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30. August 1978 - Im Nebelwald von Nicaragua
ОглавлениеNach dem Überfall auf das Lager waren sie viele Kilometer mit einem Boot den Rio San Juan hinaufgefahren. Fast an der Mündung zum See mussten sie zu Fuß weitergehen. Man sagte ihnen nicht warum. Sie waren in nordwestlicher Richtung aufgebrochen. Die drei Frauen durften im Lager noch festes Schuhwerk und saubere Jeans anziehen, mussten aber einen weißen Kittel darüber tragen. Als hätten sie es abgesprochen hatten alle drei die Armbinde mit dem Roten Kreuz angelegt. Außer einer Feldflasche mit Wasser, einem kleinen Notpaket an Medikamenten und Verbandszeug und etwas Wäsche mussten sie alles zurücklassen. Geld, Schmuck und Uhren hatte ihnen der Sargente mit gierig glitzernden Augen abgenommen. Auch ihre Pässe hatte er an sich genommen.
Sie hatten versucht, auf die notdürftige Beerdigung der Opfer zu bestehen, aber das wurde kategorisch abgelehnt. Es waren einfach zu viele.
Die Männer wechselten sich in der ersten Position ab und schlugen mit ihren Macheten auf die Flora des Regenwaldes ein. Sie kamen sehr langsam voran und die niedere Flora zerkratzte ihre Arme wenn sie unvorsichtig waren. Es war brütend heiß und feucht. Die Luftfeuchtigkeit stand in grauen Nebeln still in der Luft.
Andrea Karst hatte von den Gefahren des Dschungels gelesen. Von den Vogelspinnen, den Pfeilgiftfröschen, den Schlangen und Jaguaren. Immer wieder sah sie sich nervös um, und in jedem Ast der auf dem Boden lag sah sie eine Schlange.
Nach einer Stunde waren sie bereits mit ihren Kräften am Ende. Nach der zweiten Stunde verfielen sie in eine Art Trance die dazu führte, dass sie fast willenlos mit gesenkten Köpfen weiter trotteten ohne auf ihre Umgebung auch nur zu achten.
Es war schon später Nachmittag als sie aufgebrochen waren und mittlerweile war die Dunkelheit hereingebrochen. Dies war mit der für die Tropen typischen Geschwindigkeit geschehen. Der erste Mann hatte eine starke Stablampe eingeschaltet und alle folgten dem Licht. Die Dunkelheit brachte keinerlei Abkühlung, und so trotteten sie weiter hinter dem Licht in dessen Schein tausende großer und kleiner Insekten einen wirren Tanz tanzten.
Endlich kamen sie zu einer kleinen Lichtung.
„Hier werden wir das Nachtlager machen“, befahl der Leutnant. „Du“, er zeigte auf einen Soldaten, „Du hast die erste Wache!“.
Erschöpft sanken die Frauen in das hohe Gras und waren in Sekundenschnelle eingeschlafen.
„Arriba!“, weckte sie das Bellen des Sargente aus einem unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf. Noch immer erschöpft kam sie auf die Beine und sah sich schwankend um. Die Männer saßen vor einem Feuer und tranken Kaffee und kauten missmutig auf trockenem Zwieback. Der Leutnant winkte sie heran
„Hier, nehmen Sie etwas von dem Kaffee und ein Zwieback“.
Der Kaffee war stark, bitter und heiß und weckte die Lebensgeister.
„Wohin bringen sie uns“, fragte sie den Leutnant in fehlerhaftem Spanisch.
„Managua“, antwortete er mit vollem Mund auf dem Zwieback kauend.
„Dann gehören sie also nicht zu den Guerillas“, fragte Anna.
Der Leutnant hielt mit dem Kauen inne und drehte langsam den Kopf zu Anna.
„Natürlich nicht“, kam es gefährlich leise aus seinem Mund. „Wie kommen sie denn darauf? Wir sind Regierungstruppen und Presidente Somoza treu ergeben“.
„Warum haben sie dann alle die Menschen ermordet und uns entführt?“, fragte Andrea.
„Sie verstehen das nicht“, sagte der Soldat. „Die Terceristas haben vor einem Jahr die Bevölkerung bewaffnet und für ihre Zwecke eingesetzt als sie von Honduras aus die Guardia Nacional angriffen. Jeder dieser Zivilisten könnte ein Guerilla gewesen sein. Beschweren sie sich bei den Terceristas, wir wurden angegriffen und verteidigen nur unser Vaterland.“
„Und die Kinder, und wir? Sehen sie in uns auch Guerillas?“, insistiere Anna.
