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3. Reden ist Silber
ОглавлениеÜber ein halbes Jahr verging voller Routine-Fälle, die May eifrig vom Schreibtisch aus bearbeitete. Drogendelikte, Körperverletzungen, Diebstähle, Einbrüche. Hirnrissige Streitereien voller Wenn und Aber. May sichtete die Protokolle, schrieb Dienstpläne und schleppte Akten zur Staatsanwaltschaft. Büroarbeit von der bienenfleißigen Sorte. In ihrem Herzen aber hatte sie den Verlust von Lou noch längst nicht verschmerzt. Ihr Sofa blieb weiterhin unbesetzt - und dass ein neuer Platzhalter in menschlicher Gestalt die Lücke eines Tages würde ausfüllen könnte, daran glaubte sie schon lange nicht mehr. Einzig die Vorbereitung für ihre Prüfung zur Kommissarin lenkte sie ein wenig von der leeren Sofadelle, dem Futternapf und der unbenutzt daliegenden Fellbürste ab. Und auch den Fremden hätte sie längst vergessen, wäre sein Bild nicht eines Tages wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Es geschah auf der Elf-Uhr-Konferenz.
May saß eingezwängt zwischen Tim Vogler, einem jungen Kollegen, den sie seit der Schule kannte, und Frau Zmich, der gefürchteten Vorzimmerspinne aus der Recherche. May blinzelte durch den verdunkelten Konferenzraum. Zwischen den projizierten Lichtbalken dozierte Generalreferent Milton, ein hagerer Riese mit der Ausstrahlung eines müden Geiers. Er deutete auf Fahndungsfotos und Luftbilder, brummte Aktenzeichen und streute seine üblichen, schlüpfrigen Scherzbemerkungen ein, über die nur er selbst schmunzeln konnte. Immer wieder blickte er heimlich auf die Armbanduhr. Die Bilder zeigten aus verschiedenen Perspektiven das Umland von Kujai.
Aus jeder Ecke kroch ein Gähnen durch den Raum. Es roch nach verbranntem Kaffee, Lustlosigkeit und dem Aftershave von Gert Schmit, der vor May saß und ein sorgsames Technokraten-Schweigen schwieg. May wurde bereits von seiner Anwesenheit übel, und sie war sich nicht sicher, ob dies einzig an dem Geruch von Mandarinen in Kernseife lag.
Der Fall, den Milton referierte, war in die Kategorie »P« eingestuft worden. »P«, wie politisch brisant. Eine Mischform, die einerseits hohe Relevanz, andererseits einen gewissen Klärungsbedarf anzeigte. Für die Ressorts der Reviere bedeuteten diese Fälle zunächst einzig: zur Kenntnisnahme.
Und selbst die war schwer zu leisten. Den jüngeren Kollegen wie Kettler, Lowski und Vogler - zu denen auch May zählte - gelang es noch am besten, halbwegs interessierte Effekte auf ihre Gesichter zu zaubern. Hier lag der darstellerische Ehrgeiz sichtbar höher, als bei den Älteren, wie Frau Zmich und Projektkoordinator Ochsfort. Zmich prüfte den Schliff ihrer Fingernägel, während Ochsfort in einem Fachmagazin für Uhren blätterte.
Das Gesicht des Trottels tauchte völlig überraschend für May auf der Leinwand auf. Sie erkannte ihn sofort; sein sanfter Blick, der hilflose Ausdruck ... Die Güte eines kleinen Bären. Er war einer der Verdächtigen, die mit dem Verschwinden des Großkonsuls Frederick Bolaire in Verbindung gebracht wurden.
Milton bellte: »Bolaire ist tot. Wir wissen nicht, was genau mit ihm passiert ist, aber wir benötigen endlich ein ordentliches Staatsbegräbnis. Alle warten auf die normative Kraft des Faktischen.«
Prompt zischte die Stimme von Schmit durchs Aftershave: »Und wenn der Konsul noch lebt?«
»Ausgeschlossen«, schnaufte Milton mit der Selbstsicherheit einer Planierwalze. »Niemand vermisst Bolaire. Denn wenn er noch lebt - dann heißt das? Nun, hat jemand von ihnen eine Antwort parat?«
Der Schatten, der zu Miltons Stimme gehörte, schob sich zwischen die Linien aus Licht. Wie ein Magier in einem Varieté sah er aus, dachte May, und stellte sich vor, wie er einen Zauberhut aufsetzen und jemanden hypnotisieren würde.
