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30. August 1978 - Madrid, Spanien

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Es war früh für seine Begriffe. Er saß auf der Terrasse des Gin Room beim Frühstück. Auf der Calle Academia war noch wenig Verkehr. Einige Busse mit Touristen waren auf dem Weg zum nahen Parque del Retiro. Einige Nachzügler, die zu spät zur Arbeit fuhren. Er, das war Benjamin Karst, genannt Ben, der Sohn des erfolgreichen Verlegers Albert Karst. Bekleidet mit einer grauen Bundfaltenhose und einem weisen Poloshirt von Hugo Boss, seine Ray Ban Sonnenbrille auf die hellblonden Haare geschoben und trotz einem kleinen Bauchansatz mit guter Figur zog er so manchen Blick einer feurigen Schönheit auf sich. Auch der Breitling Chronograph und die goldene Ankerkette um seinen Hals wiesen darauf hin, dass es ihm nicht an Mitteln mangelte. Die feingliedrigen Hände waren die eines Denkers, nicht die eines Mannes, der in seinem Leben hart gearbeitet hatte.

Sein Vater hatte mit eisernem Regiment und nicht immer ganz fairen Mitteln ein Imperium von Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen aufgebaut über das er patriarchalisch herrschte. Mit demselben Regiment und denselben Mitteln herrschte er über seine Familie. Seine Frau, Margarethe, hatte es längst aufgegeben ihrem Mann humane Formen im Umgang mit Menschen zu predigen. Menschen waren für Karst nichts weiter als Ressourcen in seinem großen Monopoly Spiel.

Seine älteste Tochter, Bens große Schwester, warf in jungen Jahren den Rettungsanker in Form einer schnellen Heirat aus, und Ben war nicht sicher, ob sie es damit besser getroffen hatte. Sie ehelichte einen Rechtsanwalt aus Tübingen, weit weg vom heimatlichen Hamburg, und bekam in schneller Folge zwei Kinder. Sie tauschte ein mögliches Luxusleben mit hohen väterlichen Erwartungen gegen ein wohlgestelltes, wenn auch spießiges Bürgerleben als Anwaltsgattin ein. Über die vielen spätabendlichen Termine ihres Mannes sah sie hinweg, auch wenn sie wusste, dass seine überaus hübsche Assistentin sich aufopfernd um die Belange der Kanzlei kümmerte.

Sie hatte sich mit dem Schicksal arrangiert und engagierte sich bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und in der Kirche. Ansonsten tat sie dasselbe wie Ben; sie betrank sich von Zeit zu Zeit.

Bei dem Gedanken an den Alkoholismus seiner Schwester konnte er nicht anders als an letzte Nacht zu denken. Auch bei ihm war es mal wieder so weit gewesen. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde bis sich die bohrenden Kopfschmerzen einstellten, die er immer bekam wenn er langsam nüchtern wurde. Er hatte viel zu viel getrunken, viel zu laut geredet und viel zu wenig nachgedacht. Und wie immer war es ihm trotzdem nicht gelungen seine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Die Gedanken, die er nicht denken wollte, die ihn fragten was er denn nun mit sich anfangen würde. Nicht nach dem Sinn des Lebens fragte er sich, aber nach dem Sinn seines eigenen erbärmlichen Daseins. Denn auch er war vor den väterlichen Erwartungen geflohen. Jetzt, mit seinen dreißig Jahren, wie auch schon früher. Eigentlich war er sein ganzes erwachsenes Leben geflohen. Als Kind war er noch eifrig bemüht dem Vater alles recht zu machen. In der Schule lernte er wie besessen, denn weniger als die Bestnote war Versagen. Es gab in der Weltanschauung seines Vaters keine ehrenvollen zweiten Plätze. Es gab Sieger und es gab Verlierer. Und ein Karst gehörte zu der ersten Kategorie. Und so lebte er eine Kindheit ohne Freizeit, ohne Spiel und ohne Freunde. Er lernte und er lebte quasi mit eingezogenem Kopf zwischen den Schultern. Als er das Abitur mit einem Numerus Clausus von 1,2 bestand, waren alle Wege geebnet. Aber natürlich gab es kritische Nachfragen wegen der Komma Zwo.

Auf väterlichen Vorschlag belegte er Journalismus und Politikwissenschaften. Die Nachfolge der Global Print Media Group schien geregelt. Es war 1968 als die Jugend Deutschlands gegen das Establishment revoltierte und an Universitätsstädten ersten linksradikalen Bewegungen entstanden, als auch er in Kreise geriet die elterliche Vorgaben nicht wie Schafe hinnehmen wollten. Als er begann zu hinterfragen. Als er bemerkte, dass er absolut kein Interesse an Journalismus und noch weniger an Politik hatte. Quasi als Kompromiss schrieb er sich in Wirtschaftswissenschaften ein und beendete das Studium zwischen Kommunenleben, Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und Marihuana eher schlecht als recht.

Albert Karst war alles andere als begeistert von der leicht linksgerichteten politischen Färbung seines Sohnes und beendete versuchte Diskussionen mit Argumenten wie „ich weiß, der Kapitalismus macht soziale Fehler. Aber der Sozialismus macht kapitale Fehler“.

Er schluckte die bittere Pille wohl mit dem Gedanken, dass auch ein Betriebswirt eine Firma leiten kann. Er offerierte seinem Sohn eine Assistentenstelle im Haus, um ihn langsam aber sicher an die Arbeit in seinem künftigen Imperium zu gewöhnen.