„Wir haben sie nicht entführt, sie sind unsere Gäste. Wir konnten sie nicht zurück lassen und den Aufständischen zum Fraß vorwerfen. Und außerdem haben wir unsere Befehle.“
„Vergessen sie nicht, dass ich Deutsche bin“, sagte Andrea leise. „Ich kenne alle diese Ausreden von Befehlsnotstand und Vaterlandsverteidigung. Warum benutzen alle Diktatoren immer dieselben Argumente und warum erkennen intelligente Menschen wie sie, Teniente, nicht die Lügen?“
Der Leutnant sah ihr direkt in die Augen. In seine fast schwarzen Augen trat ein Funkeln. Die Wangenknochen mahlten. Es war offensichtlich, dass er sich mit Mühe unter Kontrolle hielt. Als er antwortete war er kaum zu verstehen, so leise antwortete er.
„Ya suficiente!“ kam es über seine Lippen. „Genug jetzt! Wenn sie wissen was gut für sie ist, dann schweigen sie jetzt. Ich werde mich nicht weiter von ihnen beleidigen lassen“.
Die Ärztin erschrak über die Emotion in der Stimme des Mannes. Sie war zu weit gegangen. Dieser Mann glaubte an seine Ideale. Er glaubte an seinen Führer und an seine Aufgabe. War er verbohrt oder hatte sie ihn etwa in seiner Überzeugung erschüttert. Sie befürchtete das Erstere war der Fall.
„Arriba, vamos!“, rief der Führer der Gruppe mit rauer Stimme. Die Männer löschten das Feuer und griffen nach ihren Waffen um sich zum Abmarsch zu formieren
Erneut schlugen sie sich in das dichte Dickicht des Dschungels an der anderen Seite der Lichtung. Alles war dicht verwachsen und sie mussten mit den Macheten den Weg frei hauen. Dicke, dichte Farne bildeten mit Baumstämmen und groß blättrigen Pflanzen ein dichtes Gewebe. Dieses war durchwachsen von Luftwurzeln und Lianen ähnlichen Pflanzenteilen. Ein Vorwärtskommen war fast unmöglich. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens und schon wieder, oder immer noch, unerträglich schwül. Bereits nach einer Viertelstunde waren sie völlig durchnässt von Schweiß und Luftfeuchtigkeit. So kämpften sie sich vorwärts und stolperten durch die untere Vegetation des lebensfeindlichen Dschungels. Längst war die Tierwelt erwacht. Die tagaktiven Jäger auf der Jagd und der Dschungel voll von unheimlichen und beunruhigenden Geräuschen.
Die Ärztin beschloss die Situation in der sie sich befanden so gut sie konnte aus den Gedanken zu verbannen und sich auf die Aufgabe des Durchhaltens und Überlebens zu konzentrieren. Sie war besorgt um Ute. Zwar hatte sie sich von dem Schock erholt und wieder etwas an Farbe gewonnen, aber sie hatte kein Wort geredet und trottete apathisch vor sich hin. Andrea fürchtete, dass sie bald die Kraft verlassen würde weil die Hoffnung sie verließ.
Plötzlich senkte sich das Gelände nach vorne ab. Die Vegetation lichtete sich innerhalb einiger Meter und sie sahen vor sich eine offene Fläche. Das Gelände sah aus wie ein Abbruch der vor langer Zeit durch eine Gerölllawine entstanden war. Rechts und links erhoben sich leicht wellige Hügel die vereinzelt mit Bäumen bewachsen waren. In der Senke wuchsen hüfthoch Gras und Farne und einige wilde Avocado Bäume. Es war merklich kühler geworden. Ein Fallwind wehte vom Dschungelrand über die freie Fläche und wiegte die Gräser. Sofort fühlten sich die Menschen besser.
Das Schönste aber war der Ausblick. Die Bergmulde lag in etwa 500 Meter Überhöhung über dem Nicaraguasee. Die Sonne stand im Zenit und goss den See in gleißendes Silber. Klar und deutlich lag Ometepe, die große Vulkaninsel vor ihnen. Weiter weg, im Dunst sahen sie zahlreiche weitere Inseln aus dem Wasser ragen. Einige kleine Fischerboote waren auf dem Wasser und ihre Segel waren bunte Tupfer in dem See aus Silber.