»Dann heißt das nichts Gutes«, kam es aus dem Raum. Der nächste Schleimer war erfolgreich aktiviert worden.
»Richtig«, jubelte Milton, dem auch ohne Zauberhut eine ordentliche Show gelang. »Und warum verheißt das nichts Gutes?«
»Nur wer lebt, kann noch mal wiederkehren.«
»Bingo!« japste Milton. »So sieht es nämlich aus: Der größte Konsul aller Zeiten könnte zurückkehren. Agil und geschäftstüchtig, wie am jüngsten Tag.«
Jetzt regte sich eine Unruhe im Saal, die in Empörung umschlug, bis sie von Miltons Stimme wieder gedämpft wurde: »Dann wäre es Essig mit den kleinen Annehmlichkeiten der Marktwirtschaft, von denen«, er senkte die Stimme, »auch einige der Anwesenden gelegentlich profitieren. Also, ich weiß nicht, ob alle hier im Kollegium mit der Weitergabe von Materialfunden an den Herrn Konsul persönlich einverstanden wären.«
Langes Schweigen. Irgendwo schrumpfte ein Kichern zu einem belustigten Hüsteln. May atmete durch den Mund.
»Falls es noch nicht alle mitbekommen haben: Unser werter Frederick Bolaire ist vor vier Monaten von einem kleinen Jagdausflug nicht mehr zurückgekehrt. Irgendwo in der Gegend um Matruk ist er verschwunden. Ziemlich dünn besiedeltes Gelände.« Er zeigte auf die Einblendung einer Landkarte: Blasse Flächen, in deren Mitte ein Fleck wie eine Narbe lag. »Das einzige größere Gebäude ist das Anwesen einer gewissen Baronin Tanabe.« Er senkte die Stimme. »Vielleicht hat sie unseren Großkontrolleur zum Fressen gerne gehabt?«
Aus dem Kichern erhob sich wieder Schmits Stimme: »Aber, was sind denn die Fakten? Großkonsul Frederick Bolaire, Vorsitzender des Staatsrates für Auswärtiges, Schutzpatron der kujanischen Polizei, besucht ein Landwesen, von dem wir wissen, dass es 75 Kilometer nordwestlich der Stadt liegt, und das von ihm zu Jagdzwecken besucht wurde. Korrekt?«
»Korrekt.«
»Was sagt sein Büro zu der Sache?«
»Nichts. Private Termine werden nicht protokolliert.«
»Private Termine, sieh an. Und was wissen wir über diese Baronin? Steht sie in Verbindung mit regierungsfeindlichen Gruppen?«
»Genau das lässt sich kaum sagen. Wir haben Hinweise, dass sie sich mit Leuten umgibt, die zum Clan von Sandra Castiglione zählen. Alles deutet auf eine friedliche Koexistenz der Damen hin.«
»Was uns ja alles herzlich egal sein könnte, da die ganze Sache sowieso nicht zu unserem Distrikt gehört«, sagte Schmit. »Es stand bisher keinem Kujaner gut zu Gesicht, sich in die Angelegenheiten dieser Dame einzumischen. Die einen liefern ihr Koks, die anderen Nutten. Die Dritten holen die Schläger von der Straße und lassen sie im Tempel als Gladiatoren kämpfen.«
May dachte bei diesen Worten daran, wie der Fremde in Richtung des Tempels getorkelt war. Der Ärmste, dachte sie, da war er mitten hineinspaziert ins Zentrum der hiesigen Unterwelt.
»All das geht uns nichts an«, fuhr Schmit fort, »solange alles friedlich bleibt. Bolaire hat sich selbst eine goldene Nase verdient, bei seinen Geschäften mit der Castiglione. Es besteht kein Anlass, das Bienennest aufzuscheuchen.«
»Tja«, seufzte Milton, »wenn die Sache so einfach wäre. Wir haben Hinweise, dass sich illegale Einwanderer in der Gruppe um Frau Tanabe aufhalten.«
Sieben Gesichtern erschien auf der Leinwand. May sah, dass der Kleinbär eingerahmt wurde durch Bilder von sechs Frauen. Jetzt wollte May es doch genauer wissen. Sie holte Luft.
»Wissen Sie, Milton«, sagte May, »Entschuldigung, wenn ich mal rein frage, wissen Sie, wer dieser Mann ist?«
Milton drehte sich zu ihr. »Tja, Frau Calla, auch da fischen wir im Trüben. Der hier«, er zeigte auf den Mann, »ist vermutlich ein ehemaliger Soldat aus dem Feldzug in Neu-Sibirien.«
»Ein Killer?« fragte May.