Es war die Hölle. Ungeheurer väterlicher Erwartungsdruck, teilweise Spott und Sarkasmus, und auf der anderen Seite, in den meisten Fällen, unsichere Speichelleckerei von den künftigen Untergebenen.

Er überzeugte seinen Vater, dass er so nichts lernen würde; dass er weit weg von Hamburg, und am besten unter anderem Namen in das Unternehmen eingeführt werden müsse. Der Vater beugte sich der Logik des Argumentes, und schickte ihn nach Madrid. In der dortigen Niederlassung sollte er als Assistent der Abteilung Rechnungswesen unter falschem Namen seine Sporen verdienen. Zuerst hatte er ein Jahr Zeit für ein intensives Sprachstudium, um danach in die Führung der Filiale hinein zu wachsen.

Für ihn war es eine große Erleichterung. Er hatte Distanz zum Patriarchen gewonnen, und er hatte ein weiteres Jahr Aufschub.

Dieses Jahr war nun fast zu Ende, und er war wenig begeistert nun in den Schoß des elterlichen Unternehmens zurück zu kehren. Aber was war die Alternative? Er bestellte einen ersten Gin.

Er dachte an seine kleine Schwester. Auch sie hatte einen Ausweg gefunden.

Wie er, hatte sie das Abitur mit Bravur bestanden und sich dann in ein Medizinstudium gestürzt. Sehr zum Leidwesen des Vaters, denn ein Arzt hatte nun wirklich nichts mit dem väterlichen Erbe zu tun.

Erschreckt von dem Vorbild ihrer Schwester schwor sie jeglicher festen Bindung ab, und ging nach Abschluss des Studiums zu einer spanischen Hilfsorganisation. Wahrscheinlich dachte sie auf diese Weise weit weg zum Einsatz zu kommen. So geschah es dann auch. Sie war nun mit dieser Organisation unterwegs. Er wusste nicht einmal wo sie war. Wohl irgendwo in Afrika.

So waren sie also alle drei auf irgendeine Weise Gefangene ihrer Existenz.

Bisher hatte er alle Telefonate, Briefe und Faxe seines Vaters ignoriert. Aber in den letzten zwei Tagen wurden sie häufiger und drängender. Er schob den halb geleerten Gin zur Seite. Er würde sich nicht schon wieder betrinken. Er warf ein paar Münzen auf den Tisch und stand auf. Er musste sich der Sache stellen und eine Entscheidung treffen.

Als er die Tür zu seinem Apartment aufschloss war er tief in seinen Grübeleien versunken. Er warf die Schlüssel auf die Anrichte und ging in die Küche um sich ein Bier zu holen.

Ihm war, als hörte er ein Geräusch das nicht zu seiner kleinen Wohnung passte. Als er von der Küche in das Wohnzimmer ging sah er ihn. Er saß auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch mit vorgebeugtem Oberkörper und auf den Knien aufgestützten Ellbogen. Ben kannte den Mann nicht. Seltsamerweise war er nicht sehr beunruhigt.

„Wie kommen sie hier herein?“, fragte er und ärgerte sich im nächsten Moment über die dumme Frage die immer wieder in schlechten Filmen gestellt wurde.

„Hausmeister.“ sagte der Mann lakonisch mit einem Akzent den er nicht zuordnen konnte. „Und was wollen sie?“.

„Ihr Vater schickt mich, sie ignorieren seine Anrufe und ich soll sie abholen“, kam die Antwort. Englisch. Der Akzent war Englisch oder Amerikanisch.

„Wer sind sie?“, fragte Ben.

„Ich bin der, der sie abholt“. Ärger stieg in Ben hoch.

„Nehmen wir mal an ich will nicht“, sagte er trotzig obwohl der Mann nicht den Eindruck machte als würde es eine Alternative geben. Er war etwa vierzig Jahre alt, hatte dunkles, volles Haar, das auf ca. einen Zentimeter Länge gestutzt war, seine Jeans schlossen sich um eine schlanke Taille, und unter seinem T-Shirt spannten sich Muskeln die man nicht ohne intensives Training bekam.

„Sie wollen, glauben sie es mir. Schon allein deswegen, weil sonst nächste Woche keine Überweisung mehr kommt“.

Wieder das Geld. Wie er es hasste damit erpresst zu werden. Wie er es hasste, davon abhängig zu sein. Wie er sich selbst hasste es zuzulassen und nicht einfach alles hinzuwerfen und anzufangen für sich selbst zu sorgen.

„Wann?“, stieß er gepresst hervor.

„Jetzt!“, kam die lakonische Antwort von Mr. Universe. „Wer sind sie?“, fragte Ben erneut. „

Nennen sie mich John“, antwortete Mr. Universe.

„Klar, John Doe. Was für ein Schwachsinn“, knurrte Ben. Sein Gegenüber schwieg. „Wann geht der Flug?“ Ben gab auf.

„Wenn wir da sind. Das Flugzeug ihres Vaters wartet am Flughafen“.

Ben stieß einen Pfiff aus. “Der alte Herr schickt die Learjet? Es scheint ihm ernst zu sein“.

„Are you ready“, fragte John. “Ich muss noch packen und mich um die Bezahlung des Apartments kümmern“, machte Ben einen lahmen Versuch.

„Müssen sie nicht. Für alles ist gesorgt“.

„Kommen sie“, drängte John, „ihr Vater hat wenig Geduld!“

Amen, dachte Ben, wer wüsste das besser als ich?

La Liberación

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