergessen. Zumindest ihre magnetischen Kräfte funktionierten wieder.

MAY BEE

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