»Tja, da müssten Sie vielleicht die Polizei von Kujai fragen.« Gelächter umkreiste May. »Eigentlich müssten wir eine Hundertschaft hinschicken und das gesamte Gelände umgraben.«
Jetzt ergriff wieder Schmit das Wort: »Kommen Sie Milton, wir schnüffeln doch nicht ohne konkreten Auftrag drauflos.«
»Also, ich verstehe das Problem nicht«, protestierte May. »Wir sind die Polizei von Kujai. Es geht um nichts weniger als das Verschwinden des Ministers für auswärtige Angelegenheiten.« Sie dachte nicht lange nach, als sie dies sprach. Es erschien ihr eine Selbstverständlichkeit zu sein, so, wie man einen Löffel in einen Eisbecher schob. Ein Reflex. Normal. »Es wird der Polizei von Kujai ja wohl gestattet sein, sich nach dem Verbleiben ihres Außenministers zu erkundigen. Warum muss da überhaupt diskutiert werden?«
Ihre Worte verflossen im Raum. Es wurde sonderbar still. Milton kratzte sich am Ohr, Schmit drehte sich zur Seite und betrachtete die Wand. Ochsfort notierte Zahlen in sein Heft. Kettler, ein dürrer Kollege aus der Abteilung D, blickte zu May und zog die Augenbrauen wie unter elektrischem Einfluss in die Höhe.
Gott, wieso sagte denn niemand etwas, dachte May. War dies eine Konferenz - oder eine Beerdigung? Gut, wenn die Herren derart maulfaul waren, dann könnte May gerne noch eine Frage nachschieben. Alte Regel der Kommunikationslehre: Wer fragt, der führt. Also sagte sie: »Was, meine Herren, hindert uns, dort rauszufahren und dieser Baronin ein paar Fragen zu stellen?«
Von draußen hörte man das Geräusch eines Flugzeuges im Landeanflug. Miltons Geierkopf duckte sich ein wenig zwischen seinen Schultern. »Gegenfrage, Frau Calla, wo Sie hier schon mit solchen rhetorischen Fragen operieren: Sind wir hier beim Quiz?«
»Quiz? Äh, nein, wieso Quiz? Ich wollte doch nur sagen, dass -«
»Sie ziemlich blauäugig an die Sache herangehen.«
Gelächter.
»Das hat doch nichts mit blauäugig zu tun.«
»Unterbrechen Sie mich nicht, Frau Kollegin«, fuhr Milton dazwischen, »ich verstehe ihre Unzufriedenheit, aber Sie sollten respektieren, dass wir hier einen kollegialen Umgangston pflegen. Und ich möchte auch die Jüngeren im Raum bitten, sich dem anzuschließen. Frau Calla, haben wir uns da verstanden?«
May nickte und spürte, wie ihr das Blut in den Wangen tanzte. Was wollte Milton nun eigentlich sagen? Wenn er Schiss hatte, auf dieses Schloss hinauszufahren, sollte er es doch einfach sagen. Innerlich biss sie sich auf die Zunge. Hätte sie bloß die Klappe gehalten. Worüber wollte der Mann sich eigentlich streiten? Er war der Leiter der Hauptaufklärung, es war allein seine Entscheidung. Mehr als Engagement zeigen, wie May es getan hatte, konnte er sich von seinen Leuten doch nicht wünschen. May hatte Bereitschaft gezeigt - im Gegensatz zum Rest des Kegelvereins. Nun war er dran.
Milton sagte: »Nun, Frau Calla, nun sind Sie dran.«
May zog verdutzt die Augen rund. »Ich?«
»Genau, Sie. Sie müssten sich jetzt entscheiden, was Sie eigentlich wollen. Möchten Sie denn diesen Fall übernehmen?«
May saß etwas ratlos da. Möchten, möchten ... Sind wir jetzt bei Wünsch-Dir-Was, fragte sie sich. Sie hatte doch nur Engagement zeigen wollen. Und, na ja, vielleicht war auch ein wenig Neugierde dabei, etwas über den Kerl zu erfahren, den sie damals gerettet hatte.