Am Ende der Senke, in etwa 700 Metern, fiel das Gelände steiler ab. Aber wie es schien gab es dort befestigte Pfade oder sogar Straßen. In der Mitte der Senke gab es einen Trampelpfad. Möglicherweise von Menschen angelegt welche die frei wachsenden Avocado Bäume abernteten. Sie hatten Hunger und es war Zeit für eine Rast.
So setzten sie sich am Rand des Nebelwaldes in die Wiese und begannen ihren Imbiss. Die Frauen freuten sich auf die Chance sich vielleicht am See zu waschen oder gar auf die Möglichkeit eines kühlen Bades. Man hatte ihnen gesagt, dass sich direkt unterhalb, wenn auch von ihrem Standort nicht einsehbar, ein Ort befand und dass man dort frisches Wasser aufnehmen konnte und mit etwas Glück ein Boot finden würde das sie über die natürliche Verbindung, den Rio Tipitapa, in den Managuasee bringen würde. Welch eine Erleichterung, dass man nicht mehr so sehr mit dem Wasser sparen musste. Alle tranken ausgiebig von ihren Feldflaschen und verspeisten den letzten Zwieback mit Speck.
Nach einer ausgiebigen Rast, noch bevor die Müdigkeit sie übermannen konnte brach die Gruppe wieder auf. Der Sargente ging als erster. Rechts und links sicherten drei Soldaten. Der Leutnant, die Frauen und zwei Soldaten gingen in der Mitte und zwei weitere Männer sicherten nach hinten.
Die Ärztin sah im Hintergrund den See und fragte sich was nun wohl aus ihnen werden würde, als auf der linken Seite des Kopfes des Sargente eine rote Wolke entstand. Der Sargente sank in sich zusammen und verschwand im hüfthohen Gras. Alles geschah in einer unwirklichen Stille. Selbst die Geräusche der Natur waren verstummt. Kein Tier störte die unheimliche Ruhe. Der Tod war gekommen. Es galt, sich still zu verhalten.
„Francotiradores!“, Scharfschützen! Gellte ein Schrei über die Senke.
In Sekundenschnelle waren die Männer im Gras verschwunden. Die Frauen standen noch immer auf dem Trampelpfad und drehten sich verständnislos im Kreis als suchten sie den Schützen. Sie hatten noch nicht realisiert was geschehen war.
Der Leutnant zog die Ärztin nach unten und schrie „gehen sie in Deckung, sind sie lebensmüde“.
Nun verstand sie und rief ihren Kolleginnen eine Warnung zu. Aber auch die beiden Krankenschwestern waren inzwischen zwischen Farn und Gras verschwunden.
Die Gruppe versuchte sich zusammen zu finden um halbwegs planvoll vorgehen zu können. Die Krankenschwestern waren inzwischen bei der Gruppe die in der Mitte gegangen war angekommen.
Der Leutnant sagte „wissen sie, dass sie mir das Leben gerettet haben?“
Verständnislos sah die Ärztin ihn an.
„Der Schütze ist rechts von uns. Sie gingen an meiner rechten Seite. Er hatte kein Schussfeld ohne sie zu treffen und wahrscheinlich hat er ihre Binden mit dem Roten Kreuz gesehen. Sonst hätte er mit Sicherheit auf den Führer der Gruppe geschossen.“
Sie verbiss sich eine spöttische Bemerkung darüber, dass der Leutnant dem Aufständischen offenbar so etwas wie humanitäre Skrupel zugestand.
„Und nun, was machen wir jetzt“, fragte sie.
„Nichts“, kam die Antwort. „Wir können nur warten. Wenn wir uns zu viel bewegen sieht er das an den Gräsern und feuert in den Bereich. Wir müssen stillhalten und hoffen, dass er einen Fehler macht, oder warten bis es dunkel wird“.
So nah am Ziel, dachte sie. Zwischen zwei Fronten. Alles was wir wollten war helfen.
Sie richteten sich auf eine Wartezeit ein. Die Grillen begannen wieder zu lärmen. Das Leben der Tierwelt normalisierte sich. Es wurde warm im Gras. Versteckt, nah am Boden spürte man keinen Lufthauch. Die Augustsonne stand im Zenit und sie hatten fast ihr ganzes Wasser verbraucht.