May schüttelte leichthin die Schultern, als hätte man sie gefragt, ob sie in der Lage wäre, einen Schoko-Riegel zu essen. Ja, natürlich, selbstverständlich. Sie war demnächst Polizeihauptmeisterin, sie war gesund, hatte keine weiteren Verpflichtungen. Zuhause konnte die Fellbürste auch alleine rumliegen. Warum sollte sie ihre Arbeit nicht tun? Gott, wie lächerlich. Sie blickte zur Decke. Jetzt musste sie sich auch noch dafür grillen lassen, dass sie den Willen gezeigt hatte, während ihrer Arbeitszeit zu arbeiten.
»Und?«
»Ja, natürlich.« May zuckte mit den Schultern.
»Was? Natürlich? Calla, Sie könnten ruhig einmal ihre Kommunikation den Regeln der allgemeinen Verständlichkeit anpassen. Dass würde ihrem hübschen Gesicht nämlich auch gutstehen.«
Was war dieser Milton für ein Arsch, dachte May und sagte: »Selbstverständlich würde ich eine solche Untersuchung leiten.«
Die Übrigen sahen sie stumm und backig an. Frau Zmich tat so, als würde sie innerlich ein endloses Für und Wider abwägen und ließ den Kopf erst zwei Millimeter nach links, dann drei nach rechts pendeln. Ochsfort polierte seinen Taschenrechner. Vogler rieb sich den Bart. Kettler steckte die Hände in die Hosentaschen und rutschte mit seinem Körper in eine diagonal liegende Position. Wäre ein Fahrtwind aus Richtung seiner Füße aufgezogen, dann besäße er nun optimalen Luftwiderstand. Schmit überprüfte den Würgegriff seiner Krawatte. Meine Güte, dachte May, die Lahmärsche würden hier so lange sitzen, bis sämtliche Verbrecher Kujais sich persönlich an der Pforte melden und um ihre Verhaftung bitten würden.
»Also gut, wenn Sie derart darauf drängen«, brummte Milton, »würde ich vorschlagen, wir machen Nägel mit Köpfen. Meine Herrschaften, ich denke, Sie sind einverstanden, wenn wir Kollegin Calla mit dem Fall betreuen. Wie haben Sie sich denn die Zusammenstellung ihres Teams vorgestellt, Frau Kollegin? Wir erwarten unverzüglich eine Aufstellung der Mitglieder ihres Einsatzkommandos.«
May blickte verblüfft um sich. War das jetzt eine Beförderung? Dafür ging alles ziemlich schnell.
»Wertes Kollegium, mit Blick auf die Uhr schließe ich die Sitzung und erwarte ihre Ergebnisse zum nächsten Dienstag.«
Stühle rückten ab. Weg frei für die Mittagspause.
May ging unschlüssig hinter den anderen her. Die ganze Sache war sonderbar schnell gelaufen, und sie wusste nicht, ob sie sich mit Kettler oder Vogler noch weiter darüber besprechen sollte. Dass es sich um ein schwieriges und bei den meisten Kommissaren unbeliebtes Projekt handelte, wusste sie. Eigentlich wollte sie nur an einer Art Kontroverse teilnehmen. Sich einbringen. Zumindest das Ausmaß des Einsatzes, die personelle und finanzielle Ausstattung und vor allem der zeitliche Rahmen hätte doch viel präziser definiert werden müssen. Sollte sie für einen Nachmittag da hinausfahren, oder eine wochenlange Observation organisieren? Auf welche Ressorts konnte sie für die Recherche zugreifen? Die privaten Aktivitäten des Konsuls waren ein höchst sensibler Bereich; seine Verbindungen zur Halbwelt offensichtlich. So ein Wahnsinn, dachte May, dort blind drauflos zu ermitteln.
Sie trat von hinten in die Ferse von Schmit.
»Oh, Entschuldigung, das wollte ich nicht ... Schmit, Pardon.«
»Schon gut, schon gut.« Schmit dreht sich um und sah sie aus problematischen Augen an. »Na, Sie haben es ja ganz schön eilig.«
Das stimmte. May wollte zügig in ihr Büro kommen und ein Gespräch mit Schmit war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Sie hielt Schmit für einen Schleimer der üblen Sorte. May sah ihn verlegen an. Seine Wangen pickelten voller Nikotin-Akne. Die Haare hingen ihm in dünnen Linien herab. Sie wich seinem Blick aus.
»Ich kann gut verstehen«, zischte Schmit, ohne die Lippen zu bewegen, »dass Sie ein wenig aufgeregt sind. Kurz vor der Beförderung noch mit einem solchen Projekt betreut zu werden, ist nicht ungefährlich. Der Konsul, der Konsul. Ein dicker Fisch.« Schmit beherrschte die Kunst, die Worte aus gemeißelten Lippen herauszupfeifen. Er blickte zu May, wie ein Arzt bei schlimmer Diagnose.
»Ja, das finde ich auch«, nickte May. »Wenn man nur mehr wüsste, über die Gegend dort draußen.«
»Tja, aber das werden Sie ja alles demnächst selbst in Augenschein nehmen. Frau Baronin scheint dort ein Sanatorium für müde gewordene Drogenkuriere zu betreiben. Vielleicht verfüttert sie ihre letzten Pillen an die Piepmätze?«
Endlich wurde es stiller um sie und May konnte ihre Gedanken sortieren. »Aber gut, dass ich Sie noch auf ein Wort treffe, Herr Kollege. Was ich nicht verstanden habe, ist die Sache mit dem Team.«
»Was gibt es denn daran, nicht zu verstehen?«
»Nun, Team ... Kann ich mir da irgendwen aussuchen?«
Schmit blieb stehen. »Irgendwen aussuchen?« Er wiederholte die Worte, als habe May vorgeschlagen, mit ihrer Oma auf Ermittlung zu gehen. »Gute Güte, Frau Kollegin.« Schmit schien völlig konsterniert. Er beugte sich dichter zu ihr, als fürchte er, jemand könne seinen Worten lauschen. »Haben Sie denn noch nie ein größeres Team für einen Einsatz zusammengestellt?«
»Doch, doch, aber das waren meistens Leute aus der Recherche. Und einer, der den Wagen gefahren hat.«
Schmit stellte seine Tasche zu Boden und sah May aus investigativen Augen an. »Aber Frau Kollegin, Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie noch nie von den Vorschriften zur Besetzung einer C3-Klassifikation gehört haben?«
»C3?«
»C3. Das hier ist ein ganz klarer Fall für eine C3-Klassifikation. Da braucht man doch gar nicht weiter drüber nachzudenken. Wir sind in solchen Fällen mehr als gut beraten, uns exakt an die Vorgaben zu halten. Calla, selbstverständlich beginnen Sie mit einem C3-Team, und wenn die Bedingungen für eine Vergrößerung gegeben sind - und erst dann«, er zog die Stimme empor, wie ein Kampfjet nach erfolgreichem Bombardement, »erst dann können wir über eine Ausweitung des personellen Rahmens überhaupt erst anfangen nachzudenken.«
May nickte. »Ja ja, selbstverständlich ...«
Schmit fing ihren absinkenden Blick auf und zog ihn mit forschendem Sog wieder nach oben. »Sie wissen doch, was die Klassifikation für einen C3-Einsatz vorschreibt?«
May nickte. Verdammt, nein, sie wusste es nicht.
»Ja, selbstverständlich, weiß ich das«, log sie.
Schmit sah sie prüfend an.
»Es ist nur eben«, stammelte May, »schon eine Zeit her, dass es auf der Akademie durchgenommen wurde.«
Schmit drehte den Kopf in einer taumelnden Bewegung zur Seite. Das hatte ihm offenbar gerade noch gefehlt: eine leitende Kommissarin, die nicht einmal die Fachbegriffe kannte. »Ich soll es ihnen erklären? Das ist ja wohl nicht ihr Ernst?«
»Ich wollte sowieso gleich in den Unterlagen nachsehen.«
Schmits Oberkörper begann, in einem unterdrückten Lachen zu wippen. »Hach, ihr jungen Leute macht mir Spaß. Gut, dass Sie nicht zur Fahrerin befördert wurden, sonst käme die Truppe nicht mal beim Rückwärts-Ausparken vom Hof.«
May verfluchte sich, dass sie überhaupt etwas auf der Konferenz gesagt hatte. War sie es, die diesen Konsul retten wollte? War sie die barmherzige Samariterin für diesen Paten der Polizei, der sich bei einem Ausflug von seinen Kokshändlern hatte umlegen lassen? Stand auf ihrer Stirn der Hinweis geschrieben Ein Herz für Trottel? Und wieso war sie nicht längst in ihrem Büro wie die anderen? Die würden jetzt an ihren Bildschirmschonern neue Muster einstellen und sich die Kringel so lange angucken, bis der Feierabend kam. Dann würden sie auf dem Heimweg die Funde des Tages an ihre Dealer verscheuern und alles hätte seine Ordnung. Nur May, blöde, wie sie war, hatte ihre Klappe nicht halten können. Und das hatte sie nun davon:
C3.
»Also Schmit, nun machen Sie es mal nicht schwieriger«, knurrte May, »als es eh schon ist. C3, ja klar, das ist ein Haufen von Bullen, von denen einer den Oberbullen macht und die anderen Flankierschutz geben. Meine Güte, nun tun Sie mal nicht so, als wenn man dafür in Cambridge studiert haben müsste.« Sie blies eine Haarsträhne vom Mund. So. Endlich mal Klartext.
Schmits Augen wurden klein und detailverliebt. Flapsigkeiten dieser Art waren nicht sein Ding. Er arbeitete ja auch nicht auf der Straße und Kundenkontakt hatte auf ihn nicht abgefärbt. Also sagte er wie ein englischer Lord, den man in der Teepause gestört hatte: »Ein C3-Kommando, ich sage es ihnen gerne, ein C3-Kommando besteht, wie der Name bereits sagt, aus zehn Mann. Meinetwegen auch aus zehn Damen.«
»Zehn?«
»Zehn. Soll ich ihnen das auch noch erklären?«
May schwieg. Sie wusste, dass es sinnlos war, mit Schmit darüber zu debattieren, was man hier unter Logik verstand.
»Die Vorschrift sieht zusätzlich zum leitenden Kommissar zehn Einsatzkräfte vor, von denen drei offen und sieben verdeckt arbeiten. Offen in Erscheinung treten der persönliche Assistent des OKLs, dazu ein Videotechniker mit integrierter Kamera, ebenso ein Audiotechniker, für akustische Dokumentation. Diese Drei bilden den sichtbaren Teil und sollten mit Manieren und wachem Hirn in das Sozialgefüge der Zielpersonen eingeführt werden. Sie können folgen?« Er hielt drei Finger in die Luft. May musste an Tuh denken, die in einer solchen Situation so lange herumgezaubert hätte, bis am Ende die Zahl Eins im Mittelpunkt gestanden hätte - und ihr ausgestreckter Mittelfinger übrig geblieben wäre. Aber Schmit war nicht Tuh. Er betrieb die Zahlzauberei mit schlauem Ernst: »Dazu kommen zwei Kräfte aus der Nahkampfabteilung, dazu zwei Mann aus der Kommunikation, auch Dolmetscher genannt. Falls Sie sich mit chinesischen Messerstechern unterhalten möchten.«
May nickte. Endlich nahm das Projekt anschauliche Züge an.
»Dann brauchen Sie noch einen Fahrer, Transport Mannschaftswagen und einen von der Sprengstoff-Erkennung. Die schönsten Razzien wurden schon vor Beginn beendet, weil beim Eintreten des Kommissars das ganze Bienennest in die Luft geflogen ist. Aber so etwas kennen Sie ja aus der Schulung.« Schmit machte eine aristokratische Pause. »Theorie beherrschen Sie ja ziemlich gut, wie ich höre. Theorie und Gymnastik.«
Mays Mund klappte auf. Sie wusste, worauf er anspielte: Darauf, dass May beim Polizeisport mehrmals in der Disziplin Kata teilgenommen hatte. Letzte Woche hatte sie sogar eine Silbermedaille gewonnen. Idioten wie Schmit nannten das Gymnastik - dabei trug Kata, eine Jahrtausende alte Bewegungsabfolge, den Geist des Karates viel klarer in sich als Kumite, dem eigentlichen Wettkampf gegen einen Gegner. Kata war genauso Karate wie Kumite - nur übte man alleine. Was für ein Arsch war Schmit, dass er versuchte, sich gerade darüber lustig zu machen?
May besah sich die Fläche an der Wand. Gymnastik, so so. »Und diese ganzen Leute, die darf ich mir alle selbst aussuchen?«
»Wer sonst? Immerhin sind Sie am Ende ja auch diejenige, die den Angehörigen bei der Beerdigung erklären muss, warum die Sache so glorios in die Hose gegangen ist.«
May nickte. »Danke, Schmit, jetzt wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein. Klar, C3, so war das.«
»So war das.«
Er hob seine Tasche, nickte und verschwand.
May schluckte. Bis Dienstag, zehn Mann, für eine Kamikaze-Aktion, die niemand wollte. Toll.
Sie starrte die blassgrünen Gänge entlang und blies den Atem aus. Was wohl der kleine, dicke Lou jetzt trieb?